Oh Rome! my country! city of the soul! (Canto IV, Childe Harold's Pilgrimage)

Die 'disputà del sacramento' - achter und letzter Teil

Francesco Maria della Rovere – der Entdecker und Förderer Raffaelos


Von den vielen kleinen und großen Figuren, die Raffael vom Podest der Kirchengeschichte heruntergeholt hat, um sie auf die Bühne seiner Disputà zu stellen, ist nur noch eine einzige übriggeblieben; sie gehört zwar nicht zu den überragenden Gestalten des philosophischen und theologischen Welttheaters, aber ausgestattet mit dem sicheren Gespür für künstlerische Talente ist sie für den Großmeister der Malerei von unschätzbarem Wert: sie war es nämlich, die ihm den Weg in den Vatikan ebnete, wo er sofort zum Liebling in der damaligen Kunstszene aufstieg. Es ist Francesco Maria della Rovere, der Herzog von Urbino und bevorzugte Neffe von Julius II, der uns schon in der ‚Schule von Athen’ begegnet war und jetzt in voller Größe vor unseren Augen erscheint. Es ist die erste Figur auf der linken Bildhälfte, die Raffael ganz in die Nähe der Kritiker gerückt hat, eingehüllt in prachtvolle Gewänder, deren überbordende Stofffülle sich in einem voluminösen Faltenwurf zu verlieren scheint. Über ein eng anliegendes Unterkleid, von dem ein Stück an seinem rechten Unterarm ‚durchblitzt’, hat er eine goldfarbene Tunica gezogen, die das Beleuchtungslicht der Szenerie hell-glänzend reflektiert, und darüber ist lässig ein Überwurf geschlungen, dessen blauer Grundton in allen Abstufungen von hell bis dunkel variiert. Nur die linke Schulter bedeckend, bleibt sein rechter Arm frei, den er gestenreich einsetzt, um seinen Absichten Nachdruck zu verleihen.


Francesco Maria della Rovere ist hin- und her gerissen zwischen dem, wozu sein Verstand ihm rät, und dem, wozu sein Herz sich neigt; noch schwankt er zwischen wildem Aufbegehren und devoter Anpassung. Noch befindet er sich er sich in innigem Blickkontakt mit dem Feuergeist, dessen kraftvolle Worte ihn verstummen lassen und dessen strenge Logik bei ihm Wirkung hinterlässt, aber schon deuten die ausgestreckten Finger seiner rechten Hand auf den Altar, und auch seine Füße bewegen sich in diese Richtung: das Gefühl hat doch über die Vernunft gesiegt, und der Glaube hat doch alle Zweifel beseitigt. Raffael hat dem Herzog von Urbino ein feminin-unschuldiges Aussehen verliehen, die rötlich-blonden Haare fallen vom Mittelscheitel in unzähligen Locken und Kaskaden auf seine Schultern und umschmeicheln sein engelhaftes Gesicht.


Michelangelo und seine überlebensgroße Mosesfigur in S. Pietro in Vincoli, der Titularkirche Julius’ II

So liebenswürdig wie er sich hier gibt, ist er in seinem wirklichen Leben wohl nie gewesen: denn nach dem Tod seines Onkels, des Papstes Julius II - dieser Überfigur der Renaissance - bestand er darauf wie auch der Rest der Familie Rovere, dass Michelangelo die Arbeiten an dem Grabmal, das er für den verstorbenen Pontifex geplant hatte, fortsetzen müsse. Volle vierzig Jahre sollte ihn dieses Projekt beschäftigen, das wie ein Fluch über seinem Leben lag und schwer wie ein Mühlstein an ihm hing. Durchdrungen von der Idee, die imperiale Macht Roms zu erneuern und den Vatikan zur Residenz des gesamten Erdkreises zu erheben, träumte Julius von einem Grabmal von solch gigantischen Ausmaßen, wie es die Welt seit der Antike nicht mehr gesehen hatte, und das vom Genie eines Michelangelo zum größten Kunstwerk aller Zeiten gestaltet werden sollte, und – wen wundert es! - das sogar den Abriss der alten Peterskirche rechtfertigte, um in diesem Monument die majestätische Größe dieses Papstes für alle zukünftigen Generationen zu verewigen.
Von diesem nie vollendeten Gebirge aus Stein und Statuen ist nur ein Torso, ein Fragment übriggeblieben, bei dessen Anblick man sich beim besten Willen nicht mehr vorstellen kann, welche gewaltigen Dimensionen dieser Stufenbau mit seinen vierzig Skulpturen (Sitzfiguren, Gefangene, Friedensengel, Allegorien) – alles überragt von der Figur toten Papstes – besitzen sollte. Was aus dem angedachten Freigrab geworden ist, können uns wir heute in seiner verkümmerten Form im rechten Querschiff von S. Pietro in Vincoli anschauen, wo wir vor einem recht traurigen Wandgrab innehalten, bestehend aus zwei Etagen, die durch vier übereinander stehende Pfeiler optisch unterteilt sind und dadurch Raum schaffen für sechs Nischen: zwei Hauptnischen im Zentrum, die auf beiden Seiten von je einer Nebennische flankiert sind.
Blickfang und Publikumsmagnet ist die überlebensgroße Gestalt des Moses, ein Meisterwerk Michelangelos und der Bildhauerei überhaupt. Unter den gestaltenden Händen dieses genialen Künstlers hat sich der helle Marmor aus Carrara in eine Sitzstatue verwandelt, deren kompakt-athletische Körperlichkeit mich mehr an einen Herkules denken lässt als an die biblische Figur, die das Volk Israel aus dem ‚Sklavenhaus Ägypten’ herausgeführt hat. Sofort wird klar, von wem sich der Meister hat inspirieren lassen: es ist der Torso vom Belvedere, den er eifrigst studierte und dessen glatte Oberfläche ihn dazu verleitete, mit seinen Händen und Fingern darüber zu gleiten, um unter der gespannten Haut jeden Muskel, jede Wölbung und jede Ader zu ertasten. Wir sehen den gehörnten und nur mit einem ärmellosen, sommerlichen Überwurf gekleideten Moses auf einer Art Felsstumpf sitzen, der von einem Tuch verdeckt wird, das faltenreich die abgewinkelten Beine umhüllt, und auf der rechten Seite hochgeschlagen, den muskulösen Unterschenkel freigibt, den er mit dem Lederriemen seiner Sandale mehrfach umschlungen hat. Eingeklemmt vom angewinkelten rechten Arm und die untere Ecke schräg aufgestützt auf den äußeren rechten Rand des massiven Stumpfes drückt er die Gesetzestafeln mit den zehn Geboten fest an seinen Körper, während die Finger den vom Kinn bis zum Bauchnabel niederrauschen Bart zupfen - untrügliches Zeichen dafür, dass er sich noch in Zurückhaltung übt und seine innere Erregung, seine aufgestauten Aggressionen bezwingt. Den linken Arm hat er leicht abgeknickt auf seinem Schoß ruhen, wohl nicht lange, um in diesem Zustand zu verharren, sondern angetrieben von der Energie seiner kraftstrotzenden Muskeln loszuschnellen, um mit drohender Gebärde den Zorn Gottes auf sein Volk herabzurufen und die Gesetzestafeln vor ihren Augen zu zertrümmern. Und wundert es, wenn er wutentbrannt flammende Blicke hinausschleudert, die über seine linke Schulter hinweggehen und sich in der Tiefe des Kirchenraumes zu verlieren scheinen? Wir wissen natürlich, wem sie galten: dem eigenen Volk, das nicht mehr an seine Rückkehr vom Sinai glaubte und lieber das Goldene Kalb als ihren neuen Gott verehrte.


Ein letztes Wort

Es ist meine persönliche Überzeugung, dass es kein anderes Kunstwerk gibt als diese gewaltige Mosesstatue des Michelangelo, in der die Gestalt des Rovere-Papstes Julius II so unmittelbar fortlebt und nachwirkt. Dieser Mann war besessen von der Idee, über Italien und den gesamten orbis terrae ein Goldenes Zeitalter anbrechen zu lassen. Beherrscht von der Vorstellung, dass ihm zu wenig Zeit bliebe, und gehetzt von dämonischer Ungeduld, die sich bei ihm in hemmungslosem Zorn und cholerischen Anfällen entladen konnte, verlangte er von seinen Vorhaben, sie zügig in die Tat umzusetzen: so der Abriss der alten Peterskirche, der nach den Plänen Bramantes ein Gotteshaus folgen sollte, das an Größe und Schönheit alles bisher Bekannte übertreffen und in dessen Mitte das riesige Grabmal mit der erhobenen Figur des Papstes stehen sollte. Er träumte von einem geeinten Italien unter den gekreuzten Schlüsseln des Petrus, das befreit von den blutigen Schikanen fremder Mächte die Idee einer neuen Pax Romana bis in die entferntesten Winkel der Erde tragen sollte. Und er sah vor sich ein blühendes Rom, das losgelöst von den Banden mittelalterlicher Vergangenheit aufstrahlte im Glanz alter kaiserlicher Größe mit Palästen aus leuchtend-weißem Marmor und prächtigen, von Statuen gesäumten Alleen und mit dem Vatikan als Sitz eines universalen Papstes, der sich in seiner Funktion, Oberhirte der gesamten Kirche zu sein, als Garant für Frieden und Wohlstand begriff, und der - da auch den schönen Dingen des Lebens zugetan - als Mäzen Kunst und Kultur fördern wollte.

Es ist geschafft – consummatum est!
 
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VIELEN DANK

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für Deine Ausführungen


Ja, der Moses ist schon etwas GANZ BESONDERES ...
 
Der Borgobrand des Raffael und die Sintflut des Michelangelo

Ein kurzer Rückblick


Ich kann nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, wie lange wir uns in der Stanza della Segnatura, dem vom reichen Inventar (von Teppichen, Leuchtern, Tischen, Sesseln, Wandverkleidungen) befreiten Arbeitszimmer Julius’ II, aufgehalten haben, so daß uns im jetzigen Zustand ‚nur noch’ die herrlichen Fresken des Raffaelo entgegenstrahlen. Waren es zwanzig Minuten, war es eine halbe Stunde oder doch länger? Ich weiß es einfach nicht mehr; uns jedenfalls kam es so vor, als hätten wir uns an die Zeit verloren, als hätte sie in diesem Raum, der päpstlichen bibliotheca privata, aufgehört zu schlagen - so sehr hatte die Kunst des Raffael von uns Besitz ergriffen, dessen geniale Inspiration das Vollkommenste, Edelste und Großartigste der gesamten Renaissancemalerei hervorgebracht hat. Unsere Sinne waren verzaubert von der Schönheit der Farben und von der Harmonie seines concetto, die schon beim ersten Gedanken aufleuchtet und bestimmend bleibt bis zur endgültigen Fasssung. Und unser Geist war durchflutet von den tiefgründigen Ideen der Philosophie und den hochfliegenden Spekulationen der Theologie. Was muss ein Papst wie Julius empfunden haben, für den diese Welt tiefer Nachdenklichkeit, vertreten durch die größten Protagonisten der abendländischen Geistesgeschichte, eine vertraute Umgebung war? Wie hat er sich selbst gesehen? Wo wäre im Kreis dieser illustren Gesellschaft wohl sein Platz gewesen?
Es fiel uns schwer, diesen Raum zu verlassen, aber noch wartete auf uns ja der eigentliche Höhepunkt unserer Tour durch die Vatikanischen Museen: die Cappella Sistina. Uns dämmerte schon, dass wir an diesem Tag ein viel zu umfangreiches Programm absolviert hatten; um die Kunst auf sich wirken zu lassen und alle Eindrücke richtig zu verarbeiten, sollte man von einem solchen Besuchsmarathon Abstand nehmen und sich nur auf einen kleinen Ausschnitt beschränken – das aber gründlich und mit viel Zeit. Wenn ich so auf meinen Plan schaue, dann würde ich beim nächsten Mal vieles anders machen und mich nur auf folgende Säle konzentrieren: auf den Braccio Nuovo, die Galleria delle Statue e dei Busti, den Appartamento Borgia, die Sala delle Nozze Aldobrandine, die Bibliotheca mit den alten Handschriften und die Sala della Biga, um darin das Zweigespann und den Diskuswerfer zu sehen. Basta!


Der Borgobrand – L’incendio di Borgo


Um in die Sistina zu gelangen, mussten wir noch eine letzte Stanze durchqueren, die Stanza dell’Incendio di Borgo, benannt nach dem Borgobrand, dem das Altstadtviertel unterhalb von St. Peter zum Opfer fiel. Auch hier sind die Wände mit wunderschönen Fresken überzogen, deren Ausmalung Raffael aber schon seinen Schülern übertragen hatte, während er als Ideengeber nur noch die Oberaufsicht über die Arbeiten leitete. Der Unterschied zur Stanza della Segnatura fällt sofort auf: während es hier darum ging, die Klarheit der Ideen und die Freiheit des Denkens in all ihrem angestrengten Bemühen darzustellen – nicht abstrakt, sondern personifiziert durch die ‚Superstars’ der abendländichen Geisteswelt (die wirklich diesen Namen verdienen, anders als die ‚Supertrottel’, die von der Jury um einen gewissen Dieter Bohlen zu Ikonen am deutschen Unterhaltungshimmel hochgejubelt werden), sehen wir uns in der Stanza dell’Incendio di Borgo mit herausragenden und ihrem persönlichen Image dienenden Ereignissen aus dem Leben der beiden Päpste Leo III und Leo IV konfrontiert, in deren Gestalten der damals regierende Medici-Papst Leo X. geschlüpft ist, der vermutlich auch diesen Bildzyklus in Auftrag gegeben hat.
Im gegenseitigen Einvernehmen beschlossen wir, diesen Raum möglichst schnell hinter uns zu bringen und auf die Betrachtung jeder Kleinigkeit zu verzichten - nicht aus Ignoranz der künstlerischen Leistung, die sich hinter diesen Bildern verbirgt, sondern weil wir schlicht und ergreifend am Ende unserer Aufnahmefähigkeit angelangt waren. Nur vor dem Borgobrand blieben wir kurz stehen; hier interessierte uns eine bestimmte Szene, deren Motiv sich auch in einem der Deckenbilder der Sistina wiederfindet, nur fällt sie bei Michelangelo viel dramatischer, viel bewegter aus.



Aber der Reihe nach! Ich habe vor mir aufgeschlagen liegen den Farbdruck mit dem verheerenden Brand, der im Jahr 847 über den Borgo hereinbrach. Nichts ist dem Zufall überlassen, alles unterliegt einer festen Zuordnung: so im Vordergrund die Darstellung einer Gruppe von jungen Frauen mit ihren kleinen Kindern – fast alle nackt - , die mit theatralischen Gesten (typisch Raffael!) ihre Verzweiflung herausschreien und ihre Ohnmacht nicht verheimlichen können.



Im Hintergrund erscheint in vollem päpstlichen Ornat Leo IV auf der Loggia des Apostolischen Palastes, um mit segnender Gebärde dem Flammeninferno Einhalt zu gebieten, während unter ihm auf den Stufen einer monumentalen Treppenanlage Menschen niedergefallen sind, die offenbar schon alles verloren haben und den Verlust ihrer gesamten Habe beklagen: schreiend, betend und die Arme flehend zum Pontifex erhoben. Und hinter dem Palast – ganz unauffällig und unscheinbar – erhebt sich die mit großflächigen Mosaiken dekorierte Fassade der alten Peterskirche.



Rechts werden wir Zeugen einer dramatischen Löschaktion, wo eine aus Frauen und Männern gebildete Kette in rastlosem Einsatz - persönliches Risiko und körperliche Strapazen nicht scheuend - zu verhindern sucht, daß ein schnell um sich greifendes Feuer sein zerstörerisches Werk ungezügelt fortzusetzen kann; es ist in einer Vorhalle ausgebrochen, die in ihrer Bauweise den Geist griechischer Tempelarchitektur widerspiegelt und deren jonische Säulen aus glattpoliertem Marmor - von porphyrrot leicht ins Türkisfarbene wechselnd - durch die enorme Hitze schon gefährliche Risse bekommen haben und jeden Augenblick zu zerbersten drohen. In allen großen Gefäßen, derer man habhaft werden konnte – in Amphoren, Krügen und riesigen Kupferbehältern – wird das Wasser im Eilschritt und unter lauten Zurufen herbeigeschleppt. Dabei erregt am äußeren Bildrand eine junge Wasserträgerin unsere Aufmerksamkeit, die scheinbar wie aus dem Nichts ins Blickfeld drängt: eine stattliche, hochgewachsene Person mit wohlproportionierten weiblichen Rundungen (eine Vorzeigefrau der Renaissance vom Schlage einer Sabine Lisicki!), die nicht verbergen können, dass die Gaben der Natur sie mit einer athletischen Figur bedacht haben - betrachtet man die Optik ihrer leicht gewölbten, schön 'definierten' Muskeln, die die Konturen ihres perfekt geformten Körpers deutlich hervortreten und wie modelliert erscheinen lassen; sie sieht hinreißend aus, und als stolze Trägerin einer voluminösen Pracht flachsblonder Haare hat sie keine Hemmungen, sich mit ihrem ganzen wallenden Schmuck zu zeigen, den sie zu einem kunstvoll arrangierten Zopf 'gebändigt' hat, indem sie drei Partien - geflochten nach Art einer Ähre - zu einem Strang vereinigt hat.
Vom Schwung ihrer fliegenden Bewegung mitgerissen, ist diese Kordel ineinander verschlungener Passés, Statussymbol ihrer unbezwungenen jugendlichen Wildheit und physischen Robustheit, herumgeschlagen und und mit ihr - vom abgedunkelten Hintergrund kaum zu unterscheiden - eine Handvoll Strähnen, die sich aus dem Haupthaar gelöst haben und entgegen alle Logik steif wie ein Brett in der Waagerechten liegen, als hätte sie der Luftstrom eines starken Gebläses erfasst oder als seien sie durch ein Stärkebad gegangen; für den winzigen Bruchteil eines Augenblicks verharrt die gekordelte Schnur in der Position, die der Betrachter aus seiner Perspektive im Bild wahrnimmt: fixiert auf der Oberseite ihres Kopfes, zeichnet sich eine Linie ab, die vom Nackenansatz bis zur Stirn reicht. Nur ihr Ende - durch einen Knoten gesichert, aber nicht so, daß der als unvermeidbares Anhängsel bleibende und in das 'Gesamtkunstwerk' nicht zu integrierende Zipfel sich zu einer Locke einrollt, sondern um der so aufwendig gestalteten Frisur die Freiheit zu geben, an dieser Stelle die Form einer buschigen Quaste anzunehmen - kann dem stürmischen Vorwärtsdrängen dieses wundervollen, von einer Aura atemberaubender Schönheit umschlossenen 'Geschöpfes' nicht folgen ("Dieses Bildnis ist bezaubernd schön, Wie noch kein Auge je gesehn! Ich fühl' es, wie dies Götterbild Mein Herz mit neuer Regung füllt." - Arie des Tamino aus der 'Zauberflöte'). Zu leicht, verweigert sich die Quaste dem Gesetz der Fliehkraft: sie schlägt im Bogen nach hinten zurück - so, als ob eine Welle 'hohl' bricht, wenn diese ihren Scheitelpunkt erreicht vornüberkippt, um unmittelbar danach in den Zustand einer tunnelartigen Röhre überzugehen; da ihre vordere Front über den Fuß der Welle hinausragt, vollzieht jetzt die Schwerkraft ein grandioses Schauspiel in der Weise, dass die Vorderseite sich mit ihrem ungeheuren Potential an Masse, Kraft und Energie niedersenkt als lichtdurchlässiger und als sich immer weiter auffaltender Vorhang vergleichbar mit dem fortlaufenden Überstülpen des legendären grünen Verdecks in der nostalgischen Berg-und Talbahn der Raupe (unter dessen Schutz die Verlockung des heimlichen Kusses meine Phantasie so beflügelte, dass die gepolsterte Sitzbank der Fahrgondel zum Schauplatz des ersten, aber keineswegs zum Dahinschmelzen reichenden Annäherungsversuchs wurde!), um zu guter Letzt die gesamte Fracht schäumend und rauschend zum Ufer hin zu entlassen.

Hastig stürzt sie zwei Treppenstufen hinunter, ohne dabei auf die auffliegenden Bäusche ihrer Kleidung zu achten, und bringt das Kunststück fertig, in der Linken einen gefüllten Krug zu tragen und auf dem Kopf eine schwere Amphore zu balancieren - überzogen mit einer zartgrün schimmernden, aber doch matt wirkenden Glasur und an den Seiten dekorativ von zwei schön geschwungenen, ohrenförmigen Griffen eingefasst, wovon sie den rechten mit der anderen noch freien Hand ihres emporgestreckten Armes umklammert.



Auch auf der linken Seite geht es nicht weniger dramatisch zu. In panischer Angst und auf die Zeit nicht achtend fliehen die Menschen vor der alles vernichtenden Feuerwalze – einige von ihnen ohne einen Fetzen Stoff auf der Haut, andere mit ein paar flüchtig zusammengerafften Habseligkeiten auf dem Arm. Jetzt zählt nur eins: das zu retten, was ihnen als Letztes geblieben ist und woran sie sich instinktiv und mit übermenschlicher Kraft klammern – ihr Leben. Und da, wo sie sich schon wieder auf sicherem Terrain befinden, helfen sie uneigennützig anderen Betroffenen, um auch sie aus den brennenden Häusern zu befreien.



So können wir eine junge, bildhübsche Mutter beobachten, von dichten Rauchwolken fast eingeschlossen und völlig entblößt, wie sie ihr Baby - in mehrere Lagen Tücher gewickelt und stramm zu einem 'Paket' geschnürt - von der Brüstung einer übermannshohen Stützmauer fallen lässt in die aufnahmebereiten Arme eines beherzt herangestürmten Burschen aus dem Borgo-Viertel. Oder nehmen wir in der gleichen Szene vermutlich den vom Feuer völlig überraschten Familienvater an der linken Außenkante dieser steinernen Umfassung – ebenfalls blutjung, mit vollem, stufig fallendem Haar und unbekleidet bis auf die Winzigkeit von einem Schurz, der seine Männlichkeit vor den lüsternen Blicken der einst in diesem Raum speisenden! Kleriker bewahren sollte – , der in seiner Not über die Mauerkrone gestiegen und gerade dabei ist, sich an der rauhen Wand herabzulassen, darauf bedacht, seinen Körper soweit es geht zu strecken, um den harten Aufschlag auf den Boden abzufangen.


Aeneas, Anchises und Ascanius (Iulus)

Und nun zur letzten Szene, die Anlass genug war, den direkten ‚Durchmarsch’ zur Sixtinischen Kapelle zu unterbrechen und für ein paar Augenblicke davor zu verweilen. Zu unserer Überraschung wird hier bei diesem Geschehen als Ausdruck künstlerischer Freiheit die Ebene des historischen Bezugs aufgegeben, um es mit dem Untergang des brennenden Troja in Verbindung zu bringen:


der nackte und kraftvoll zupackende Aeneas schleppt seinen alten, von Krankheit gezeichneten Vater, den völlig ausgemergelten Anchises aus den Trümmern der lodernden Stadt. Der Anblick des greisen Anchises erregte unser Mitleid: zu schwach um sich aufzurichten, ist sein Oberkörper vornübergesunken, und der rechte Arm hängt schlaff nach unten, dessen Handgelenk Aeneas - fest zugreifend - mit seiner Linken umklammert. In Begleitung der beiden entdeckten wir auch den ‚Knaben Ascanius’ (puer Ascanius), der sie stetig im Blick nicht von ihrer Seite weicht. Es ist jener Ascanius, der bei Vergil auch Iulus genannt wird (nach seiner Heimat Ilion): ‚ … cui nunc cognomen Iulo additur’, und der als Gründer der sagenumwobenen Stadt Alba Longa (also der Vorläuferstadt Roms) am Fuße der Albaner Berge gilt: ‚ … et Longam multa vi muniet Albam’ " … mit viel Einsatz und getragen von großer Kraft- und Willensanstrengung wird er die Stadt Alba Longa errichten’. Und schließlich ist er es, von dem die gens Iulia, das altehrwürdige römische Patrizierhaus der Julier und somit auch der berühmteste Sprössling Gaius Iulius Caesar, ihre Herkunft ableitet: ‚ … nascetur pulchra Troianus origine Caesar, imperium Oceano, famam qui terminet astris …" ‚ … aus diesem edlen Geschlecht geht Caesar hervor, auch ein Sohn Trojas, dessen Herrschaft bis zum Ozean (Atlantik) reicht und dessen Ruhm erst die Sterne Grenzen setzen …’


Die Sintflut (Il dilivio universale) des Michelangelo

Aufgrund meiner Vorbereitung speziell zum Borgobrand wußte ich natürlich, daß genau dieses Ereignis, wie ich es gerade beschrieben habe, also daß der Stärkere den Schwächeren auf die Schultern nimmt und ihn vom Unglücksort in Sicherheit bringt, auch bei Michelangelo im Deckenfresko der Sintflut wiederkehrt. Nur läuft hier alles viel dramatischer, viel bewegter, viel spektukulärer ab, was aber nicht verwundern kann, denn dieser Ausnahmekünstler versuchte ja in jedem seiner Werke das Maximum an Aussagekraft herauszuholen.



Wir werden Zeuge, wie ein junges Paar, dargestellt in natürlicher Nacktheit und in der Blüte ihres Lebens, versucht – gemeinsam mit vielen anderen Flüchtenden - , der unaufhaltsam steigenden Flut, die alles Leben unter sich begräbt, zu entkommen und das rettende Ufer zu erreichen. Weil die physischen Kräfte sie verlassen haben, hat ihr Mann sie auf den Rücken genommen; jetzt hat er ihre Beine fest im Griff, während sie beide Arme überkreuz um seinen Hals geschlungen hat. Ihre Haare sind völlig aufgelöst, sie werden vom Sturm gepeitscht, der sie zu langen Strähnen auseinandertreibt.



Noch einmal schaut sie sich um, Entsetzen und Angst sind ihr ins Gesicht geschrieben und mit weit aufgerissenen Augen muss sie mit ansehen, wie die Menschen in der reißenden Strömung verzweifelt um ihr Leben kämpfen, sei es, dass sie schwimmend versuchen einen Kahn zu erreichen, der ziemlich überladen und von Wellen heftig geschüttelt zu kentern droht, sei es, dass sie auf einem kargen Felsplateau, das einer Insel gleich aus dem Wasser ragt, Zuflucht suchen; dort haben die bereits Gestrandeten – allesamt apathisch, ausgelaugt oder noch unter Schock stehend – ein weit gespanntes Tuch an den vier Enden um abgesplitterte Baumstümpfe und knorrige Äste geknüpft, um so der schrecklichen, aber von Gott gewollten Naturkatastrophe zu trotzen und unter diesem Provisorium notdürftig Schutz zu finden gegen die unaufhörlich niederprasselnden Regenmassen.
Aber die Ärmsten ahnen noch nicht, dass ihr Schicksal schon längst besiegelt ist und das der anderen auch, die sich gerettet glauben, nur weil sie meinen, festen Boden unter den Füßen zu haben. Sie alle bleiben chancenlos, sie alle sind dem Untergang geweiht, denn folgt man den Worten der Heiligen Schrift, dann war die Sintflut ein Strafgericht Gottes, das er über alle Lebewesen der Erde verhängt hatte: "Der Herr sagte: Ich will den Menschen, den ich erschaffen habe, vom Erdboden vertilgen, mit ihm auch das Vieh, die Kriechtiere und die Vögel des Himmels, denn es reut mich, sie gemacht zu haben. Nur Noach fand Gnade in den Augen des Herrn." (Genesis 6, 7 f). Und weiter lesen wir: "Ich will nämlich die Flut über die Erde bringen, um alle Wesen aus Fleisch unter dem Himmel, alles, was Lebensgeist in sich hat, zu verderben. Alles auf Erden soll verenden. Mit dir aber schließe ich meinen Bund. Geh in die Arche, du, deine Söhne, deine Frau und die Frauen deiner Söhne. Von allem, was lebt, von allen Wesen aus Fleisch, führe je zwei in die Arche, damit sie mit dir am Leben bleiben." (Genesis 6, 17 - 19)
 
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Lieber Seneca,

ganz herzlichen Dank für Deine wunderbar tiefgreifenden Ausführungen.​

Uns dämmerte schon, daß wir an diesem Tag ein viel zu umfangreiches Programm absolviert hatten; um die Kunst in sich aufzunehmen und alle Eindrücke richtig zu verarbeiten, sollte man von einem solchen Besuchsmarathon Abstand nehmen und sich nur auf einen kleinen Ausschnitt beschränken – das aber gründlich und mit viel Zeit.

Das ist in der Tat eine große Gefahr in den VM!

Bei meinem letzen Besuch war ich nur in der Pinakothek und der Sixtina.
Liebe Grüße
dentaria​

 
Das Glanzstück der Vatikanischen Museen – die Cappella Sistina

Auf dem Weg in die Sistina


Kaum hatten wir die stanza dell’incendio di borgo verlassen, wurden wir auch schon von einer monoton-leirigen Lautsprecherdurchsage empfangen, die in mehreren Sprachen erfolgte und sich zu allem Überfluss in einer Endlosschleife wiederholte, wohl um den Besucher auf seinem Weg in das Allerheiligste der VM auf eine innere Haltung vorzubereiten, die dem Respekt vor diesem besonderen Ort gebührt. Sinngemäß habe ich den gesprochenen Text noch so im Ohr: „Ruhe bitte! Silenzio, per favore! In wenigen Augenblicken erreichen Sie den sakralen Raum der Sixtinischen Kapelle.“
Schon kurze Zeit später ging uns der einlullende Singsang dieser salbungsvollen Belehrung gewaltig auf die Nerven (ich fragte mich ernsthaft, ob diese Ermahnung wirklich ihren Zweck erfülle und beim Publikum die erhoffte Einstellung bewirke), und mein Unmut steigerte sich allmählich zur heimlichen Wut, als wir den schräg nach unten führenden Treppengang hinabstiegen, dessen großzügige Form in der so verschachtelt gebauten Anlage der vatikanischen Gebäude überraschte, und der uns ein wenig an die Verbingungskorridore in den U-Bahnen erinnerte. Nicht besonders gut in Erinnerung geblieben sind die flachen Stufen, die ich bei jedem Schritt mit dem Blick nach unten kontrollieren musste. Jetzt trennten uns nur noch wenige Schritte (zum wievielten Male wohl?) – pochi passi – vom Gewaltigsten und Aufregendsten, was die Renaissance-Malerei hervorgebracht hat, und schon im Vorgriff dessen, was uns erwartete, hatte sich in uns die Erkenntnis verdichtet, dass im Feuerflug menschlicher Imagination die kühnsten Schöpfungen, die kreativsten Ideen geboren und nur durch das Maß des Übermenschlichen begrenzt werden.


Und dann war es soweit:

wir hatten wir den Eingang der wohl berühmtesten Kapelle der Welt erreicht, schon war der Durchlass geschafft, und endlich, endlich, nachdem wir die zahllosen Säle der VM durchschritten, die endlos langen Galerien zum Apostolischen Palast überwunden und die Raffaelsstanzen gründlich studiert hatten, konnten wir eintreten in den „dämmerhohen Raum“ (C. F. Meyer) der Sixtinischen Kapelle – aber dann stockte mir der Atem, verschlug es mir die Sprache: ich blieb wie angewurzelt stehen, und im selben Augenblick spürte ich, wie meine Stimmung auf den Nullpunkt sank, wie sämtliche Aktivität in mir erlosch und wie meine Vorfreude mit einem Schlag zunichte wurde. Ich konnte und wollte nicht glauben, was vor meinen Augen ablief – eine unüberschaubare Menschenmenge, so dicht gedrängt, daß von dem ornamentreichen Fußboden großer und kleiner Farbkreise, die wie ein riesiges Rankenwerk miteinander verschlungen sind, nichts, aber auch gar nichts zu sehen war. Augenblicklich begriff ich, dass heute die Kunst das Nachsehen haben werde, dass ich in meiner Aufmerksamkeit zu sehr abgelenkt würde durch die Bewegung und Unruhe der Leute, durch die Art ihres Auftretens und ihrer Selbstdarstellung, durch ihre je individuelle Begegnung mit dem Werk der besten Maler der damaligen Zeit und vor allem mit dem Werk Michelangelos - mal ganz still und nach innen gekehrt, mal staunend und mit wachem Blick die unglaubliche Ideenvielfalt dieses immer so verschlossen wirkenden Ausnahmetalents in sich aufnehmend, mal sein Glaubensverständnis im Lichte des eigenen kritischen Urteils überdenkend. Trotz der drangvollen Enge und des chaotischen Durcheinanders ließen sich die meisten Besucher nicht davon abhalten, in diesem für eine Kapelle weiten Raum umherzuschlendern, um einen noch unmittelbareren Eindruck von den Fresken und deren Motiven zu gewinnen. Und wenn sie dann noch ein besonders interessantes Detail ausfindig gemacht hatten, bewahrten sie es in den seltensten Fällen für sich als ihr ganz persönliches Geheimnis, sondern teilten ihre Entdeckung spontan dem Nächststehenden mit. So entwickelte sich zwischen der Aufsicht und dem Publikum eine bizarre Wechselbeziehung: wenn der Lärmpegel eine bestimmt Grenze überschritten hatte, fuhr einer der Kustoden mit einem langgezogenen pssst! dazwischen, um vorübergehend für ein Abebben der Geräuschkulisse zu sorgen. Aber es dauerte nicht lange, bis das Schauspiel wieder von vorne begann.


Die Sistina – noch immer ein sakraler Raum?

Dies sollte also der sakrale Raum der Sistina sein, den die Lautsprecherdurchsage gemeint hatte? Lächerlich! Ich kenne keinen anderen kirchlichen Raum, der so entweiht ist wie die Cappella Sistina! Dieser Besucherauflauf erinnerte mich stark an Szenen aus den großen Pariser Stadtbahnhöfen, wenn zu bestimmten Stoßzeiten ein riesiges Heer von Menschenmassen die Hallen so belagert, dass ein Durchkommen nur unter erschwerten Bedingungen möglich ist. Oder an einen arabischen Basar! Nur mit dem Unterschied, dass die Händler fehlten, die mit leidenschaftlichem Elan, blumigen Versprechungen, emphatischen Posen und zupackender Entschlossenheit ihre Waren anpreisen, um sie gewinnbringend zu vermarkten. Hier im „dämmerhohen Raum“ der Sixtina waren die Touristen aus allen Teilen der Welt die eigentlichen Protagonisten dieses Geschehens, die durch ihr Verhalten zu erkennen gaben, was ihnen die würdevolle Einhaltung des Respekts wert war (nämlich nichts!), und die die eingeforderte Ruhe allem dringlichen Appell zum Trotz ignorierten, zumal wenn sie sich um einen (vermeintlichen) Kunstexperten scharten, der lautstark, wohl auch kenntnisreich, mit erhobener Hand und ausgestrecktem Zeigefinger in die geistige Welt des Mannes führte, dessen Genie diese großartigen, einen tiefen Glauben bezeugenden Bilder vom Anfang der Schöpfung und vom Ende der Welt für alle nachfolgenden Generationen hinterlassen hat.


Doch noch ein ‚beschauliches’ Plätzchen

Nachdem wir uns vom ersten Schock erholt und uns in die Unabänderlichkeit der Situation gefügt hatten, fing ich an, den Innenraum der Sistina mit den Augen abzusuchen, um in diesem ‚Tohuwabohu’ eine Stelle zu finden, an der es nicht ganz so chaotisch zuging. Und siehe da, schräg gegenüber (wir hatten die Sistina vom Westen her, also durch einen Eingang an der Altarwand betreten) und in unmittelbarer Nähe der Marmorschranke mit ihren schön herausgearbeiteten Reliefs auf rechteckigen Feldern hatte sich der Ansturm gelegt, und es gab Raum und Luft für ein bisschen Beschaulichkeit. „Wir müssen ganz schnell aus diesem Drubbel heraus“, sagte ich zu meiner Frau. „Ich glaube, da drüben ist es nicht ganz so hektisch wie hier“. Und mit dem legendären Spruch „I declare the bazar open“, den der Butler James im ‚Dinner for one’ nur noch lallend von sich geben konnte, bahnten wir uns im Zickzack den Weg durch diese Phalanx ununterbrochen nachrückender Leiber zu unserem anvisierten Ziel – mal mit sanftem Druck nachhelfend, mal ausweichend, mal wie in einem Boxring den Oberkörper hin- und herpendelnd, dann wieder wegduckend oder sich ganz schmal machend und die Luft anhalten. Je mehr wir uns der der Chorschranke näherten, desto so besser kamen wir voran. Gottseidank brauchten wir die Zeit, die wir in der Sistina verbringen wollten, nicht im Stehen zu verbringen, denn als wir die 'angepeilte' Stelle erreicht hatten, wurden gerade zwei Plätze frei auf einer der Steinbänke, die sich auf beiden Seiten der Längswände hinziehen. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, nahmen wir sie in Besitz – und was war das für eine Wohltat! Zum zweiten Mal - nach dem langen Ausharren in der Warteschlange vor den VM und den endlos langen Wegen in den VM – hatten wir an diesem Tag Gelegenheit, uns von den körperlichen Anstrengungen zu erholen und im Sitzen ein wenig auszuruhen. Und dabei waren wir – ohne es absichtlich zu wollen – auf der für uns strategisch günstigeren Seite gelandet, nämlich auf der südlichen, die mit dem Bilderzyklus aus dem Leben des Moses geschmückt ist und nach der Geschichtsdeutung der Kirche das Zeitalter des Gesetzes darstellt (gemeint ist das Gesetz [Lex] des Alten Bundes [Vetus Testamentum]), während auf der gegenüberliegenden Seite, also auf der nördlichen Wand, die Zeit der Gnade (Gratia) mit wichtigen Stationen aus dem Leben Jesu gezeigt wird.


Ein paar ‚Außenansichten’

Obwohl es mir nicht gelang, die Geräuschkulisse und das Hin und Her, Kreuz und Quer der vielen Besucher vollständig auszublenden, und obwohl ich meine Enttäuschung nicht verbergen konnte (meine Frau hatte das wohl registriert und schenkte mir zu Weihnachten sozusagen als kleine Entschädigung für diesen verunglückten Nachmittag den wunderbaren Bildband ‚Michelangelo und Raffael im Vatikan’, der mir jetzt bei der Niederschrift meines Berichtes von großem Nutzen ist), fing ich an, das schon längst verschüttet geglaubte Hintergrundwissen abzurufen – um die Geschichte der Sistina, um Form und Größe dieser einfachen Halle, um die von Sixtus IV in Auftrag gegebenen Wandmalereien und schließlich um die von Michelangelo geschaffenen Arbeiten, vor dessen Genie die Werke der anderen großen Meister verblassen oder wie es bei Raffalt heißt, „das Schicksal der Nichtbeachtung erfahren“: ein Urteil, das ich zwar teile, aber das keinesfalls dem künstlerischen Können dieser Maler aus Umbrien und der Toskana gerecht wird.
Wer heute von der Aussichtsterrasse der Peterskuppel hinunterschaut auf den Vatikan, muss sich schon anstrengen, um im Labyrinth gleichfarbiger Gebäude die Sixtinische Kapelle herauszufinden. Er wird eine Zeitlang brauchen, bis er das hallenähnliche Bauwerk wahrnimmt mit seinem gegiebelten Dach, mit seinem vorspringenden und von gleich großen Öffnungen unterbrochenen Wehrgang in luftiger Höhe und den gewölbten Fenstern, die so hoch über dem Boden liegen, dass man sie von außen nicht überwinden kann. Die kastenförmige Anlage der Sixtina ist von außen betrachtet ganz unspektakulär und lässt nicht erahnen, dass ihre meterdicken Mauern die größten Schätze der Renaissancemalerei beherbergen. Irgendwie verbinde ich ihre äußere Form mit den Geschlechtertürmen wie man sie aus Bologna oder San Gimignano kennt, nur fällt sie bei der Sistina gedrungener, gestutzter aus. Aber offensichtlich scheint die hinter völliger Konturlosigkeit sich versteckende Schlichtheit Markenzeichen vieler bekannter Gebäude in Italien zu sein – man denke an die Mailänder Scala, das Teatro Sociale (‚Piccola Fenice’) in Badia Polesine oder das Teatro Olimpico in Vicenza.



Und ein paar ‚Innenansichten’

Die Unauffälligkeit des Äußeren spiegelt sich auch in der Formgebung des Innenraumes wider, dessen Boden ein längliches Viereck beschreibt, das in seinen Maßen dem Grundriss des Tempels von Jerusalem entspricht (40,2 m x 13,4 m). Ausgehend von dieser Größe war die Sixtinische Kapelle nie als Privatkapelle der Päpste gedacht, sondern sie bot immer den stilvollen Rahmen für besonders feierliche Gottesdienste. Die hohen Wände mit den großen Flächen, die eine Ausschmückung geradezu herausfordern, die allerdings auch den freien Blick versperren und das Gefühl, hinter dicken Mauern eingeschlossen zu sein, nicht verdrängen können, sind das Erste, was dem Besucher auffällt. Dann der vielfältig gemusterte Fußboden mit den großen und kleinen Kreisen, die sich immer wieder ineinander- und auseinanderwinden, und die Chorschranke, die den Priesterraum, den größten Teil der Kapelle, wo sich der Papst mit seinem ‚Hofstaat’, den Bischöfen und Kardinälen, versammelt, vom Raum der Gläubigen abtrennt. Feine Reliefs, von denen zwei das von Genien gehaltene Wappen des Rovere-Papstes Sixtus IV zeigen, den kräftigen Eichenstamm mit der ausladendenen Krone, bestimmen den unteren Teil der Balustrade, darüber zwischen quadratischen Feldern Gitterabtrennungen aus Metall und als krönender Abschluss wunderbar gefertigte Kandelaber aus weißem Marmor. Ins Blickfeld des Betrachters gerät jetzt – unter dem Wandbild der Bergpredigt – der Balkon für die Sänger des Papstes, ebenfalls reich verziert, und weiter vorne, unter dem wohl nachdenklichsten und tiefsten Bild Michelangelos, dem Jüngsten Gericht, der auf Stufen erhöhte Altar mit einem Kruzifix darauf, flankiert von je drei Bronzeleuchtern in schwerer, dunkler Ausführung. Überspannt ist der ‚dämmerhohe Raum’ von einem Tonnengewölbe, unterbrochen von sechs sogenannten Stichkappen auf jeder Seite, deren architektonische Notwendigkeit sich aus den Bögen der hochgelegenen Fenster ergibt. Anfangs erstrahlte die Decke in tiefem Blau, und goldene Sterne zogen darauf ihre konzentrischen Bahnen.



Sixtus IV – Bauherr der Sixtinischen Kapelle und Auftraggeber der Wandbilder

Vom herrschsüchtigen und nachtragenden Rovere-Papst Sixtus IV (unbedingt das ‚monumento di Sisto IV’, seinen Katafalk in Form eines Tumulus aus braun-grünlich schimmernder Bronze im Domschatz von St. Peter anschauen!), der durch die rigoros betriebene Verweltlichung des Papsttums die Kirche fast in den Untergang gestürzt hätte, der aber durch die Förderung von Kunst und Wissenschaft zur unsterblichen Größe wurde, kam der Anstoß zum Bau der Sistina, die bis heute seinen Namen trägt. Ohne auch nur die geringste Ahnung von ihrer endgültigen Beschaffenheit zu haben, war sie in erster Linie als Hofkirche im Apostolischen Palast gedacht, die sich in ihrem Innern am Vorbild der antiken Basiliken orientieren, und die sich von außen hinter einem Wall hoher, massiver Mauern verbergen sollte, um im Falle einer Bedrohung den Päpsten Sicherheit und Schutz bieten zu können. Zustande gekommen ist ein mächtiger Quader, der bis heute unverändert erhalten geblieben ist, und dessen Wirkung als wehrhaftes Bollwerk am besten zur Geltung kommt, wenn man ihn von den Vatikanischen Gärten aus betrachtet. Die Pläne dazu stammen von B. Pontelli, einem Architekten aus Florenz, und die Bauarbeiten lagen in den Händen eines gewissen G. de`Dolci, ebenfalls Florentiner. Beiden werden wir später noch einmal begegnen.


Wie bereits gesagt, verlangten die hohen Wände nach einer großzügigen Ausmalung. Es war wiederum Sixtus IV, der nicht nur den Auftrag erteilte, sondern auch das Programm der szenischen Darstellungen festlegte. Noch ganz gefangen im Denken eines Aurelius Augustinus deutete er die Menschheitsgeschichte bzw. die Weltzeit (sæcula sæculorum) als Abfolge zweier Epochen: auf der einen Seite war es die Zeit des Alten Testamentes, die Zeit des Gesetzes und der Verheißung, auf der anderen Seite die Zeit des Neuen Testamentes, die Zeit der Befreiung und Erfüllung: omnia resonant novitatem, et in Testamento Vetere obumbratur Novum. Quid est enim quod dicitur Testamentum Vetus nisi Novi occultatio? Et quid est aliud quod dicitur Novum nisi Veteris revelatio? (… in allem erstrahlt schon das Neue; und das Alte Testament wirft seinen Schatten voraus, aus dem das Neue hervorgeht. Und was ist der Bund, den man den Alten nennt, anderes als eine Verhüllung des Neuen? Und umgekehrt: was ist der Neue Bund, wenn nichts anderes als die Erfüllung [Offenbarung] des Alten?)
So wollte er einen Freskenzyklus, ausgeführt von den besten Malern des Quattrocento, in dem sich Begebenheiten aus dem Leben des Moses und aus dem Leben Jesu paarweise gegenüberstehen, ganz der Logik seiner Überzeugung folgend, dass ‚Christus unser Moses’ (Moyses noster Christus) ist. So sollten die Bildergeschichten wie ein Endlosband unter dem weit vorspringenden Fenstersims aus weißem Marmor und über gemalten, faltenreichen Vorhängen, die detailgenau einen Stoff aus Gold- bzw. Silberbrokat nachzuahmen versuchen, alle vier Wände umlaufen. Leider sind die Bilderpaare nicht mehr vollständig, sondern nur noch auf den Längswänden erhalten.
Nach diesen Vorüberlegungen, die ich nach und nach aus den Tiefen meines Gedächtnisses abzurufen imstande war (was umso erstaunlicher ist, weil man mir bestimmte Verhaltensweisen und Einstellungen nachsagt, die schon einen gewissen Grad an Senilität erkennen lassen!) und die mir wichtig genug waren, um mir einerseits die Geschichte der Sistina zu vergegenwärtigen und um mir andererseits Klarheit zu verschaffen über ihre innere Gestalt, fing ich an, mich gezielt mit einigen wenigen Darstellungen zu beschäftigen, die ich schon während meiner Vorbereitungen zu Hause ausgewählt hatte. Und nicht wie es die ganz eiligen Touristen tun, die sich mit ein paar flüchtigen Blicken auf das unüberschaubare Programm der bemalten Flächen begnügen und die Sistina schon nach wenigen Augenblicken wieder verlassen in der Gewissheit, die Welt der Renaissance kennengelernt zu haben und vom Geist ihrer Künste berührt worden zu sein. So ein kurzes ‚Abhaken’ der hier versammelten Wunderwerke käme für mich nicht in Frage, da ohne Nachhaltigkeit, und die Eindrücke sich gleich verflüchtigen. Zurück bliebe ein diffuses Bild des Gesehenen, ein schaler Rest dumpfen Erlebens.


Ein bisschen über das Kompositionsschema der Renaissancemalerei sinnieren, darf auch ‚Seneca’ erlaubt sein

Von den zwölf heute noch existierenden Wandbildern waren es gerade mal zwei, die im Focus meines Interesses standen, und die ich mir im Detail anschauen wollte: zum einen war es die ‚Versuchung Jesu Christi’ von S. Botticelli und zum andern ‚Die Schlüsselübergabe an Petrus’ - ein Meisterwerk von P. Perugino, das als Cover die ‚Sinfonia Vaticana’ des von mir so geschätzten R. Raffalt ziert, und weil ich dieses Bändchen schon so oft in meinen Händen gehalten habe, wollte ich dieses Fresko unbedingt einmal im Original sehen.
Beiden Bildern liegt ein Kompositionsschema zu Grunde, das bezeichnend ist für die Renaissancemalerei und bei jedem Liebhaber dieser Kunstgattung Erstaunen und Bewunderung hervorruft: wie eine Bühne der Illusion für die handelnden Personen erscheint vor seinen Augen eine Traum-Landschaft, die jenseits aller Wirklichkeit das Resultat blühender Phantasie ist und ein Beleg für die Genialität großer Meister. Mit den Mitteln perspektivischer Darstellung, der abgestuften Übergänge von Licht und Schatten, der räumlichen Staffelung und der souveränen Beherrschung der Farbskala entsteht ein Panorama unendlicher Tiefe, wo in der Ferne der Fluchtpunkt den Horizont berührt und das Lichtblau des Himmels beginnt, der sich in weitem Bogen und mit seinen vorüberziehenden Wolkenfeldern über die ganze Szenerie spannt. So ist es nur folgerichtig, dass den unterschiedlichen Stimmungen, die die einzelnen Bilder wie einen Dekor umhüllen, ein breit gefächertes Spektrum von Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung steht: dramatisch-bewegt können sie sein, von lyrischer Poesie, von harmonischer Eintracht, von stiller Einsamkeit, von tiefem Frieden oder einfach nur märchenhaft schön.
So fällt unser Blick zunächst auf grandiose Flusslandschaften mit hochaufragenden Bergketten und tief eingeschnittenen Tälern, deren wichtigste Eingänge gewaltige Kastelle bewachen – von wuchtigen Mauern und hohen Wehrtürmen umgeben, die mit ihren dunklen Schießscharten Abwehrbereitschaft demonstrativ nach außen tragen und eine Drohkulisse aufziehen, die potentielle Angreifer auf Distanz halten soll.
Dann wechseln wir hinüber zur sanft hügeligen, heiter anmutenden Landschaft toskanischer Prägung mit Feldern und Auen, mit silbrig glänzenden Olivenhainen, mit gradlinig verlaufenden Zypressenreihen und mit kultivierten Weinbergen, die in der milden Nachmittagssonne ihren unwiderstehlichen Charme verströmt. Wie Edelsteine erstrahlen im Schmelz des hereinflutenden Lichts die Marmorgebilde der Kathedralen, die schon von weitem sichtbar auf Bergrücken die Umgebung beherrschen und deren Fassaden mit ihren Arkaden, Loggien, Pfeilern, Figuren und Reliefs, sich von Stockwerk zu Stockwerk stufig verjüngend, zu den Wolken aufragen.
Aber es können auch mächtige Gesteinstürme sein, die mit ihren schroffen, von Rissen und Spalten zerfurchten Steilwänden das Blickfeld seitlich begrenzen, und die fast erdrückt werden vom Gewicht gewaltiger Steinplatten, die auf ihnen lasten und gerade mit so viel Erdreich überzogen sind, dass darin Sträucher und Büsche, aber auch Bäume Halt finden und so das öde Gestein mit Leben erfüllen. Wie beim Blick durch das berühmte Schlüsselloch auf dem Aventin das Wunder räumlicher Tiefe erlebt wird durch die perspektivische Verlängerung des von Bögen hoher Bosquetten gesäumten Laubenganges weit hinüber zur majestätisch über dem Grab des Petrus schwebenden Kuppel so wird unsere Aufmerksamkeit jetzt gelenkt auf einen paradiesisch schönen Landschaftspark mit verschlungenen Wegen, stillen Winkeln, mit dem wuchernden Grün einer sich verschwenderisch verschenkenden Natur, mit schattigen Gründen, erfüllt vom Sprudeln der Quellen und Rauschen der Bäche, mit Brunnen, deren sanft geschwungene Schalen den herabfallenden Strahl des unaufhörlich nachströmenden Wassers auffangen, um es, überfließend, in langen Strähnen und vom Wind bewegten Schleiern wieder zu verlieren – Symbol für die Gegenwart und Vergänglichkeit der nie vergehenden Zeit. Und man darf die großen Bäume nicht vergessen, die hoch aufstrebend als Blickfang über dem Gelände stehen, die sich im Gegenlicht mit ihren weit ausladenden Kronen bedrohlich schwarz gegen das Lichtblau des Himmels abheben oder die mit der auffälligen Silhouette einer Zypresse und ihrem schmalen, spitz zulaufenden Dreieck effektvoll zur Geltung kommen.
 
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Pietro Perugino: Die Schlüsselübergabe an Petrus - 1. Teil

Pietro Perugino: Die Schlüsselübergabe an Petrus – Conturbatio Jesu Christi Legislatoris


Es war wie gesagt reiner Zufall, dass wir die für unsere Belange passende Seite angesteuert hatten, von der sich aus die Fresken aus dem Christus-Zyklus gut beobachten ließen – kein Logenplatz wohlgemerkt; den hätten wir an diesem Nachmittag vergeblich suchen können, aber doch gut genug, um die Wandbilder voll im Blick zu haben.


Anders als beim ‚Letzten Abendmahl’ hat Perugino (von dem Vasari behauptet, er habe kein Bett gehabt, sondern in einer Kiste geschlafen!) für die Übertragung der Schlüsselgewalt an Petrus nicht die Intimität des geschlossenen Raumes gewählt, sondern hat dieses für die Geschichte der Kirche so wichtige Ereignis in die Öffentlichkeit verlegt auf einen weiten, sich bühnenartig öffnenden Platz, eingeteilt in große rechteckige Felder aus weißem Marmor und umrandet von Streifen rötlichen Gesteins. Auf diese Weise spannt sich ein Netz aus horizontalen und vertikalen Linien über die gesamte Fläche, einer streng perspektivischen Ordnung folgend in der Absicht, so die Tiefenwirkung des Bildraumes zu erhöhen.
In Anlehnung an das Ideal der klassischen Antike, das den Bühnenraum (‚proscenio’) abschließt durch eine querverlaufende Schauwand, die ‚scænæ frons’ – in der Regel eine Architekturfassade über drei Stockwerke mit vorgesetzten Säulen auf hohen Sockeln, mit Nischen von muschelartigen Baldachinen überdeckt und zur optischen Bereicherung mit Bildnissen von Gottheiten und Heroen dekoriert, mit vorspringenden tabernakelähnlichen Konstruktionen verziert und bekrönt von Dreiecks- bzw. Rundgiebeln, und schließlich als weiterer Blickfang von einem zentralen, säulengerahmten Eingang (‚Ianua regia’) durchbrochen, dem auf beiden Seiten in gleichem Abstand kleinere Durchgänge (‚hospitalia’) folgten – so wird der riesige Platz im Hintergrund begrenzt vom Tempel Jerusalems, der als Kuppelbau auf achteckigem Grund alle Anforderungen der Renaissancezeit an ein Idealgebäude erfüllt, und wird seitlich flankiert von zwei Triumphbögen, die in ihrer klassischen Ausführung Erinnerungen an die imperiale Größe Roms wachrufen. Perugino hat diese Gebäude nicht einfach im Linearstil gezeichnet, sondern sie durch eine perspektivische Raumgestaltung und eine brillante Farbgebung plastisch hervorgehoben und wirklichkeitsnah erscheinen lassen.


Die beiden Triumphbögen

Stilistisch betrachtet sind die beiden Bögen nichts anderes als eine Kopie des Konstantinsbogens, des am besten erhaltenen Ehrenmals der römischer Kaiserzeit - einst aus weißem Gestein errichtet, das Jahrhunderte lang unter Sonne, Wind und Regen, in neuerer Zeit unter den Umweltbelastungen aus der Luft gelitten hat und sich heute so merkwürdig fahl präsentiert, als suche die Oberfläche den schädlichen Einflüssen zu trotzen unter dem Schutz einer bleichen Patina.
An ihren Schauseiten lassen sich die architektonischen Hauptmerkmale am besten studieren: es handelt sich um dreitorige Anlagen, wobei die Rundbögen in ihrer Größe unterschiedlich gestaffelt sind. Blickfang und beherrschendes Element ist das hohe wie breite Portal in der Mitte mit seinem stark gerundeten Gewölbe, durch das bei den Ruhmesmonumenten auf dem Forum Romanum einst die siegreichen Truppen der Römer zogen. Den Eingängen vorangestellt sind auf hohen Piedestalen vier Säulen mit goldüberzogenen Kapitellen korinthischer Ordnung, die ihrerseits als Träger rechteckiger, wenn auch kleinerer Postamente dienen, von denen großfigurige, ebenfalls vergoldete Statuen – vermutlich bedeutende Heerführer – gestützt auf Speer oder Schild auf den Platz unter ihnen herabschauen. Wie eine Theaterwand ist das Siegesmal mit reichem Bildschmuck überzogen: so erstreckt sich über den seitlichen Portalen ein langes Reliefband, darüber zwei Medaillons mit Jagd- und Opferszenen. Selbst die Zwickel der Bögen sind ausgefüllt und dekoriert, wahrscheinlich mit geflügelten Viktorien.


Nicht übergangslos, sondern von zwei Bändern - eins davon mit Gold überhaucht – unterbrochen und durch vorkragendes Gesims optisch betont erhebt sich das Attikageschoss. In der Mitte über dem Hauptbogen – an den Seiten von kannelierten Pilastern (=flache Wandvorlagen) mit jonischem Kapitell eingefasst – ist auf rechteckigem Grund die riesige, tiefschwarze Tafel (fast könnte man meinen, man habe hier einen Granit der Sorte ‚Nero assoluto’ verarbeitet) befestigt, auf der die Großbuchstaben der Inschrift eingemeißelt sind und erst durch die Goldauflage klar zum Vorschein kommen. Perugino hat sie so in die Länge gezogen, dass er gezwungen war, sie auf beide Attiken zu verteilen: links beginnt die erste Hälfte und rechts endet der zweite Teil. Zusammengefügt ergibt sich folgende Lesart:
IMMENSU[M] SALAMO ----- SIXTE OPIBUS
TEMPLUM TU ------------ DISPAR
HOC QUARTE ------------ RELIGIONE
SACRISTI -------------- PRIOR​

Mit meinen bescheidenen, über einem halben Jahrhundert zurückliegenden Lateinkenntnissen würde ich zur folgenden Übersetzung tendieren: „Du, Sixtus der Vierte – Salomo unterlegen gemessen an seinem Reichtum [an seinen Werken], ihm jedoch überlegen bzw. ihn jedoch übertreffend im Glauben / in der Frömmigkeit [auf dem Gebiet der Religion] – hast diesen großartigen Tempel (= Cappella Sistina) eingeweiht.“ (Weiß jemand noch eine bessere oder vielleicht eine ganz andere Lösung?)

Auch in der Attikazone setzt sich der reiche Bildschmuck fort: so wird die große Inschrift flankiert von jeweils zwei rechteckigen Relieftafeln im Hochformat, ebenfalls von Pilastern eingerahmt, um so die Einzigartigkeit dieser Plastiken hervorzuheben, und die vermutlich Opferszenen bzw. Umzüge zu Ehren der Götter zeigen – das Ganze durchwirkt von jener kühlen Reserviertheit, die sich wie ein unsichtbarer Film über solche Kulthandlungen legt.
Wenden wir uns nun für einen kurzen Augenblick einem anderen der drei noch erhaltenen Triumphbögen aus der römischen Kaiserzeit zu, dem imposanten Denkmal des Septimius Severus – auch mit drei Durchgängen und dem Ehrenbogen des Konstantin als Vorbild dienend – und stellen wir uns das prächtige Sechsergespann mit seinen Wagenlenkern und Siegeszeichen vor, in Bronze gegossen und als Finish mit feinstem Gold überzogen, als bekrönenden Abschluß vor, dann fällt dagegen die Lösung, die Perugino für seine Monumente bevorzugt, weit zurück: er hat die Attikazone um ein weiteres Stockwerk erhöht, das im Grunde genommen nicht anderes darstellt als ‚langweiliges’, die Schauseite ausfüllendes Postament. Um diesen Eindruck zu vermeiden, hat er es am Fuß und zum oberen Rand hin mit einem Band von sanft schwingenden und in kurzen Intervallen rythmisierenden Lorbeergirlanden – aus Gründen der Außenwirkung in Gold auf schwarzem Grund – geschmückt und eingefasst mit einem vorkröpfenden Gesims, das stufig versetzt zurückfällt. Den verbleibenden Zwischenraum zieren gleichgroße rechtwinklige Felder, ausgekleidet mit Marmor in braunrotem Ton, in die wiederum kleinere Quadrate mit hellfarbiger Umrandung und auf die Spitze gestellt, eingefügt sind.
Beflügelt vom Ehrgeiz nach Perfektion und Symmetrie hat Perugino seine Bögen mit einem Dekor eigener Art abgeschlossen: nicht mit einer Quadriga oder einem Sechsergespann als Symbol glorreicher Vergangenheit und als triumphaler Ausdruck eines unbezwingbaren Siegeswillens, sondern mit zwei riesigen Girlanden, die sich in weitem Bogen über die Längsseite schwingen und hoch über der Mitte wieder zusammentreffen. Wie Perlen auf einer Kette gereiht, so geordnet strahlen uns die goldenen Sterne auf ihrer gerundeten Bahn entgegen, begleitet vom Wohlwollen eines geflügelten Engelspaares, und erinnern mit ihren dornenbesetzten Kugeln an die ‚Morgensterne’, hinter deren harmloser Bezeichnung sich die so schreckliche Wunden reißenden Hiebwaffen des Mittelalters verstecken. Befestigt sind die Girlanden an prächtigen Kandelabern aus gegossener Bronze, selbstverständlich auch in Gold getaucht, die mit ihrem schweren Dreifuß, mit ihren konvexen und konkaven Formen und dem sich nach oben verjüngenden Schaft die aufwendig gestaltete Dekoration komplettieren und den Ehrenbogen des Konstantin fast vergessen lassen, der doch mit seiner ‚Transformatio’ die entscheidende Wende Roms eingeleitet hatte weg von der weltbeherrschenden Haupstadt des Imperium Romanum hin zur Metropole, zum ‚caput mundi’ der katholischen Christenheit, des ‚orbis catholicus’.


Der Tempel von Jerusalem - ein gewaltiger Zentralbau


Der Tempel von Jerusalem in der Mitte des Hintergrundes ist das dominierende Bauwerk auf dem weiten Platz, das vollkommen freistehend im Blickfeld des Betrachters liegt. Es ist ein gewaltiger (immensum!) Zentralbau auf achteckigem Grundriss, der mit seinen hochaufragenden Wänden einen riesigen, lichtdurchfluteten Raum umschließt, und wenn ich an die entsetzlich 'trockene' Materie von Flächen- und Körperberechnungen längst vergangener Schülertage zurückdenke, nichts anderes darstellt als ein überdimensionales Prisma. Darüber erhebt sich in Form einer Halbkugel majestätisch die Kuppel, deren flache Ziegel, an der Unterkante halbrund geformt und in Biberschwanzdeckung verlegt, der Oberfläche ein schuppenartiges Aussehen verleihen. Alles ist mit feinstem Gold überzogen, die Sonne verströmt vor einem seidenblauen Himmel verschwenderisch ihr mildes Licht und hat die Kuppel in einen weithin sichtbaren glosenden Feuerball verwandelt. Mit dem hallenähnlichen Bau des Originals hat der Tempel des Perugino allerdings nichts gemein: er ist so entworfen wie es sich die Renaissancearchitektur als Ideal vorstellt, für dessen konkrete Umsetzung mir spontan als Beispiel die größte Taufkirche der Christenheit einfällt, das Baptisterium vor dem Dom S. M. Assunta in Pisa.
Aus ästhetischen Gründen, die sich als wirklich gelungene Idee herausstellen, die Uniformität der glatten hohen Wände aufzuheben, ist die gesamte Außenfassade horizontal in drei Ebenen geteilt, durch umlaufende goldglänzende Bänder mit einem darüberliegenden Gesims deutlich hervorgehoben, die auf diese Weise die Illusion von drei Etagen erzeugen sollen. Auch in der Vertikalen folgen die Wände einem streng geometrischen Schema und sind in jeweils vier längliche, durch vorgesetzte flache Säulen getrennte Rechtecke gegliedert, die in allen drei Stockwerken wiederkehrend exakt übereinanderliegen. Von weitem betrachtet entsteht so der Eindruck, als bestünde die Fassade in der Längsrichtung aus parallelen Streifen gleicher Länge und gleichen Abstandes, wodurch sich der Effekt ergibt, als strebe das Gebäude immer höher zum Himmel hinauf. Während die beiden oberen Etagen ausgefüllt sind mit je einer Reihe von vier Fenstern auf jeder Seite, oben bekrönt mit einem gegiebelten Dreieck aus Stuck und unten dekoriert mit einer vergoldeten Volutenspange, so sind im ‚Parterre’ die Felder ausgekleidet mit weißen Marmorblenden, auf denen man die Umrisslinien von zwei senkrecht aufeinander stehenden, doppelseitigen Rhomben herausgemeißelt hat. Abgeschlossen wird das geräumige Prisma durch einen imposanten Fries, der als Endlosband kleiner Kreise wahrgenommen wird, die wie Perlen auf einer Schnur aufgefädelt an den Berührungspunkten einen leicht geöffneten Spalt bilden und die in ihrem Innern eingeschlossenen Palmetten umhüllen. Über dem Fries steigt ein mächtiges, weit vorkragendes Kranzgesims auf, das Platz genug bietet, als Belvedere genutzt zu werden und bewehrt ist mit einem schlichten Metallgeländer aus senkrechten Stäben und einem Handlauf, auf den man sich bequem abstützen kann.
Als dekoratives Schmuckelement und dabei wunderbar anzuschauen erweisen sich die vier ‚luftigen’, weit in den Raum ragenden Vorhallen, die wie ein riesiges Kreuz den Tempel in ihre Mitte nehmen. Erst jetzt wird sichtbar, dass der schwere Baukörper gar nicht auf Fundamenten ruht, die tief im Boden verankert sind, sondern sich auf einer riesigen Treppenanlage erhebt, deren Stufen das Gebäude sternförmig umgeben. Die Leichtigkeit der Vorhallen ist auf ihre Bauweise zurückzuführen: ihr auffälligstes Merkmal sind die imposanten Rundbögen, die das Vorbild der Triumphbögen aufgreifend von schlanken Säulen getragen werden, die selbst wiederum auf hohen Sockeln stehen und mit den vergoldeten Akanthusblättern ihrer Kapitelle abschließen, und die in ihrer Farbgebung nicht gegensätzlicher sein können: vorne pechschwarz, hinten der bleichen Farbe des Marmors angepasst. Obwohl die Rundbögen sich nicht dazu eignen, Lasten aufzunehmen, die über den Scheitelpunkt hinausragen, da durch die starke Krümmung die Verhältnisse instabil werden und wegen der unterschiedlichen Verteilung der Kräfte sich zwangsläufig das Gleichgewicht verschieben muss, werden sie zu Trägern eines U-förmig verlaufenden Gesims, das mit seiner sich überlagernden Riffelung plastisch hervortritt und an den Ecken von schmalen rechtwinkligen Auflagen gestützt wird, deren Schenkel - ebenfalls aus Marmor - fest in den Halbkreis der Rundbögen integriert sind. In die so entstehenden Zwickel (Dreiecksflächen) hat man passgenau rötlich schimmernde Steinplatten eingefügt und und mit einem goldbedeckten Zierrat geschmückt, der an einen geöffneten Blütenkelch erinnert.


Der weitere Aufbau folgt den Konstruktionsprinzipien griechischer Tempel: die Basis wird bestimmt von einem steinernen Gebälk, auf dem ein von Blattgold überzogenes Ornamentband senkrechter, eng aneinandergereihter Leisten aufgebracht ist, die einer Zahnstange sehr ähnlich sehen. Darüber das gegiebelte Dach, wie die Kuppel von einer vergoldeten Schuppenhaut überzogen.
Mit großer Sorgfalt und mit viel Liebe zum Detail hat Perugino das Säulenportal gemalt, das sich schützend über dem Haupteingang erhebt und unverkennbar Ähnlichkeiten mit einem Tabernakel zeigt. Erst jetzt kommt der hohe Aufbau des zum Halbrund geformten Bogens richtig zum Vorschein, dessen Proportionen perfekt harmonieren mit dem aufgesetzten Giebel, um den sich ein breiter, geriffelter Fries herumzieht – ein Gestaltungsmerkmal, das den bekrönenden Abschluss des Dreiecks noch verstärkt. Das Feld selbst ist in den Zwickeln geschmückt mit einem vergoldeten Rankenwerk auf schwarzem Grund, und in der Mitte prangt ein großes, lorbeerumkränztes Medaillon, das einem Inkreis gleich alle Seiten berührt. Dargestellt ist höchstwahrscheinlich eine Jagdszene: im Vordergrund deutlich auszumachen ein Reiter mit hochaufgerichteter Lanze, der im Galopp mit seinem Pferd heranstürmt und gerade zum Sprung über die erlegte Beute ansetzen will – und wenn ich mir die Größe betrachte, könnte es vielleicht ein ausgewachsener Bär sein, aber auch ebenso gut ein stattlicher Hirsch. Begleitet wird der Anführer von einem Tross Treiber, mit Schlagstöcken aller Art bewaffnet, wild gestikulierend, mit Rufen und Schreien das Wild aufschreckend, die unbeirrbar und bedingungslos ihrem Herrn überall dahin folgen, wohin es ihn auf seinen Jagdzügen treibt.
Unter dem behütenden Dach der Säulenhalle und im Halbschatten liegend öffnet das umrahmte Hauptportal seine Pforten, durch die man ins Allerheiligste tritt, das jetzt, wo die Sonne den großen Platz in ein helles Licht getaucht hat, völlig im Dunkeln liegt. Je länger man seinen Blick darauf richtet, desto klarer zeichnet sich hier der Fluchtpunkt ab, in dem sich alle ins Bild laufenden Linien treffen. Dass diese Beobachtung nicht täuscht, verdeutlichen auch die vertikalen Streifen der Umfassungen aus rötlichem Gestein - das riesige Geviert des Platzes wie ein Gitternetz überspannend und die großen marmornen Rechtecke eingrenzend -: eigentlich weisen sie ja in den Raum und sind in Wirklichkeit parallel, aber im Fresco des Perugino sind sie zu einer Schar schräger Linien umgewandelt worden, die tief in die Fläche projiziert allesamt auf diesen imaginären Punkt ausgerichtet sind.


Die Landschaft - eine Sinfonie aus Formen und Farben



Die merkwürdig statische Stimmung, die über dem Bild der ‚Conturbatio Jesu Christi’ liegt und die man geradezu zu spüren glaubt, je länger man darauf schaut, setzt sich auch in der Darstellung der Landschaft fort, die zwischen den hoch aufragenden Gebäuden durchscheint und nur profilartig umrissen ist. Im Vergleich zu dem sich weit in den Raum ausdehnenden Platz fällt sie ziemlich bescheiden aus: für Perugino ist sie nur Staffage, schmückendes Beiwerk, das die Illusion räumlicher Tiefe aufrecht erhalten soll. Bei genauerer Betrachtung erkennt man, wie eine wahre Kette von Gebirgswällen hoch über der Ebene aufsteigt, um in der Ferne im Dunst zu versinken, und deren leicht geschwungene Kammlinie sich deutlich gegen das Lichtblau eines weit gespannten Himmels abzeichnet. Irgendwie hat Perugino versucht, ein Gesamtkunstwerk auf engstem Raum zu schaffen, in dem alle Naturschönheiten einer Berglandschaft vereinigt sind: so wechseln schroffe Felsen und steile Abbruchkanten mit sanften Almen und windgeschützten Hochplateaus ab, wo im Licht durchsonnter Luft die weißen Fronten der Kirchen und Häuser schon von weitem herübergrüßen. Dann wiederum zeigen Felslabyrinthe mit schwindelerregenden Türmen, mit zerfurchten Steilwänden und mit exponierten Zinnen ihre herbe Schönheit, während rechts im Bild der Landschaftspark mit seinen terrassierten Rasenflächen, den Baumgruppen, dem streng nach Plan angelegten Wegenetz und den sich immer wieder neu öffnenden Sichtachsen eine paradiesische, ‚kultivierte’ Schönheit offenbart, geschaffen von den gestalterischen Kräften des menschlichen Geistes.
Ein verwaschenes Grau-Blau ist die Grundfarbe, die Perugino für die Ausmalung seiner Landschaft verwendet, und die es ihm erlaubt, die räumliche Tiefengestaltung zu optimieren, indem er die Intensität des Grundtons abschwächt und mit Weiß aufhellt. Je mehr das Panorama an Tiefe dazu gewinnen soll, desto mehr muss er die Aufhellung verstärken, bis schließlich das Grau-Blau soweit verblasst, dass es sich im milchigen Dunst des Horizontes auflöst. Wie das Suchbild den Betrachter zwingt, seinen Blick zu schärfen, um die überall versteckten Veränderungen und Einschlüsse aufzuspüren, so muss man schon sehr genau zwischen den beiden seitlichen Portalen hindurchschauen, um in der Ferne den Streifen Wasser zu entdecken, der sich in seinem Kolorit kaum von der ihn umgebenden Landschaft unterscheidet. So fügen sich alle Einzelheiten zu einem geschlossenen Ganzen zusammen, und sie lassen uns ahnen, dass die künstlerische Freiheit, die Perugino für seine Komposition beansprucht, da ihre Grenze erfährt, wo sie auf historische Gegebenheiten Rücksicht nehmen muß.
Vertrauen wir der Botschaft des Neuen Testaments (Mt 16, 13 – 20; Mk 8, 27 -30; Lk 9, 18 -21), dann gilt die „Gegend von Caesarea Philippi“ als der Ort, an dem Petrus sein Messiasbekenntnis („Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes.“) abgelegt und Jesus seine berühmten Primatsworte gesprochen hat („Du bist Petrus, der Fels, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen … Dir will ich die Schlüssel des Himmelreiches geben …“). Bis heute hat sie ihren malerischen Charme bewahrt und übt eine starke Anziehungskraft auf viele Besuchergruppen aus, die aus allen Teilen der Welt ins Heilige Land strömen. Ziel ist nämlich die Schlucht in unmittelbarer Nähe des biblischen Caesarea (im Altertum hieß die Stadt noch Paneas, benannt nach dem Hirtengott Pan), die am Fuße des schneebedeckten Hermongebirges liegt, dessen Gipfel die ungeheure Höhe von fast 3000 m! erreicht. Hier in dieser Schlucht öffnet sich eine schattige Grotte, aus der zur Zeit Jesu einer der drei Quellflüsse des Jordan entsprang. (Durch ein Erdbeben hat sich jetzt der Austritt des Wassers verschoben. Es drückt sich durch eine Spalte im Erdboden hindurch, fällt dann über eine breite Felsstufe kaskadenförmig herab, um schließlich nach vielen Windungen und Schlenkern den See Genesareth zu erreichen.) Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Perugino die Landschaft im Hintergrund seines Bildes bewusst so gestaltet hat, um auf diese Weise den Bezug zum historischen Ort der Schlüsselübergabe herzustellen.
Aber was wäre diese Landschaft ohne ihre imposanten Einzelbäume, die sich mit ihren dunklen Silhouetten scharf gegen den lichtblauen Himmel abheben? So kann sich unser Blick kaum lösen vom pyramidalen Aufbau einer Zeder, deren Kronengerüst eine Vielzahl von Schirmen gebildet hat, die wie die Schalen einer Etagere aufeinandergetürmt auf der untersten Ebene weit auslandend sind, um sich dann zur Spitze hin von Stufe zu Stufe zu verjüngen. Ganz anders dagegen wirkt der Schattenriss einer schlanken Zypresse, deren Säulenform Perugino in eine lodernde Fackel verwandelt hat mit unzähligen züngelnden Flammen, deren Spitzen allesamt himmelwärts gerichtet sind. Und da ist schließlich die Gruppe der hohen Laubbäume mit ihren mächtigen Kronen. Von weitem betrachtet scheint es so, als habe die Natur aus Ästen, Zweigen, Trieben und einem dichten Blattdickicht riesige Wedel gebildet, die ein harmonisches Zusammenspiel ergeben von Formen und Farben, von Licht und Schatten.
 
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Pietro Perugino: Die Schlüsselübergabe an Petrus - 2. Teil

Während Perugino beim Dekor auf ein Gestaltungsmittel zurückgreift, das ihm erlaubt, den Hintergrund üpppig auszumalen, und er mit diesem schmückenden Beiwerk zugleich einen weiteren Blickfang hinzugewinnt, spielt sich die eigentliche Szene, die Schlüsselübergabe und damit die Übertragung der höchsten Vollmachten Jesu Christi im Vordergrund ab – überstrahlt vom Glanz eines milden Sommertages und seines warmen Lichts. Anders als bei einer Papstinthronisation (wie wir sie vor acht Jahren an den Bildschirmen miterleben konnten), die begleitet ist von einem riesigen Massenspektakel und einem den gesamten Erdball umspannenden öffentlichen Interesse, vollzieht sich dieses Ereignis in der ländlichen Abgeschiedenheit von Caesarea Philippi, soz. an der Peripherie des damaligen Weltgeschehens.


Der Augenblick der Unbefangenheit und Natürlichkeit

Auch wenn bei oberflächlicher Betrachtung der Eindruck entstehen könnte, es handle sich bei der Schlüsselübergabe um einen symbolischen Akt, geht es in Wirklichkeit um die Leitung der zukünftigen Kirche, die Jesus in die verantwortlichen Hände des Felsenapostels legt, verbunden mit dem ausdrücklichen Auftrag, bei Entscheidungen, die der Wahrheitsfindung bzw. der Einheit der Kirche dienen und in moralischen Angelegenheiten (Sündenvergebung / Eheschließung) das Prinzip des Bindens und Lösens, des Erlaubens und Verwehrens, des Zulassens und Ablehnens anzuwenden.
Ganz bewusst hat Perugino in seinem Concetto darauf verzichtet, die Größe und Einzigartigkeit dieses Amtes hervorzuheben, das der Geschichte der Kirche wie des Abendlandes ein unauslöschliches Siegel eingebrannt hat, und das zu seiner Zeit das Ausmaß triumphaler Prachtenfaltung erreicht hatte. Ihm kam es darauf an, den Augenblick der Übertragung der Schlüsselgewalt in seiner ganzen Unbefangenheit und Natürlichkeit, diesen einmaligen und nicht wiederholbaren Akt des Übergebens und Empfangens im Bild festzuhalten, für den es keinen besseren Ort hätte geben können als die intime Atmosphäre des Jüngerkreises, weit abgeschirmt vom Trubel und von der Neugier der auf Wunder hoffenden ‚Volksscharen’. Ein Beleg dafür, dass die wirklich großen Entscheidungen im Stillen, im Verborgenen und nicht vor einem sensationsgierigen Publikum fallen.


Der Papst - nur noch eine Ikone der Moderne?

Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreiches geben; was du auf Erden binden wirst, wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein.“ (Tu es Petrus, et super hanc petram ædificabo Ecclesiam meam, et portæ inferi non prævalebunt adversus eam. Et tibi dabo claves regni cælorum. Et quodcumque ligaveris super terram, erit ligatum et in cælis: et quodcumque solveris super terram, erit solutum et in cælis.)

Keiner der Anwesenden, die damals Zeugen dieses Geschehens waren, konnte sich in seinen kühnsten Gedanken vorstellen, dass aus der bescheidenen Urform des Petrusamtes das höchste und glänzendste Amt hervorgehen würde, das die Kirche zu vergeben hat, die aufgrund ihrer expansiven Mission über alle Kontinente hinweg bis in die entlegensten Winkel dieser Erde vorgedrungen ist. Es hat sich nunmehr in der Person des Papstes zu einem Fels, ja zu einer Bastion geistlicher Macht entwickelt und leitet seine Legitimation wie kein anderes Amt in der Welt direkt „von oben“ her ab. Als das ‚sichtbare’ Oberhaupt der Kirche beruft sich der Pontifex der römisch-katholischen Kirche auf den Heiligen Geist, und seine Autorität ist eng verknüpft dem Lehramt, das ihm nach dem Kirchenrecht erlaubt, in Glaubens- und Sittenfragen Unterordnung und Gehorsam einzufordern. Eine Konzentration von Befugnissen, die Widerspruch geradezu herausfordert. Kritiker der Kirche werfen ihr vor, bei ihren Beschlüssen und Entscheidungen keine ‚demokratischen’ Prinzipien zuzulassen (nur die ‚kollegiale’ Mitarbeit romtreuer Bischöfe ist gegen ein Veto geschützt), sondern streng absolutistisch zu verfahren und sie von einer Kurie absegnen zu lassen, deren Mitglieder längst das Pensionsalter erreicht haben oder kurz davor stehen, und die in ihrem Denken allzu oft durch eine reaktionäre Gesinnung auffallen, die weit hinter der Zeit zurückgeblieben scheint.
Auch wenn der jetzige Papst [Benedikt XVI.] bei seinen öffentlichen Auftritten wie ein Popstar gefeiert wird und seine Popularitätswerte von Rekord zu Rekord eilen, darf man daraus nicht den Rückschluss ziehen, er könne der Kirche noch entscheidende Impulse zur Erneuerung oder gar zu einem Richtungswechsel geben. Nicht in seinem hohen Alter. Er kann momentan nur noch an der Erhaltung des Status quo und seines Rufes als hochrangiger Theologe interessiert sein, von dem Kenner behaupten, er sei in der Lage, selbst komplizierte Sachverhalte in einer verständlichen Sprache darzustellen. (Bei der Niederschrift dieser Gedanken bin ich von der Entwicklung im Vatikan völlig überrascht worden: der freiwillige Rücktritt eines Papstes ist kirchengeschichtlich gesehen wirklich eine Sensation, ein epochaler Einschnitt. Das hat es seit dem Mittelalter nicht mehr gegeben. Dass sich ausgerechnet der konservative Benedikt aus dem stramm geschnürten Korsett einer seit Menschengedenken bestehenden Tradition befreien würde, hätte ich nie gedacht. Mit diesem Schritt ist er wirklich über sich hinausgewachsen. Ich hoffe, dass diese mutige Entscheidung nicht das einzige ist, was erinnerlich bleibt, wenn von seinem Pontifikat die Rede ist.)

Nicht der Papst hinterlässt Spuren im kollektiven Gedächtnis, der sich ängstlich hinter den hohen Mauern der vatikanischen Enklave verschanzt oder der sich bei seinen Entscheidungen in die Abhängigkeit kurialer Bürokratie begibt. In Erinnerung bleibt auch nicht der Papst, der die Öffentlichkeit mit einer Flut amtlicher Dokumente, also mit Enzykliken oder Rundschreiben, überzieht, die die Kirchenmitglieder kaum oder gar nicht verstehen und deren inhaltliche Aussagen sich nicht von langweiligen Parteiprogrammen unterscheiden, und die von einem Geist zeugen, der das Prädikat reaktionär oder rückständig verdient und der die Kirche in ihre selbstverschuldete Isolation hineinführt. So kann keine Glaubwürdigkeit entstehen.
Dies kann nur geschehen, wenn der Papst der Kirche als guter Hirte, als ‚pastor bonus’ oder eben als ’papa’, als gütiger Vater, vorangeht, der weniger durch seine belehrende Art als vielmehr durch seine Menschlichkeit überzeugt; dem die Emotionen der Menschen zufliegen, weil sie spüren: da ist einer, der sich auf ihre Ebene begibt, der teilnimmt an ihren Sorgen und Nöten, an ihren Problemen und Ängsten, und der sie hineinnehmen will in das Fischernetz Gottes, dessen Liebe größer ist als unser Herz.
Und schließlich vergisst man den Papst nicht, der aus der Kraft des Glaubens lebt, für den das Reden von der Wirklichkeit Gottes nicht auf bloßem Vermuten, auf Täuschung oder Lüge beruht, sondern WAHRHEIT ist, auf die man keinen Besitzanspruch erheben kann wie man einen Gegenstand sein eigen nennt und die auch nicht mit den Mitteln der Vernunft zu erklären ist, sondern die ein Zeugnis, ein Bekenntnis (confessio cordis) voraussetzt, das auf die kürzeste Formel gebracht so lautet: Jesus ist Christus; d. h. die irdische Gestalt des Jesus von Nazareth, der Jesus des Glaubens ist der zum Christus verwandelte Weltenrichter, der am Jüngsten Tag, der zugleich das Ende der irdischen Zeit besiegelt, Gericht halten wird über alle Lebenden und Toten, auf dem unwiderrufbar über das Schicksal jedes einzelnen entschieden wird: für den entweder eine neue unaufhebbare Wirklichkeit im Angesicht Gottes, im Umgriffensein vom ‚lumen de lumine’ seiner Herrlichkeit beginnt oder auf den der Abstieg in die totale Verlorenheit als Folge gewollter Selbstbezogenheit und Selbstverschließung zukommt; und der schließlich als Pantokrator seine endgültige Herrschaft errichten wird getreu seiner prophetischen und alle Zeiten überdauernden Verheißung: “Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende. Siehe, ich mache alles neu.“

‚Aber, aber’
, so wird mir mancher Kritiker entgegenhalten, ‚so leicht, so fließend wie sich diese Gedanken von der Tastatur auf meinen Rechner übertragen, gestalten sich die Vorgänge in der Glaubenswirklichkeit nicht.’ In der Tat, der Glaube ist keine Angelegenheit, die man mal eben in der Mittagspause erledigt oder für die es genügt, sich ein Zeitfenster von „einer Zigarette und einem letzten Glas im Stehn“ zu reservieren, wie es R. Mey in seinem Song ‚Gute Nacht, Freunde’ getextet hat. Glauben, das ist ein ununterbrochener Denkprozess, der den Menschen nicht zur Ruhe kommen lässt, ist ein Zubewegen auf Gott hin, ist ein suchendes Sich-Annähern, das nie gradlinig verläuft, sondern von zweifeln und verzweiflen, von fragen und infragestellen begleitet wird. Glauben, das ist nicht die endgültige Schau oder wie Tomas v. Aquin es nennt, die visio plena veritatis, sondern Glauben meint ein Fürwahrhalten, bei dem neben dem Denken (cogitare) auch noch das Zustimmen (assentire) dazutreten muss, das aus der Tiefe des Herzens, aus dem Innern der Seele (anima) aufsteigt.


Etwas ist faul in unserer Gesellschaft

Das sind natürlich Überlegungen, die zur Zeit nicht im Trend liegen, über die Ignoranten nur müde lächeln können und die dazu verurteilt sind, nur einen Nischenplatz bei den Themen zu belegen, die heute die Gesellschaft beschäftigen – eine Gesellschaft, die stöhnt unter der Last der vielen Termine, die einzuhalten nur mit Mühe gelingt, die klagt über immer mehr Leistungsdruck und Arbeitsverdichtung, die überrollt wird vom Wachsen der Märkte, vom unersättlichen Bedarf an Rohstoffen und Energie, von den rasanten Entwicklungen auf dem technologischem Gebiet und im industriellen Bereich, die den Rhythmus der Zeit weiter beschleunigen, so dass man sich anstrengen muss, Schritt zu halten und die Übersicht nicht zu verlieren. Kein Wunder, dass in einem solchen Klima der Mensch in eine tiefe Identifikationskrise fällt, der von Selbstverwirklichung und Freiheit redet und doch nur um sich selbst kreist, der zu sich selbst finden will und sich doch immer fremder wird, bis die Vereinsamung ihn ganz in Beschlag nimmt. Ihm wird nicht bewusst, dass er auf die falschen ‚Götter’ setzt: auf Konsum, auf die Beliebigkeit im Denken und Tun, die einhergeht mit der Lust zu provozieren, Aggressionen herauszulassen und Tabus zu brechen, auf Freizeit und Vergnügen, auf Verhöhnung des Denkens und gleichzeitiges Eintauchen in virtuelle Welten und schließlich auf die Gier nach dem Geld, die der eigentliche Auslöser für seine Umtriebigkeit ist; ihr sind keine Grenzen gesetzt und längst hat sie schon die Schwelle der Maßlosigkeit überschritten, wodurch die sozialen Gräben immer weiter aufreißen. ’Die Würde des Menschen ist unantastbar’ heißt es im Grundgesetz, aber ist sie nicht längst zur Würdelosigkeit verkommen, wenn man sich die Gewinnmargen anschaut, die Banken, Manager, Spekulanten und skrupellose Politiker einstreichen, die als Aufsichtsräte in den Vorstandsetagen auf ihre gut dotierten Pfründe nicht verzichten wollen, die in der Öffentlichkeit von ‚Verantwortung übernehmen’ faseln und dabei Millionen in den Sand setzen? Oder wenn ich an die menschenunwürdigen Bedingungen denke, unter denen viele junge Frauen in Indien für einen Hungerlohn und im Akkord in heruntergekommenen, die Vorschriften des Arbeitsschutzes missachtenden Textilfabriken schuften müssen, um die Läger und Regale bekannter Modehäuser mit Produkten zu füllen, die sie hier für ein zig-Faches von dem verkaufen, was man diesen armen Kreaturen an Entschädigung zugesteht.

Eine Gesellschaft, in der das Geld, der Konsum und die Vergnügungssucht alle anderen Werte überdecken, muss aufpassen, dass sie nicht in eine geistige und kulturelle Verwahrlosung und bezogen auf das menschliche Miteinander in einen Zustand der Verrohung hineinrutscht.


Ein unendliches Thema: die Schule

Nehmen wir doch das Beispiel Schule. Seit Jahren schon verkünden alle namhaften Politiker, gefragt oder ungefragt, man müsse unbedingt Geld in die Bildung stecken, denn sie sei das Kapital für die Zukunftssicherung unseres Landes. Und ebenso seit Jahren führen die Schulen Klage darüber, dass sich an der hohen Schülerfrequenz (30 + x) in den Klassen nichts geändert habe, dass man eher dazu übergehe, Gebäude zu schließen als mit kleinen, überschaubaren Gruppen zu arbeiten, und dass die zuständigen Behörden die Neuanstellung von Lehrern verzögern oder gar verhindern. Dazu passt, was ich heute morgen [29.1.2013] aus der Tageszeitung erfuhr: Hunderte von Referendaren, die gerade ihre Ausbildung abgeschlossen haben, finden keine Stelle oder erhalten nur befristete Arbeitsverträge. Unter solchen ungünstigen Voraussetzungen kann erfolgreiches Unterrichten nicht gelingen, und wenn dann noch Schüler die Szene beherrschen, die das ganze System Schule in Frage stellen, die sich und andere vom Lernen abhalten, die Anweisungen missachten und die Autorität des Lehrers mit bissig-frechen Kommentaren oder beleidigenden Äußerungen untergraben, dann kann von einem ordentlichen Lernklima nicht mehr die Rede sein. Und da hilft auch die Schönfärberei mancher Bildungsminister nicht, die von ‚Aufbruchstimmung in den Schulen und einer neuen pädagogischen Freiheit’ phantasieren; auf dem ‚Olymp’ ihrer Ministerien thronend halten sie Abstand zu den Niederungen des Schulalltags, und nur halbherzig nehmen sie zur Kenntnis, dass die eigentliche Schulmisere von heute ursächlich begründet ist in der Verhaltensauffälligkeit der Schüler, die aus meiner Erfahrung in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat.
Erziehung beginnt nicht erst in der Schule, sondern fängt schon zu Hause an. Bei mir bestehen erhebliche Zweifel, ob wirklich alle Kinder mit dem Rüstzeug ausgestattet sind, das sie für ein gemeinschaftliches Lernen qualifiziert. Wo lernen unsere Jüngsten noch, sich an feste Regeln zu halten? Wo lernen sie noch, Vereinbarungen und Abmachungen als verbindlich zu erachten? Wo werden ihnen Grenzen aufgezeigt, wenn man ihnen alle Probleme aus dem Weg räumt und jeden Wunsch erfüllt? Wo sollen sie Ordnung lernen, wenn man sie nie angeleitet hat, Pflichten und Aufgaben zu übernehmen? Wie sollen sie komplexere Zusammenhänge begreifen, wenn sie in ihrem täglichen Umgangston einen Telegrammstil pflegen, der über das Niveau von SMS-Kürzeln nicht hinauskommt?


Die wahren Erzieher

Die wahren Erzieher, das sind nicht die Eltern, die oftmals überfordert den Weg des geringsten Widerstandes gehen, ihren Kindern nachgeben oder sie schlimmstenfalls sich selbst überlassen, die wahren Erzieher, das ist das Fernsehen mit seinen seichten Programmen, wo man sich an den Irrungen und Wirrungen, am Missgeschick und an der Dummheit anderer ergötzen kann, ist das Internet mit seiner Flut von Bildern und Informationen, die ungefiltert, unverstanden, wahllos nach dem Zufallsprinzip aufgerufen und nicht selten alle Tabus brechend, konsumiert werden, ohne dabei in Verlegenheit kommen zu müssen, sich emotional oder geistig zu verausgaben. Der Reiz, sich durchs Internet zu klicken und dabei in immer neue Welten vorzudringen, befördert einen zügellosen Appetit, der leider viel zu oft zu einer totalen Abhängigkeit führt ('Online-Sklaven').
Was für das Internet gilt, das ist in gleicher Weise übertragbar auf das Smartphone, das für die meisten Jugendlichen zum ständigen Begleiter des Alltags geworden aus ihrem Leben nicht mehr wegzudenken ist. Was sie als Bereicherung, als unverzichtbare Informationsquelle betrachten, ist in Wirklichkeit ein gefährlicher Zeitkiller, ja eine schlimme Geißel, deren Attacken sie rund um die Uhr ausgesetzt sind, und die sie zu einem Verhalten zwingt, das merkwürdige Rituale hervorbringt (wie ich in letzter Zeit auf den vielen Fahrten mit der Straßenbahn von der Peripherie Kölns nach Lindenthal beobachten konnte): da werden pausenlos Belanglosigkeiten über SMS ausgetauscht, die sie im Minutentakt abrufen, um gleich darauf mit einer vermutlich ‚hohlen’ Nachricht zu antworten, da werden zig e-mails gecheckt, reihenweise Apps geöffnet und wieder geschlossen, da hat man keine Hemmungen, ungeniert zu telefonieren und selbst intime Einzelheiten in einer Lautstärke preiszugeben, dass man sich fragen muss: „Nehmen die Jugendlichen von heute eigentlich gar nichts mehr ernst?" Und weiter gefragt: "Wie lange noch müssen wir den ständig auf uns einwirkenden 'news stream' mit seinen Banalitäten, seinem oberflächlichen Geschwätz, seinem 'geistigen Müll' hinnehmen und uns diese nervende, ungebetene Außendarstellung einer Generation gefallen lassen, die alles hinausposaunen will und mit ihrem Verhalten signalisiert, dass ihr die Einsicht zur Selbstbeschränkung fehlt? Spiegelt sich in diesen nichtssagenden 'Botschaften' wirklich das vorherrschende Lebensgefühl der Gegenwart wider, nur weil es so ziemlich genau die Befindlichkeit der Mehrzahl unserer Jugend erfasst, oder ist es nicht endlich an der Zeit, wie es der französische Schriftsteller und ehemalige Résistance-Kämpfer Stéphane Hessel in seinem Buch "Indignez-vous!“ fordert, sich dagegen zu 'empören', auch auf die Gefahr hin, von wüsten Beschimpfungen überschüttet zu werden wie: 'Halts Maul, Alter!' oder 'Soll ich Dir die Fresse polieren?'?“

Und noch eine andere Situation konnte ich beobachten: wenn die jungen Leute schon nicht damit beschäftigt sind, sich durch die zahlreichen Mitteilungen ('postings') ihrer Netzwerke zu arbeiten, sitzen sie einfach da mit aufgesteckten Ohrstöpseln, ganz in sich versunken, alles um sich herum ausblendend, verdrängend und vergessend, und liefern sich freiwillig den akustischen Foltern der Popmusik aus. Ist die Flucht in die Illusion, ist das Abtauchen in die Welt der harten Rhythmen und wummernden Bässe auch Spiegel des modernen Zeitgefühls, dann tut sich dahinter ein Abgrund auf, der für selbstgewollte Ausgrenzung, für soziale Isolation, für Vereinzelung und Selbstverlorenheit steht. (Neuste Meldung aus der ‚Westfalenpost’ vom 15.2.2013: “Nach einer Umfrage ließen 80 Prozent der Schüler ihr Handy dauernd eingeschaltet und kommunizierten während des Unterrichts über Facebook miteinander.“ – Kein Ruhmesblatt für unsere Schulen, wird doch durch dieses Verhalten die Botschaft transportiert, dass der Schritt in die innere Kündigung längst vollzogen ist.)
Und für nicht weniger bedenklich im Sinne einer fehlgeleiteten Erziehung halte ich die ‚Ballerspiele’, die sog. ego-shooter. Der Jugendliche lernt schnell, dass sich die virtuelle Welt (die für ihn nahtlos mit der realen verschmilzt) aufteilt in 'winner' und 'loser'. Wer sein Ziel erreichen und sich als Sieger behaupten will, muss nach Rambo-Art seinen Gegner ausschalten. Der Erfolg, das blitzschnelle Erfassen einer Situation und das Treffen einer passenden Entscheidung im Gegenzug, Risikobereitschaft gepaart mit einem kräftigen Schuß an Skrupellosigkeit rechtfertigen den Einsatz aller Mittel. Ein Modell, das so manche Jugendliche reizt, es auch im Alltag auszuprobieren. Denn die Lust, die diabolischen Kräfte herauszufordern, also zu provozieren, ihre schlechten Manieren bei jeder sich bietenden Gelegenheit ‚herauszuhängen’, herumzupöbeln, sich am Eigentum anderer zu vergreifen, Gewalt auszuüben wenn es sich gerade ergibt, die Klasse aufzumischen und durch Störungen den Unterricht lahmzulegen bringt ihnen die Aufmerksamkeit, die ihnen zu Hause verwehrt bleibt und entschädigt sie für ihre Vernachlässigung und ihre verwundete Seele.


Der intellekuelle Abstieg schreitet voran

Und was haben die Schulen all dem entgegenzusetzen? Nichts, nichts, was die jungen Leute wirklich ‚antörnt’. Im Gegenteil: sie fühlen sich angeödet von der Welt des Buches, der Welt der Geschichte, der Sprachen, Naturwissenschaften, Mathematik, die man sich nicht mit wenigen Klicks aneignen kann. Man muss in sie hineinwachsen und sie sich erarbeiten mit Fleiß, Ausdauer, Ordnung und Genauigkeit. Man muss lernen, in Zusammenhängen zu denken, sich sein eigenes Urteil zu bilden, von der Anschauung zur Abstraktion zu gelangen. Ein unbequemer Weg, den zu gehen sich immer mehr Jugendliche verweigern. Auch wenn unsere Bildungspolitiker nach dem Pisa-Schock durch gesteigerte Betriebsamkeit (Qualitätsmanagement, Lernstandserhebungen, Abschlussprüfungen usw.) die Illusion zu wecken suchen, dass das Lernen in den Schulen intensiviert wird mit dem Ziel, den Schülern die bestmögliche Qualifikation zukommen zu lassen, ist diesen Beschwichtigungsversuchen gegenüber Skepsis angebracht, denn solange die Ursachen der Malaise nicht behoben, sondern nur die Symptome kuriert werden, wird sich an den Defiziten nichts ändern, und so wird auch der intellektuelle Abstieg unaufhaltsam voranschreiten.
Wenn Maßstäbe aus den Fugen geraten, wenn man sich z. B. im Bildungsbereich nicht über verbindliche Leistungsstandards einigen kann (was tut eigentlich die Kultusministerkonferenz?) und Zensuren inflationär verteilt werden, so dass sie nichts anderes mehr sind als Muster ohne Wert, wenn Lernwillige im Bemühen um schulischen Erfolg von Lernunwilligen mit Null-Bock-Mentalität terrorisiert werden, wenn im täglichen Miteinander die einfachsten Regeln des Anstands gebrochen und Dreistigkeit, Frechheit, Boshaftigkeit, Drohen und Beleidigen sich triumphierend durchsetzen können, wenn alte Tugenden wie Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Menschlichkeit, Rücksichtnahme, Bescheidenheit ihre sittliche Berechtigung verlieren und sich die Perspektive des Menschen einengt auf Gewinnstreben, Egoismus, Bedürfnisbefriedigung, dann droht unsere Gesellschaft auseinanderzubrechen: sind die treibenden Kräfte erst einmal auf Touren gekommen, sind wir dem Kollaps näher als wir es uns heute überhaupt vorstellen können. Das Ende wäre verheerend, ein Desaster von apokalyptischer Dimension.


In te, Domine, speravi: non confundar in aeternum

Was uns abhanden gekommen ist, das ist das Vertrauen. Wir spüren es nicht nur im Kleinen, also in dem Kreis, in dem wir uns bewegen und in dem wir unser Netzwerk an Kontakten und Beziehungen eingerichtet haben, sondern wir erleben es auch auf der großen ‚Bühne’: in der Politik, in der Finanzwelt und in der Wirtschaft.

Da zerbrechen plötzlich Freundschaften, die jahrelang gehalten haben, weil man per Zufall auf facebook Äußerungen entdeckt, die alles andere als wohlwollend gemeint sind, sondern eher den Tatbestand der Rufschädigung erfüllen.
Oder man glaubt sich einmischen zu müssen in die Privatsphäre des anderen und von ihm Rechenschaft zu verlangen, wo und wie er seine Freizeit verbringt und mit welchen Leuten er sich trifft.
Da zerplatzt der Traum von Familie und von einem Leben voller Harmonie, dessen Zukunft man sich in rosaroten Farben ('la vie en rose') ausmalte, begleitet von den heiligen Schwüren gegenseitiger Liebe; doch am Ende eines langen Weges ist der Zauber raunender Glückseligkeit verflogen und muss der Ernüchterung weichen: wie der Schnee in der Sonne schmilzt, so schmilzt auch das Vertrauen dahin, entweder weil man sich auseinandergelebt hat, sich fremd geworden ist, oder weil sich jemand anders in die brüchig gewordene Beziehung hineingedrängt hat.
Und wer hat nicht schon Ärger mit seinem Chef gehabt? Der seine Kompetenzen überschreitet, indem er bis ins Letzte alle Vorgänge kontrolliert und jede Entscheidung, die er selbst nicht getroffen hat, in Zweifel zieht? Anstatt eine vertrauensbildende Atmosphäre zu schaffen, sich darauf verlegt, auf seinen ‚Hoheitsrechten’ zu bestehen und sich kleinkariert an Vorschriften und Dekrete von ‚oben’, also von der übergeordneten Weisungsebene, zu klammern?

Wie ein roter Faden, zieht sich der Vertrauensverlust durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch, und auch unsere politischen Entscheidungsträger, die ‚Eliten’ der Demokratie, sind nicht davon ausgenommen.
Trauen wir ihnen zu, dass sie über die richtigen Instrumente verfügen, um die Euro- bzw. Finanzkrise zu beherrschen, oder sind sie nicht von den Banken Getriebene, die auf Zeit spekulieren, die Staatshaushalte weiter belasten, um am Ende doch vor einem Scherbenhaufen zu stehen, weil alle Maßnahmen zur Rettung des Wirtschaftssystems nicht gegriffen haben? Hat die Politik nicht mit markigen Worten angekündigt, regulierend in die Geschäfte der großen Finanzinstitute einzugreifen und den Kasino-Kapitalismus in seine Schranken zu weisen? Warum ist man bei der Entkoppelung der Finanzmärkte von der Realwirtschaft noch nicht vorangekommen? Wieso schaut man immer noch zu, wenn Banken bei hoch riskanten Geschäften die Gewinne einstreichen, aber im Falle von Verlusten diese auf Anleger und Steuerzahler abwälzen? Ist es nicht recht und billig, auch die Banken an der Finanzkrise zu beteiligen?
Und nun zur Energiewende. War die Entscheidung, die Atomkraftwerke nach der Katastrophe von Fukushima vom Netz zu nehmen, wirklich wohlüberlegt, und haben sich die politisch Verantwortlichen bei ihrer Argumentation eher von emotionalen als von rationalen Gesichtspunkten leiten lassen? Wir Verbraucher sind verunsichert, weil die Strompreise explodieren und ein Masterplan nicht in Sicht ist, wie der Ausbau der Ökoenergie vonstatten gehen soll. In Interviews und Talkrunden versuchen die Politiker uns zu beruhigen, indem sie erklären, dass es zur Energiewende keine Alternative gäbe und sie die Investition in die Zukunft sei, aber geht es um konkrete Fragen, erhält man keine oder nur ausweichende Antworten. Wieso hinkt der Netzausbau hinterher? Warum verzögern sich die Off-Shore-Projekte? Weshalb steigt die EEG-Umlage, obwohl die Börsenpreise für den Strom fallen? Ist es gerechtfertigt, bei uns ca. 27 Ct/kWh (mit stetig wachsender Tendenz!) zu verlangen, während im übrigen Europa die Energiepreise bei 18 Ct/kWh liegen? (Von den USA wollen wir erst gar nicht reden.) Was spricht dagegen, die Privilegien der energieintensiven Betriebe zu kappen? Muss man nicht auch daran denken, gegebenenfalls die Stromsteuer zu senken? Und wie soll in der Übergangszeit das Nebeneinander von konventionellen Stromerzeugern und den erneuerbaren Energien geregelt werden?

Als hätten wir mit diesen Problemen nicht schon genug zu tun, zieht in ihrem Schatten ein neuer Lebensmittelskandal herauf, dessen Ausmaße noch nicht überschaubar sind. Es ist ja nicht das erste Mal, dass kriminelle Betrüger den Verbraucher täuschen (Rinderwahnsinn, Gammelfleisch, Analogkäse, Dioxin in Eiern und Geflügelfleisch, Ehec-Epidemie ausgelöst nach dem Verzehr von verseuchten Sprossen, Durchfall-Erdbeeren, massiver Einsatz von Antibiotika in der Massentierhaltung usw.). Auch wenn jetzt die zuständige Bundesministerin Aigner auf diese Produktmogelei mit einem Betroffenheitsritual reagiert und einen „Nationalen Aktionsplan“ angekündigt hat, in dem sie eine verbesserte Verbraucherinformation (‚größtmögliche Transparenz’), härtere Strafen und eine Kennzeichnungspflicht für alle Zutaten, also auch für verarbeitetes Fleisch, einfordert, sind damit längst nicht alle Zweifel aus dem Weg geräumt; es ist zu fragen, ob nicht doch gravierende Lücken bei der Lebensmittelkontrolle bestehen, ob es richtig ist, die Verantwortung an die Länder abzuschieben, um sich so aus der Schusslinie zu nehmen, ob unsere Politiker nicht doch eher dem Diktat der Lobbyisten folgen und sich lieber 'weich' klopfen lassen, als sich den Zugang zu lukrativen Posten in der Industrie zu verbauen, und ob die undurchsichtigen Marktstrukturen mit den unkontollierbaren Warenströmen quer durch Europa und der bewussten Unkenntlichmachung der Fleischprodukte (im Fachjargon 'Schrottfleisch' genannt), indem sie zu einer Art Granulat zerkleinert werden, nicht erst das mafiöse System der Lebensmittelfälscher ermöglicht haben. Haben wir nicht ein Recht zu erfahren, welche Inhaltsstoffe sich in einem Lebensmittel befinden und woher sie kommen?

Wenn das Vertrauen unter den Menschen mehr und mehr verloren geht, wenn sich stattdessen Unzufriedenheit, Abscheu, Verachtung und Wut ausbreiten und allmählich ihre Gemüter zustopfen, wie soll es dann gelingen, ein Vertrauen zu Gott aufzubauen? Aber gerade das glaubende Vertrauen ist die Voraussetzung dafür, dass unser Herz sich öffnet, dass es weit wird und sich unsere Seele hinaufschwingt in die Sphäre der unendlichen Horizonte, die jenseits der Wirklichkeit beginnt, die wir sehend, fühlend und greifend zu verstehen suchen. Unendlich deshalb, weil wir uns als Fragende nicht im Kreis drehen wollen, sondern weil in uns die Sehnsucht des Faust brennt, ‚zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält’. Mit jeder neuen Frage, mit jeder neuen Antwort kommen wir ein Stück voran in der Unermesslichkeit des Entdeckens und Forschens, der Suche nach Erkenntnissen und Ergebnissen, die bisher nur hypothetischer Natur waren, und des Verstehens komplexer Vorgänge. Und doch wissen wir, dass all unserm Tun und Denken das Stigma der Vorläufigkeit anhaftet, alles ist nur Zwischenstufe, ist Etappe, weil wir immer mit der schmerzlichen Erfahrung konfrontiert werden, dass wir nicht im Besitz der ganzen Wahrheit, des absoluten Weltverständnisses sind. Egal, wie weit wir uns in die ‚schweigende und unheimliche Unendlichkeit’ (Rahner) vortasten, stoßen wir an eine Grenze, wo unser Denken erlischt, unser Begreifen versagt und Sprachlosigkeit einsetzt. Wir müssen innehalten vor dem Unsagbaren, dem Unaussprechlichen und ahnend nehmen wir ein letztes Geheimnis wahr, an dem wir als Fragende und Wesen der Transzendenz nicht vorbeikommen, das sich unserem Zugriff entzieht und über das wir nicht verfügen können. Wir müssen uns von ihm ergreifen lassen, um sich ihm im Schweigen und in stiller Anschauung zu öffnen.
Was ich hier mit wohl gesetzten Worten beschrieben habe, die kritisch Gesinnte wohl eher für akrobatische Gedankenspielerei halten, das lässt sich zu einem Begriff bündeln ähnlich wie es mit den Lichtstrahlen geschieht, wenn sie durch ein Brennglas fallen, um in einem Punkt zusammenzutreffen: dieses unbegreifliche, unergründliche Geheimnis ist GOTT. Auch wenn wir es mit einem unscheinbaren, unauffälligen, ja geradezu konturlosen Begriff zu tun haben, steht er doch für eine unausweichliche, höhere und der menschlichen Existenz verborgene Wirklichkeit, die da ist und an der wir uns nicht vorbeimogeln können, indem wir sie einfach negieren.
Seit seiner Selbstoffenbarung in Jesus von Nazareth hat Gott den Nimbus der Unnahbarkeit, der selbst gewählten Isolation in der Unendlichkeit von Raum und Zeit verloren, hat er den Himmel für uns geöffnet und den Gegensatz von oben und unten aufgehoben. Er hat den Zeitpunkt festgelegt, – ohne sich in seiner Entscheidung drängen zu lassen, sondern selbstbestimmt zu handeln als Ausdruck seines Willens und seiner Freiheit – wann es richtig ist, den Rubikon der Unzugänglichkeit, der Selbstbezogenheit, der Abkehr von der Welt zu überschreiten. Er hat das Unvorstellbare getan und sich in die menschliche Natur hineingesenkt, um so das Göttliche ins Menschliche, das Unendliche ins Endliche, das Unsichtbare ins Sichtbare, das Ewige ins Zeitliche zu verwandeln: das heißt, dass das Ungeheuerliche, das mit dem Verstand nicht zu Begreifende zum Ereignis des Einmaligen und Unwiederholbaren geworden ist. Seine wahre Größe aber besteht darin, dass er seine Macht aufgegeben hat, um sie in der Ohnmacht am Kreuz zu verlieren, dass er, der alles bewegt und durchwebt, der das Leben ist, sich in das Dunkel des Todes hineinbegeben hat, dass er das Höchste gegen das Niedrigste eingetauscht hat, die Totalität gegen das Staubkorn.
Aber warum? Dazu müssen wir uns die Botschaft in Erinnerung rufen, die er bei seinem ersten öffentlichen Auftreten in Galiläa verkündet hat: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ Dieses ‚Kehrt um’ war als Weckruf gemeint, und er hat bis heute nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Gott will uns herausführen aus der Routine des Alltags, aus den ritualisierten und reglementierten, fest eingeschliffenen Lebensgewohnheiten, er will uns lösen aus den Fesseln des Egoismus, der Maßlosigkeit, der Begierden und Verblendungen, er will uns zu sich hin befreien als Geste seiner selbstlosen Liebe, die nichts gemein hat mit Sentimentalität oder romantischer Verklärtheit. Göttliche Liebe versteht sich als Wohlwollen, als Offenheit uns gegenüber, versteht sich als Zuneigung, die auch in unseren dunkelsten Stunden eine zuverlässige Größe bleibt, versteht sich als unaufdringliche Gegenwart, die sich in unseren einsamsten Augenblicken, wenn wir von allen und allem verlassen nur noch auf unsere eigene Existenz verwiesen sind, in Segen verwandeln kann, wenn wir spüren, dass er uns die Treue hält, dass wir nicht ins Bodenlose, ins Leere fallen, sondern von seiner Güte umschlossen und durchströmt werden.
Diese Güte beurteilt den Menschen nicht danach, was er ist, also was er geleistet, was er verdient, was er geschaffen, was er sich aufgebaut hat, sie schaut darauf, wer er ist; sie bezieht den ganzen Menschen ein sowohl mit seinen positiven Eigenschaften (es geht um Menschlichkeit, Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit; es geht darum, ob er sich in Dienst nehmen lässt, wenn seine Hilfe gebraucht wird, ob er in einem Konfliktfall die Konfrontation, den Streit sucht, oder ob er bereit ist einzulenken und für Ausgleich zu sorgen) als auch mit seinen negativen, dunklen Seiten: mit seinen Schwächen, seinem Versagen, seiner Schuld, seinem Egoismus, dessen Ziel es ist, alle Vorteile für sich zu nutzen und dem anderen den größtmöglichen Schaden zuzufügen, mit seinem Streben nach Macht, um sie repressiv anzuwenden, mit seiner Gier nach Geld und materiellen Gütern, die für ihn zu einer teuflischen Verführung wird, wenn er ihr alles opfert, wenn er darin die Erfüllung seines Lebens sieht.
Es ist eine Illusion zu glauben, dass der Mensch dadurch frei wird, wenn er sich den Verlockungen der Gegenwart ausliefert, wenn er sich an Werte bindet, die vergänglich, endlich sind und deren Verfallszeit man schon bei der Herstellung einkalkuliert; dass er frei wird, wenn er im täglichen Wettbewerb seine volle Leistung abrufen kann, wenn er auf der Höhe der Zeit bleibt, um nicht von den rasanten Veränderungen in der Gesellschaft überrollt zu werden.
Nicht derjenige erlebt Freiheit, der sich dem Zeitgeist anpasst und sich freiwillig der Diktatur der Moderne unterwirft, Freiheit erfährt der, der sich dem einen, wahren Gott und sich seiner alles vergebenden Liebe und Barmherzigkeit anvertraut. So besitzt er ein Messinstrument, das ihm hilft, Wichtiges vom Unwichtigen zu unterscheiden, seine eigenen Fähigkeiten im Vergleich zu anderen richtig einzuschätzen, sich dem Leistungswahn gegenüber gelassener zu verhalten und Distanz zu wahren zu dem Ramsch, den ihm die moderne Zivilisation aufdrängen will. Vielleicht kommen wir dazu, uns neu zu besinnen auf den großartigen Gedanken, der im ‚Te Deum’ des Ambrosius aufstrahlt und im Original so lautet: „In te, Domine, speravi: non confundar in aeternum“ - ‚Auf Dich, Herr, habe ich mein ganzes Vertrauen, all mein Hoffen gesetzt: unter Deinem Schutz werde ich auf ewig nicht verloren sein’.
 
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Pietro Perugino: Die Schlüsselübergabe an Petrus - 3. Teil

Petrus - Felsenapostel und Menschenfischer


Die Geburtsstunde der Kirche, der Ecclesia Christiana

Ich kenne keine andere Stelle im NT als die von Mt 16, 18 - 20, in welcher dem Begriff ‚Kirche’ geradezu universale Bedeutung zuteil wird, was den Verdacht nahelegt, dass es sich hier nicht um echte Jesusworte handelt, sondern um eine Verschiebung der Perspektive, die schon sehr früh in Palästina entstanden sein muss und von Matthäus dankbar aufgegriffen wurde, nachdem sich die Hoffnung auf ein baldiges Hereinbrechen der Gottesherrschaft zerschlagen hatte und auch die Welt nicht in einem apokalyptischen Inferno untergegangen war, sondern sich bis in die heutige Gegenwart hinein ihre Existenz bewahrt hat. Es wäre aber fatal zu glauben, das Thema Endzeit habe sich damit für allemal erledigt! Durch alle Zeiten hindurch und allen andersartigen Vermutungen zum Trotz bleibt es dabei: diese Welt wird nicht bis in alle Ewigkeit bestehen, die Zeit des Menschen - seine ‚Geschichte’ - ist endlich, ist begrenzt. Am Ende erwartet uns nicht eine Leere, die alles Leben vernichtet und verschlingt, oder das Verlöschen des Geistes in den nie verebbenden Kreislauf der Natur, sondern ER – Jesus der Christus, der Garant einer absoluten Zukunft, einer endgültigen Gottesherrschaft, eines Neubeginns, der alle unsere Vorstellungen von Raum und Zeit sprengt. Fest eingebunden in den Glauben seiner Generation, dass eine Zeitenwende unmittelbar bevorstehe und endlich die messianische Ära anbrechen könne, war Jesus davon überzeugt, dass die irdische Geschichte schon in naher Zukunft ihrem Ende entgegengehe und abgelöst werde durch das ‚Reich Gottes’, d. h. durch die unwiderrufbare Herrschaft Gottes, in dem sich die Welt als neuer Himmel und neue Erde vollende, nachdem zuvor die letzten Dinge passiert sind: Weltuntergang – Weltgericht, vor dem sich alle, die Lebenden wie die Toten, zu verantworten haben, wie es die Kirche in ihrem großen Glaubensbekenntnis grundgelegt hat (Et iterum venturus est cum gloria judicare vivos et mortuos.).
Jesus hatte sich nicht auf einen konkreten Termin festgelegt, aber alle seine Worte belegen zweifelsfrei, dass das Kommen der Gottesherrschaft schon bald Wirklichkeit werde und nicht erst in einer fernen Zukunft stattfindet. In der Zwischenzeit sollte die ‚Sache Jesu’ weitergehen und in dem fortleben, was wir als Kirche bezeichnen, also an einem Ort, wo die Erinnerung an die Botschaft Jesu Christi aufrechterhalten wird und aus deren Geist alle zukünftigen Geschlechter leben sollen. Dass aus einer anfänglich kleinen Schar von Getreuen einmal eine Ecclesia geistlicher und vorübergehend auch weltlicher Macht unter dem Primat des Papstes entstehen könnte, war so nicht vorhersehbar – also eine Kirche mit einer straff organisierten Hierarchie und einer effektiv arbeitenden Administration, mit einer dogmatischen Theologie, die höchsten geistigen Ansprüchen genügt und heute fast nur noch von Fachleuten verstanden wird, mit einem ausgeklügelten Kirchenrecht, mit einer Liturgie voller Rituale und Zeremonien und nicht zuletzt mit einer Kulturleistung, die das ganze Abendland geprägt hat: mit der Entwicklung dieser Kirche verhält es sich genauso wie es das Gleichnis vom Senfkorn beschreibt: aus einem unscheinbaren Anfang wird ein gewaltiges Ende, ein „Riesending“. Und in der Tat stand am Beginn der Kirche nicht ein die öffentliche Aufmerksamkeit erregendes Ereignis, sondern sie ist ganz unspektakulär aus dem Zwölferkreis der Apostel hervorgegangen, die nicht nur Begleiter des ‚historischen’ Jesus waren, sondern auf Grund der nachösterlichen Geschehnisse auch Zeugen des auferstandenen ‚Christus’.


Die wichtigsten Stationen im Leben des Simon Petrus

Von Anfang an nahm Simon Petrus – aus Bethsaida stammend, in Karpharnaum lebend und schon früh mit dem Beinamen Kepha/Κηφάς bzw. Petros/Πετρος (=Fels) ausgezeichnet – in diesem Kreis eine Sonderstellung ein: zunächst als ihr Sprecher ohne autorisiert zu sein, Weisungen zu erteilen, und später als „Säule“, als Leiter in Jerusalem – durch apostolische Vollmacht legitimiert. In seinem Charakter ambivalent erleben wir Petrus einerseits als glühenden Verehrer der Person Jesu, andererseits als wankelmütig, schwankend, ja geradezu als feige: erinnert sei an den Verrat im Hof des hohenpriesterlichen Palastes, als er seinen „Herrn“ vor aller Öffentlichkeit verleugnete, oder an seinen peinlichen Auftritt in Antiochien, als er die Tischgemeinschaft mit den Heidenchristen aufhob, weil ‚Zweifler aus Judäa’ daran Anstoß genommen hatten. Also kein Vorzeigeheiliger, kein Vorbild an Treue und Zuverlässigkeit, sondern ein Mensch mit Kanten und Ecken, der nicht immer den geraden, sondern auch mal den krummen Weg einschlägt - ein ganz normaler Mensch mit vielen Schwächen und Fehlern, die zwangsläufig zu den eben geschilderten Entgleisungen führen mussten. Und genau diesen so menschlich wirkenden Petrus hat Jesus zum Felsenfundament der Kirche bestimmt, ‚geadelt’ mit den Schlüsseln des Bindens und Lösens, also dazu ermächtigt, Entscheidungen zu billigen oder zu verwerfen – und das nicht allein bezogen auf die Sündenvergebung! - , die ihre Gültigkeit behalten bis zum Tag des Gerichts.
Als apostolische Autorität unumstritten hat er für kurze Zeit die Leitung der Jerusalemer Gemeinde übernommen, die zu Beginn der noch jungen Bewegung auch Gesamtkirche gewesen ist. Wohl nach seiner Einkerkerung, die Herodes Agrippa I. veranlasst hatte und die für Petrus den sicheren Tod bedeutet hätte, wäre er nicht auf wundersame Weise befreit worden, legte er die Leitungsfunktion in die Hände Jakobus’ d. Jüngeren, des ‚Herrenbruders’, um sich als Zeuge der Auferstehung, der von diesem ungeheuren, unsere Vorstellungskraft übersteigenden und auf die Unsterblichkeit des Menschen, ja seine Neuschöpfung zielenden Vorgang aus unmittelbarer Anschauung berichten konnte, der Außenmission, seiner eigentlichen apostolischen Berufung zu widmen, aber nicht als Apostelfürst, sondern als Menschenfischer: gegen alle Widerstände Christus als den Auferstandenen verkünden, die Taufe spenden, das Abendmahl feiern als sichtbares Zeichen des Neuen Bundes, die Binde- und Lösegewalt ausüben, die Brüder ermutigen und stärken im Glauben und in Christus einen Gott aufscheinen lassen, der nicht den letzten Rest unserer Existenz im Gericht vernichten, sondern uns als Gott der Gnade, als Gott mit menschlichem Antlitz begegnen will, der uns über den Tod hinaus trägt und unser Leben verwandelnd teilhaben lässt an seiner Wirklichkeit: es ist der entscheidende Schritt aus der räumlich-zeitlichen Dimension in die unfassbare, ewige Verborgenheit Gottes, aus dem Endlichen ins Unendliche, aus dem Dunkel des Todes in das Licht eines unnennbaren Geheimnisses; es ist der entscheidende Schritt vom Hoffen und Glauben in die Unmittelbarkeit des Schauens, vom Suchen und Fragen nach der letzten Wahrheit in die Ergriffenheit durch die Strahlenhelle göttlicher Herrlichkeit; es ist das Eintreten in die „Fruitio Dei“ (die Frucht Gottes), in das Innere seines Wesens, in eine zeitenthobene Endgültigkeit.
Schon sehr früh muss Petrus erkannt haben, dass das Verwalten und Leiten der Kirche sich nicht mit seinem Verständnis von der Umsetzung des apostolischen Auftrags in die Realität vereinbaren lasse. Seine Berufung lag in der Missionsarbeit, die in eine umtriebige Lebensphase hineinführte. Zunächst ist er im Kernland der christlichen Mission, in Samarien, tätig, um später in verschiedenen Orten in Judäa unterwegs zu sein, und schließlich treffen wir ihn in der syrischen Stadt Antiochia wieder, die wie Rom auf eine lange Petrustradition zurückblicken kann, und die ihre Gründung als erste christliche Gemeinde dem Wirken des Apostels zuschreibt. Ansonsten ist das Quellenmaterial so dürftig, dass es sich nicht für ein lückenloses Itinerarium eignet. Erkennt man den ersten Petrusbrief (1 Petr 1,1) als verlässliches Schriftstück an, dann kann er auf seinen Reisewegen bis in den kleinasiatischen Raum gekommen sein. Ob er allerdings seinen apostolischen Dienst über Korinth bis nach Rom ausgedehnt hat, lässt sich bis heute nicht mit eindeutiger Sicherheit beweisen: merkwürdigerweise ist über dem letzten Abschnitt seiner Missionstätgkeit der Mantel des Schweigens, des Geheimnisvollen, der metapherartigen Anspielungen ausgebreitet. Vor allem im wichtigsten Zeugnis, der Apostelgeschichte, erfährt man nichts von einem Aufenthalt in Rom oder von seinem gewaltsamen Ende während der neronischen Verfolgung. Und gerade für die katholische Kirche, die den päpstlichen Primat aufs engste mit dem Aufenthalt des Petrus in Rom verknüpft, wäre es so wichtig, wenn man die Anwesenheit des Felsenapostels auch historisch belegen könnte. So ließe sich der Anspruch der Päpste, Nachfolger des Apostelfürsten und sichtbares Haupt der ‚allgemeinen’ Kirche zu sein, nicht nur mit dogmatisch-spekulativen Mitteln begründen.


War Petrus in Rom?

Der Vollständigkeit halber und um sich in dieser so unübersichtlichen Beweislage ein eigenes Urteil bilden zu können, möchte ich kurz auf einige der ältesten Zeugnisse eingehen, auf die sich die Tradition stützt, um alle kritischen Einwände zu widerlegen, Petrus habe sich nie in Rom aufgehalten und habe dort auch nie einen gewaltsamen Tod erlitten.
Am Ende des ersten Hauptteils der Apostelgeschichte, in der uns von der Gefangennahme des Petrus durch Herodes (Agrippa I) und seiner wundersamen Befreiung aus dem Gefängnis berichtet wird, lesen wir: „Dann verließ er sie und ging an einen anderen Ort“ (Apg 12,17). Welcher Ort ist gemeint? Lässt er sich Rom zuordnen? Könnte es nicht auch Antiochia gewesen sein oder irgendeine andere Stadt in Palästina, deren Name bewusst verschwiegen wird, um Petrus vor weiteren Verfolgungen durch die jüdischen Behörden zu schützen? Oder richten wir unser Augenmerk auf den Schluss des ersten Petrusbriefes (der übrigens stark beeinflusst ist durch die Theologie des Paulus und stilistisch in einem so ‚sauberen’ Griechisch verfaßt, daß Zweifel bestehen, ob Petrus tatsächlich der Verfasser dieses Schreibens ist oder doch eher der am Schluss erwähnte Silvanus (Silas), der im Auftrag des Petrus das Schriftstück aufgesetzt haben könnte): „Es grüßt Euch die miterwählte Gemeinde in Babylon und Markus, mein Sohn [=ein enger Vertrauter aus Jerusalem]“ (1 Petr 5,13). Nach altkirchlicher Überlieferung versteckt sich hinter der Bezeichnung Babylon die Stadt Rom, deren direkte Erwähnung wohl absichtlich unterbleibt, weil sich die noch junge Gemeinde vor Repressalien durch den römischen Staatsapparat fürchtete. Für die Verwendung des Decknamens gab es gute Gründe: im jüdischen Bewusstsein war der Name dieser Stadt negativ besetzt; mit ihr verband Israel den Tiefpunkt seiner Geschichte – Zerstörung des Salomonischen Tempels und Untergang Jerusalems, Deportation und ein 50 Jahre dauerndes Exil (586 – 536 v. Chr.). Dieses Schicksal sollte sich im Jahre 70 unserer Zeitrechnung wiederholen mit der Eroberung Jerusalems und der endgültigen Zerstörung des Herodestempels unter dem Feldherrn und späteren Kaiser Titus. Aus der einst glanzvollen Metropole Judas wurde eine römische Kolonie und hieß von nun an Colonia Aelia Capitolina.
Auch in der Offenbarung des Johannes (Kap. 17) begegnet uns der Name Babylon in Gestalt eines scharlachroten Tieres mit sieben Köpfen (= sieben Hügel) als sinnbildlicher Ausdruck für das kaiserliche Rom, das die jeweiligen Herrscher zum Schauplatz ihrer Machtbesessenheit und Launen umgestalteten, und das ein Ort war, der zum Inbegriff für Unmoral und Dekadenz wurde – ganz im Gegensatz zum neuen Jerusalem, der heiligen Stadt Gottes.


Der Clemensbrief (um 100)

Neben den Zeugnissen aus dem NT, deren Angaben zu dürftig sind, um den Aufenthalt des Petrus in Rom mit absoluter Sicherheit zu beweisen, sondern die ihn nur wahrscheinlich erscheinen lassen, gibt es noch außerbiblische Quellen, die Anhaltspunkte liefern, dass die beiden Apostel Petrus und Paulus in der Hauptstadt des Imperium Romanum doch ein gewaltsames Ende gefunden haben. Dazu gehört zum einen der Clemensbrief (um 100) und und zum anderen eine Notiz des Presbyters Caius (um 200)
Im fünften Kapitel seines Briefes an die Korinther schreibt Clemens (der in den Papstlisten als 3. Nachfolger Petri genannt wird und neun Jahre lang die römische Gemeinde geleitet haben und nach der Tradition im untersten Stock der heutigen Kirche S. Clemente gelebt haben soll): „Wegen Eifersucht und Neid wurden die größten und gerechten Säulen verfolgt und kämpften bis zum Tod. Blicken wir jetzt auf unsere mutigen Apostel: Petrus, der wegen ungerechter Eifersucht nicht nur eine oder zwei, sondern viele Mühen auf sich genommen hat und der, nachdem er Zeugnis abgelegt hatte, an dem ihm gebührenden Ort gelangt ist. Wegen Eifersucht und Streit hat Paulus den Kampfpreis der Geduld aufgebracht: siebenmal in Ketten, vertrieben, gesteinigt, … Zeugnis abgelegt vor den Mächtigen seiner Zeit, so ist er aus der Welt gegangen und an den heiligen Ort gelangt.“
Diese Passage ist der einzige Text, der den Tod der beiden ‚Apostelfürsten’ bezeugt. Wo und unter welchen Umständen, davon ist in diesem Auszug nicht die Rede. Legt man die Ausdrücke „kämpfen bis zum Tod, viele Mühen auf sich nehmen, in Ketten legen“ großzügig aus, könnte man mit Bezug auf den Tod von Petrus und Paulus einen Zusammenhang konstruieren mit ihrem in Rom erlittenen Martyrium, dessen genauen Ort Clemens nicht erwähnt, sondern ihn als bekannt voraussetzt. Und nimmt man noch den Begriff hinzu, der im Deutschen mit „Zeugnis ablegen“ wiedergegeben wird und im Original „martyrein“ (μαρτυρειν) heißt (also Christus als den Auferstandenen bekennen vor einem Richter, der für das Todesurteil verantwortlich zeichnet), dann kommen wir schon in die Nähe der Bedeutung, die man später mit diesem Ausdruck verband, nämlich um Christi willen als Zeuge der Wahrheit und eines unbeugsamen Glaubens den Tod auf sich nehmen und sich der eigenen Machtlosigkeit bewusst den geöffneten Armen Gottes anvertrauen.
Auch dieser Textauszug kann auf die Frage, ob Petrus jemals in Rom gewesen ist und hier den Martyrertod erlitten hat, keine eindeutige Antwort geben. Schaut man sich den Kontext an, dem dieser Abschnitt entnommen ist, dann wird schnell klar, dass Clemens gar nicht beabsichtigte, einen Martyrerbericht zu verfassen, sondern er wollte den zerstrittenen, in Parteien aufgespaltenen Gemeinden von Korinth an ausgesuchten Beispielen verdeutlichen, dass Eifersucht, Neid und Streit Entwicklungen begünstigen, die sie in höchste Gefahr bringen, und wie man in Rom erlebte, im Martyrium enden können.
Aber noch eine andere Erkenntnis lässt sich aus diesem Abschnitt herauslesen: Petrus und Paulus traten zur Zeit ihres Wirkens und im darauf folgenden Jahrhundert nicht als die Lichtgestalten in Erscheinung, zu denen sie die späteren Generationen verklärten. Und das verwundert um so mehr, als es gerade Paulus war, der sozusagen als ‚Chefdenker’ durch seine Theologie und seine ausgedehnten Reisen den Grundstein für die Weltkirche legte, zu der er die von Jerusalem ausgehende Bewegung führte. Aus Sicht der damaligen Zeit waren die beiden nichts anderes als Zeugen und Boten des auferstandenen Christus, den zu bekennen zu ihrem unerschütterlichen Credo gehörte, an dem sie ihr Leben ausrichteten und aus dem sie ihre Motivation zogen, bis an die Grenzen der Erde gehen. So erklärt sich, warum allmählich die Erinnerung an die Stätten ihres Auftretens verblasste und erst durch die Legendenbildung im dritten Jahrhundert aufblühte.


Das Zeugnis des Caius (um 200) - Trumpfkarte im Puzzle der Beweisführung

Zu guter Letzt sollte uns ein Auszug aus dem schriftlich niedergelegten Dialog des Presbyters Caius mit Proclus beschäftigen, den man auf das Jahr 200 datiert. Da heißt es: „Die Trophäen (τρόπαια – tropaia) der Apostel kann ich zeigen. Denn gehst du auf den Vatican (in Vaticanum) oder an die Straße nach Ostia (ad Ostiensem viam), so wirst du die Trophäen derer finden, die diese Kirche gegründet haben.“
Hätten wir nur diese eine Information, gäbe es für die Lokalisation der beiden Apostelgräber kein Problem; denn dann stünde fest, daß Konstantin die erste Basilica an dem Ort errichten ließ, den man hundert Jahre früher für das Grab des Petrus gehalten hat und an dessen Echtheit es nicht den geringsten Zweifel gab. Wir sollten an dieser Stelle nicht versäumen, einen Blick in die Annalen des Tacitus (Annales XV, 44) zu werfen, der uns in drastischen Bildern das grausame Spektakel schildert, dem die ‚Chrestianer’ während der Christenverfolgung unter Nero zum Opfer fielen. Eigentlich war es ja mehr der Vollzug eines spontanen Hinrichtungsbefehls als die konsequente Umsetzung systematischen Nachstellens: der Kaiser (princeps) selbst, also Nero, wollte dem Gerücht, er habe den verheerenden Brand gelegt, der große Teile Roms verwüstete, dadurch entgegentreten, dass er den Christen die Schuld anlastete und an ihnen die ‚ausgesuchtesten Strafen' (quaesitissimis poenis adfecit) praktizieren wollte. Denn schon lange standen sie im Verdacht, ‚den Hass gegen das Menschengeschlecht’ (odium humani generis) zu schüren. Nicht nur die wurden ergriffen, die sich öffentlich zu Christus bekannten (correpti qui fatebantur), sondern eine ‚ungeheure Zahl’ (multitudo ingens) von Leuten, deren Namen man preisgegeben hatte. Zum Spott der Leute steckte man sie in Tierfelle (ferarum tergis contecti), um sie dann von Hunden zerfleischen zu lassen, oder man schlug sie ans Kreuz (crucibus adfixi), um nach Einbruch der Dunkelheit als ‚nächtliche Beleuchtung’ eine letzte Zurschaustellung zu erfahren (ubi defecisset dies in usu nocturni luminis urerentur). Für dieses Schauspiel hatte Nero seine Gärten geöffnet (hortos suos ei spectaculo Nero obtulerat).

Fasst man diese beiden Angaben zusammen, sieht man sich einer Reihe von Fragen konfrontiert, die gestellt werden sollten, ohne aber im Gegenzug befriedigende Antworten geben zu können.
1. Was hat Caius unter ‚tropaion’ verstanden, das im ursprünglichen Sinn Siegeszeichen (Siegesdenkmal) bedeutet: eine Grabstätte, wie Eusebius von Caesarea meinte, oder ist es eine Gedenkstätte in Form einer Aedicula (Wandvorbau bzw. Nische, deren Front einem Tempel ähnlich sieht), die an den Stellen errichtet wurden, wo man das Martyrium der beiden Apostel vermutete - also eine auf dem Gräberfeld am Mons Vaticanus und die andere an der Straße nach Ostia?
2. Wieso wusste Caius so genau, dass es sich bei diesen Gräbern um die Ruhestätte der beiden Apostel Petrus und Paulus handelte, obwohl doch fast 150 Jahre nach deren Tod die Erinnerung an ihre Aufenthaltsorte längst verblasst war?
3. Und hatten diejenigen Christen, die dem Furor durch Neros Schergen entronnen waren, Gelegenheit, die beiden Toten bzw. deren verstümmelte Überreste zu bestatten? Oder hatte man sie vielleicht doch auf römische Weise ‚entsorgt’, indem man sie einfach in den Tiber warf oder in einem Massengrab verscharrte?

Trotz aller Einwände und Fragen soll nicht der Eindruck erweckt werden, als bereite es mir ein besonderes Vergnügen zu polemisieren und eine über Jahrhunderte gewachsene, auf einer soliden Basis ruhende Glaubenskultur durch ein paar ‚ätzende’ Anmerkungen bloßzustellen. Auf Grund der spärlichen literarischen und archeologischen Befunde lässt sich eben die Anwesenheit des Petrus in Rom und die genaue Lokalisation der beiden Apostelgräber nicht mit absoluter Sicherheit nachweisen. Die Indizienlage ist so komplex und so verworren, dass es geboten ist, die in der Weihnachtsbotschaft von 1950 verkündete Behauptung aus dem Munde des damaligen Papstes Pius XII: „Das Grab des Apostelfürsten ist wiedergefunden worden.“ mit Skepsis und Zurückhaltung zu betrachten. Ohnehin bin ich davon überzeugt, dass es für einen 'strammen' Katholiken zweitrangig ist, ob er in der heutigen Peterskirche über den Gebeinen des Petrus niederkniet oder nicht. Für ihn ist und bleibt sein Grab das Tropaion des römischen Papsttums, das im Bewusstsein apostolischer Vollmacht durch alle Zeiten hindurch für einen Glauben steht, der als Vermächtnis auf die beiden Säulen der Kirche – Petrus und Paulus – zurückgeht und der bis heute Ärgernis und Geheimnis zugleich geblieben ist: dass dieser Jesus von Nazareth verwandelt wird zum Christus der am Jüngsten Tag, dass mit ihm als Ausdruck göttlichen Willens und Macht die Herrschaft Gottes anbricht, die alles menschliche Begreifen übersteigt; verborgen hinter einem Vorhang des Unbekannten und Unbenannten liegt es an uns, den Zipfel seines Saumes zu lüften, wenn wir den Hauch einer vagen Vorstellung von dem verspüren wollen, was Jesus als das Reich seines Vaters, als ‚Reich Gottes’, als Basileia tou Theou (βασιλεία τοῦ θεοῦ) bezeichnet: es ist nicht identisch mit einer bestimmten Herrschaftsform und bezieht sich auch nicht auf ein bestimmtes Territorium, sondern es ist ein Synonym für die Gottesherrschaft schlechthin. Unsere sprachlichen Kategorien reichen nicht aus, sie zu beschreiben; sie kann nur in Bildern, in Gleichnissen verheißen werden, genau so wie es Jesus im Evangelium getan hat, das für den Zweifelnden, den Skeptiker eine Fata Morgana utopischen Denkens ist, für den Glaubenden der ‚Vorgeschmack’ auf eine letzte Wirklichkeit und für die Kirche eine nie versiegende Quelle, aus der sie ihre Glaubenszuversicht schöpft und die Kraft, die frohe Botschaft bis ans Ende der Welt zu tragen.


Das Reich Gottes - keine Fata Morgana, sondern Herrschaft der Zukunft

Bei der globalen Ausbreitung, auf die sie heute zurückblickt, vergisst man allzu leicht, dass sie aus einer kleinen, unscheinbaren Bewegung hervorgegangen ist, die sich nach Ostern rasch entwickelte und die Länder des Mittelmeerraumes mit einem Netz zahlreicher Gemeinden überzog; daß sie entstanden ist aus einer Allianz all derer, die das Ende der Menschheit und ihrer Geschichte erwarteten und die im Evangelium Jesu Christi den Horizont der Hoffnung und Befreiung aufgehen sahen, weil sie an eine Zukunft glaubten, die der Herrschaft Gottes vorbehalten ist und die in der Vorwegnahme ihrer Realität durch die Auferstehung eine erste Bestätigung erfahren hatte. In ihrem Denken stand das Reich Gottes für den Sieg des Lebens über den Tod, für den Sieg des Lichts über die Mächte der Finsternis, für den Sieg der Freiheit über Willkür und Schikane, für den Sieg des Friedens über Unterdrückung und Versklavung, für den Sieg der Wahrheit über Lüge und Heuchelei, für den Sieg der Ehrlichkeit über Arroganz und Selbsttäuschung, für den Sieg der Hoffnung über Ängste und Zweifel; es stand aber auch für die Einkehr in die Mitte, den Ursprung dessen, der den Namen Gott trägt - jedoch kein Gott, der als Weltenlenker oder Richter in majestätischer Unnahbarkeit oder als einsame, allem Irdischen entrückte Monade nur mit sich selbst beschäftigt ist, sondern ein Gott mit vielen mutmachenden ‚Eigenschaften’: der befreit von Schuld, Schwachheit und Tod, der uns sein menschlich-gütiges Antlitz zeigt, indem er Anteil nimmt an unserem Schicksal, der sich für uns erniedrigt und hineingesenkt hat in unsere Existenz, um uns seine Nähe, seine Zuneigung (‚inclinatio’) spüren zu lassen und dem wir auf Augenhöhe im Du begegnen dürfen. Ein Gott der Vergebung, nicht der Rache, des Nachtretens (anders als es jetzt in der Wulff-Affaire passiert, wo die Presse gnadenlos jedes noch so pikante Detail einer vermeintlichen oder tatsächlichen Gefälligkeit aufdeckt, um es einer sensationslüsternen Öffentlichkeit zu präsentieren – übrigens bei der Niederschrift meiner handschriftlichen Aufzeichnung merke ich, wie lange diese Angelegenheit bereits zurückliegt, die nach meinem Urteil nicht einmal eine Fußnote in der Geschichte der Bundesrepublik wert ist, und die mich daran erinnert, dass ich den Namen dieses Präsidenten schon fast vergessen habe, weil in der öffentlichen Wahrnehmung die Persönlichkeit seines Nachfolgers die Vergangenheit längst überstrahlt hat.), sondern ein Gott, der nicht rückwärtsgewandt, alte Hypotheken aufrechnet, sondern vorwärtsgerichtet im Vertrauen auf einen alles verändernden Augenblick und eine väterliche Nachsicht einen Neuanfang und eine Befreiung auslösen kann, wie sie der Verlorene Sohn erfahren durfte, der sich nach einem Leben der verpassten Chancen und des sozialen Abstiegs in die aufnahmebereiten Hände seines Vaters fallen ließ.


Ich aber sage dir: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreiches geben; was du auf Erden binden wirst, wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein.“ [Matthäus 16, 18]

Hält man sich ganz strikt an die wortwörtliche Bedeutung dieser wohl umstrittensten Stelle des ganzen NT, kann es nach meiner Einschätzung, die sich in mancherlei Hinsicht nicht einfügen lässt in die Argumentationskette der katholischen Theologie, nur eine Deutung geben: dass nur Petrus, der Apostel und Zeuge des irdischen und auferstandenen Jesus gemeint ist, nicht ein Bischof, nicht ein Papst oder gar die römische Kirche. Er ist der Fels, der über dem Fundament der Zwölf, die die ‚Sache Jesu’ fortsetzen sollen und aus deren Geist die zukünftige Kirche die Rechtfertigung ihrer Existenz, ihres Dienstes für die Welt herleitet, besonders hervorragt. Ihn, nur ihn, hat Jesus ausgewählt, der Erste zu sein, der die Idee der christlichen Ecclesia, der sich um Gott versammelnden Gemeinde, öffentlich macht, oder um im Bild zu bleiben, er ist der Fels, der Grundstein einer Kirche, deren ‚Laufzeit’ von Jesus nicht beschränkt wird, deren Erbe von Generation zu Generation weiter getragen wird, und die sich dem Vorbild des Petrus verpflichtet weiß, nämlich den Glauben aus innerster Überzeugung, aus einem unwiderstehlichem Verlangen heraus zu bekennen und den Geist des Evangeliums unverfälscht zu bewahren. Ohne innere Ordnung, ohne klare Regelungen, ohne feste Prinzipien – nur den Gedankenspielen selbsternannter Propheten oder profilierungssüchtiger Kirchenoberen ausgeliefert – wäre sie schon frühzeitig zum Scheitern verurteilt gewesen. Dem vorzubeugen hatte Jesus an diesem stillen, vom Alltagstrubel abgeschirmten Ort in der Nähe von Caesarea Philippi die Gelegenheit wahrgenommen, dem Petrus die Schlüssel des Bindens und Lösens – die Symbole verantwortlicher Leitung und leitender Verantwortung – zu überreichen. Damit war er berechtigt, Entscheidungen zu treffen – befürwortend oder verwerfend, Zustimmung gewährend oder verweigernd - , die darauf ausgerichtet waren, die noch sehr fragile Allianz der auf Christus und sein Wiederkommen Hoffenden zusammenzuhalten und sie in ihrer Glaubenshaltung zu ermutigen und zu unterstützen, und die ihre Gültigkeit behalten sollten bis ans Ende der Zeiten, dessen apokalyptischer Horizont sich schon ankündigte in den Vorstellungen vom Untergang der Welt, die damals in den Gemütern des Volkes Israel tief verwurzelt waren.
Von daher gesehen war die Kirche Jesu Christi in den ersten Tagen eine Bewegung der Endzeit, der überschaubaren Verweildauer, bei der nicht im Ansatz zu erkennen war, dass sich daraus einmal ein Herrschaftssystem mit einer straff geführten Hierarchie und einer auf Effizienz getrimmten Organisation entwickeln würde. Folglich konnte sich die Übertragung der Schlüsselgewalt nur auf Petrus beziehen, nicht auf einen Nachfolger. Von Anfang an gehörte er zu den engsten Vertrauten, die Jesus geradezu schicksalhaft an sich gebunden hatte, und seine Treue wurde belohnt durch die Aufnahme in den Kreis der zwölf Apostel: dieses Amt war einmalig, nicht auf andere übertragbar, denn Apostel konnte nur sein, wer den Weg Jesu von der ersten bis zur letzten Stunde mitgegangen war: vom ersten öffentlichkeitswirksamen Auftritt in Galiläa, von den Auseinandersetzungen mit seinen Kritikern, von den Wanderungen durch die südlichen Landschaften Palästinas (Samarien / Judäa), von seinen für die Glaubensentscheidung so bedeutsamen Wundertaten, von seinem triumphalen Einzug in Jerusalem, der bald darauf die Gefangennahme im Garten Gethsamani, die Verurteilung zum Tod durch Pontius Pilatus und die Hinrichtung am Kreuz von Golgotha folgten, bis hin zur unfassbaren, die menschliche Vorstellungskraft sprengenden Auferstehung am dritten Tag nach seiner Grablege. Auf Petrus, den Apostel, der als Fels sichtbar aus dem Fundament der Zwölf herausragt, hat Jesus seine Kirche gebaut und nicht auf einen sperrigen, alles blockierenden Felsklotz, auf dem sich nur ein kirchliches System ‚breit’ machen kann, das mit strenger Hand und eiserner Disziplin einen zum unbedingten Gehorsam verpflichteten Klerus hinter sich weiß, das um sich selbst kreisend verstrickt ist in einem unentwirrbaren Geflecht von Riten, Vorschriften und Lehren, und das es schließlich versteht, in geradezu absolutistischer Weise Macht über andere auszuüben.


Das Problem der Nachfolge

Nachdem es doch nicht bei der kurzen Übergangszeit von der Auferstehung Jesu bis zu seiner Wiederkunft als Christus am Tag des Gerichts geblieben ist, und nachdem die kosmische Katastrophe des Weltuntergangs ausgeblieben war („Die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, wie wenn ein Feigenbaum seine Früchte abwirft, wenn ein heftiger Sturm ihn schüttelt. Der Himmel verschwand wie eine Buchrolle, die man zusammenrollt, und alle Berge und Inseln wurden von ihrer Stelle weggerückt.“ – Offb. 6, 13 – 14), musste sich die Kirche neu orientieren und Überlegungen anstellen, welchen zukünftigen Kurs sie einschlagen und wie ihre Leitung beschaffen sein sollte. Dass sie die Geschicke in die Hände von Bischöfen unter dem Primat eines Papstes legte, lässt sich nicht aus den Zeugnissen der Schrift ableiten: es gibt weder ein göttliches Recht noch einen erkennbaren Hinweis auf eine Einsetzung durch Jesus Christus. In Mt 16, 17 wird die Schlüsselgewalt und damit die Vollmacht, im Geiste Jesu zu entscheiden, nur auf Petrus übertragen und nicht auf einen Nachfolger. Was auch nachvollziehbar ist, denn als Zeuge Jesu, als Zeuge seines Lebens und seiner Auferstehung, war er unersetzbar, einmalig und konnte nicht in jeder Generation neu ‚erfunden’ werden.
Wollte die junge Kirche ihre Anfangserfolge nicht aufs Spiel setzen und nach ihrem ersten Frühling nicht gleich in der Versenkung verschwinden, musste sie für die Leitung eine Lösung finden, die sich das Vorbild des Felsenapostels zum Maßstab nahm und die sich verpflichtete, allein der Wahrheit zu dienen und nicht selbsternannten Heilsbringern, die nichts anderes im Sinn haben, als sich mit ihren verqueren Ideen und willkürlichen Entscheidungen selbst zu inszenieren.


Die Katholische Kirche und das 'Gründungswort' von Mt 16,17

Von Anfang an aber hat die Katholische Kirche das Logion von Mt 16, 17 als Gründungswort ausgelegt, indem sie argumentiert, die an Petrus übertragene Vollmacht müsse in der Kirche sichtbar bleiben, da sie sich selbst als Ort begreift, an dem das Wirken Jesu Christi sichtbar fortgesetzt wird und das Wort Gottes lebendig bleibt. Folglich ist das Petrusamt – also das Verwalten der Schlüssel im Sinne einer personalbezogenen Führung – die sichtbare Umsetzung dessen, was im Auftrag Jesu zum Ausdruck kommen soll. So wie ein Haus auf einem festen Untergrund errichtet wird, so wie zu einer Schafherde ein Hirte gehört, so braucht auch die Kirche ein solides Fundament und einen Oberhirten, der die apostolische Tradition weiterführt, die in Caesarea Philippi mit Petrus begonnen hat, dem aus dem Kreis der Zwölf herausragenden Apostel und Zeugen der Auferstehung und dem, wie die Kirche ohne eine Spur von Selbstzweifel versichert, ersten Bischof von Rom, obwohl für diese Annahme jegliche Beweismittel in den neutestamentlichen Quellen fehlen. Hier schweigt die Schrift. Zufall oder Absicht? Wäre es Absicht, dann könnte man doch das Schweigen als Indiz deuten, dass die Art der Kirchenführung, ob hierarchisch gegliedert oder vielleicht ganz anders geordnet, sich in der Startphase der noch jungen Gemeinde Christi nicht als 'großes' Thema aufgedrängt hat, so dass zu keinem Zeitpunkt Handlungsbedarf bestand und die sich als 'Volk Gottes' bzw. als 'Gemeinschaft der Heiligen' verstehende Bewegung vor einem Sturm kontroverser Auseinandersetzungen verschont blieb. Folgt man dieser Gedankenlinie weiter, dann ließe sich die These wagen (die übrigens mein Wohlwollen fände), dass jeder Epoche, jeder Generation zugestanden werden darf, eine Leitung zu wählen, deren Anforderungsprofil den Kriterien einer zeitgemäßen Kirche genügt.


Der Papst und die Apostolische Sukzession

Um aber den päpstlichen Primatanspruch zu legimitieren, um aber Rom zum Zentrum des orbis catholicus zu erklären, musste die Katholische Kirche über das Zeugnis der Schrift hinausgehen und sich auf Angaben aus dem späten zweiten Jahrhundert berufen, die behaupten, der Sonderstatus Roms als apostolische Gemeinde (als sedes apostolica) gehe auf den Felsenapostel Petrus zurück (und wie ich meine auch auf den ‚Völkerapostel’ Paulus, ohne dessen missionarisches Wirken das Aufblühen christlichen Lebens nicht eine so rasante Entwicklung genommen hätte) – für die Kirche Beweis genug, um darauf die ununterbrochene Kette der römischen Bischöfe und damit des römischen Primats (die sog. Apostolische Sukzession) zu stützen, was den ehemaligen Dogmatikprofessor Ratzinger zur folgenden abstrakten Bemerkung veranlasste: „Die Nachfolge im Sinne der successio apostolica ist die Gestalt der Überlieferung, die Überlieferung ist der Gehalt der Nachfolge.“
Aber, so muss man sich fragen, beruht die apostolische Nachfolge einzig und allein auf dem Nachweis einer chronologisch exakt verifizierbaren Sukzessionsreihe, oder kommt es nicht vielmehr auf den Geist an, aus dem heraus die Kirche ihre apostolische Verantwortung wahrnimmt? Freilich keine Kirche, die sich am liebsten nur selbst bespiegelt und beweihräuchert, die sich verfängt in einem System dogmatischer Lehrsätze und moralischer Prinzipien, sondern eine Kirche, die auf die Menschen zugeht, die sich um ihre Belange kümmert, und die sich stark macht für die Sache Gottes, eine Kirche, die nie vergessen sollte, dass sie eine Einrichtung auf Zeit ist, deren apostolische Vollmacht am Jüngsten Tag, dem Tag des Gerichts, für immer erlischt.
 
Zuletzt bearbeitet:
Pietro Perugino: Die Schlüsselübergabe an Petrus - 4. Teil

Irdische Zeit und Ewigkeit


Noch scheint die richtende Wiederkehr Christi unendlich weit entrückt zu sein, noch ist unvorstellbar, dass mit ihr eine andere, unsichtbare, im Verborgenen liegende Wirklichkeit anbricht, die alle sichtbaren Wirklichkeiten hervorgebracht hat und die dem unmittelbaren Begreifen des Menschen so gänzlich entzogen ist; noch mutet die Wiederkunft Jesu Christi geradezu utopisch an, da nur in der biblischen Deutung vom Ende der Welt existent, aber nicht in unserem eigenen Efahrungshorizont; noch tun wir so, als drehe sich das Rad der Geschichte weiter wie bisher, als sei die Vorankündigung der eschatologischen Großereignisse ein Relikt neutestamentlicher Weltsicht, sozusagen das geistige Vermächtnis des apokalyptischen Sehers Johannes. Doch sollten wir uns davor hüten, die Botschaft vom Weltende als Chimäre religiöser Schwärmerei abzutun; wir sollten sie als das betrachten, was biblisch gemeint ist: nämlich die Vollendung des göttlichen Schöpfungsplanes. Und die Kirche sollte nicht aufhören, den Menschen ins Gedächtnis zu rufen, dass ihre Zeit begrenzt ist und abgelöst wird von der Zeit Gottes als ein unerwartetes Ereignis, das von außen auf sie zukommt – wobei man die Vorstellung aufgeben sollte, dass die göttliche Zeit nichts anderes wäre als eine lineare Verlängerung der irdischen Zeit ins Unendliche, Uferlose bzw. ins ewig Metaphysische, sondern sie ist zeitenthobene Endgültigkeit, die wie Rahner zu Recht bemerkt, nicht nach dem Tod, sondern durch den Tod 'getan' wird soz. als ‚gereifte Frucht der erlebten Zeit’, ist Vollendung der Zeit, in der es kein Vorher und Nachher mehr gibt, sondern nur noch Gleichzeitigkeit, zu der alle Zeiten verschmelzen. Es ist das (unausweichliche) Treten eines jeden von uns vor Gott, entweder als das unmittelbare Eintreten in die Mitte seines Wesens, als das Überwältigtsein von der todesüberwindenden Kraft seiner Liebe, seiner Selbstmitteilung oder aber es bedeutet totale Verlorenheit - Gottesfinsternis, wenn man so will, die resultiert aus eigener Selbstverschließung, aus dem Rückzug auf sich selbst, aus gewollter Isolation, die für die Liebe Gottes unerreichbar bleibt. Damit schließt sich der ‚circle of life’, den wir alle durchlaufen werden – so oder so. Wenn auch die Wege des einzelnen unterschiedlicher nicht sein können, verbirgt sich hinter diesen Gedanken bei wohlwollender Beurteilung ein zutiefst christliches Gottesbild, in dem wir einen Gott wahrnehmen, der unsere kreatürliche Daseinsweise erst ermöglicht, der die Nähe zu uns bewahren will, indem er sich verschenkt und ‚klein’ macht für uns bis hin zur tiefsten Erniedrigung durch seine Hinrichtung am Kreuz, und der uns, wenn wir am Ende des Lebens sozusagen den ‚Nullpunkt’ unserer biologischen Existenz durchschreiten werden, hineinverwandelt in eine neue, unaufhebbare Wirklichkeit, die zu erkennen immer Geheimnis bleiben wird, und die uns nur die Option lässt, sie schweigend an-zu-erkennen.


Die Befindlichkeit von heute - Spiegel und Spielart des ewig Bösen

Und ich meine, die Kirche sollte nicht zögerlich sein, mahnend ihre Stimme zu erheben und darauf zu verweisen, dass wir als menschliche Wesen den Geheimnissen der Welt auf der Spur und der uralten paradiesischen Versuchung erlegen, wie ‚Gott zu sein’ (eritis sicut Deus), dazu geschaffen sind, Grenzen zu überschreiten und damit das Tor zur Transzendenz aufzustoßen, indem wir auf unserem geistigen Feuerflug von Horizont zu Horizont eilen, bis wir an die Schwelle des Unnennbaren, des Verborgenen, des Unergründbaren gelangen – ein Bereich, der allein Gott vorbehalten ist und immer bleiben wird.
Anstatt sich auf diese Fähigkeiten zu besinnen, anstatt nach Höherem zu streben, wählen wir den bequemen Weg und richten uns gemütlich ein in der Banalität des Alltags. Unsere ganze Kraft konzentrieren wir auf die Lösung der jetzt anfallenden Probleme. Und mir scheint, daß heute die Stimme der Kirche zu schwach geworden ist, um im Donner der Zeit zu bestehen und um den Panzer unseres Egoismus zu durchbrechen. Ohne zu merken verfangen wir uns immer tiefer in den Schlingen des Bösen, in der 'Sünde', über deren Tiefendimension wir uns keine oder nur wenig Gedanken machen:

- zu unersättlich unsere Gier nach Macht, Geld, nach beruflicher und sozialer Karriere, nach Eitelkeiten und Genuss. Wehe, wenn aus Erfolgen Misserfolge werden, wenn (vermeintliche) Superleistungen als Flops, als Luftnummern enttarnt werden! Der Fall ins Bodenlose, ins Abseits ist unaufhaltsam, ist gnadenlos.

- zu rasant, zu gigantisch und zu aufgebläht das Wirtschaftswachstum, das zwar die Augen der Bosse zum Leuchten bringt und ihren ungezügelten Appetit weiter antreibt, aber auch die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Hass und Verachtung, zwischen Neid und Arroganz vergrößert, und das Gesicht unserer Städte verwandelt in seelenlose Steinwüsten voller Lärm, Schmutz und Gestank.

- zu überzogen unser Hunger nach immer mehr Energie und nach den letzten Rohstoffen unseres Planeten: ist es noch zu verantworten, daß wir die Lager der Erde, die zu füllen die Natur Jahrmillionen gebraucht hat, in wenigen Jahrzehnten ausplündern, so dass für die zukünftigen Generationen nichts mehr zum Leben übrig bleibt?

- zu riskant das Casino des wilden Spekulierens, wo im Zeitalter des Computerhandels riesige Geldströme über alle Kontinente hin- und herfließen und beim ‚Verzocken’ schwindelerregend hohe Verluste entstehen, die die Banken nur allzu gerne ‚sozialisieren’ wollen. Und Hand in Hand mit den Finanzspekulationen gehen die Staatsschulden, in die (fast) alle Industrieländer verstrickt sind als Resultat einer unsoliden Haushaltsführung. Rettungsschirme, Absichtserklärungen, ‚Zeit gewinnen’ – mit dieser Strategie will man die Krise überwinden. Der gute Wille allein reicht nicht, es müssen Taten folgen. Ansonsten droht der Offenbarungseid.

- zu ungestüm wie eine herabrollende Lawine die Inflation der schlechten Manieren und Sitten als Folge falsch verstandener Selbstverwirklichung! Was heute zählt, ist das Ausleben seiner Gefühle, das Zurschaustellen seines Innenlebens - am besten vor laufender Kamera in den nachmittäglichen Fersehshows, die ein Millionenpublikum erreichen; ist Konsum (wo es z. B. beim Run auf die neusten Smartphones und PC-Tablets kein Halten mehr gab, weil der Zwang, immer auf dem aktuellen Stand der Technik sein zu müssen, die Begehrlichkeit nach dem Ramsch der modernen Zivilisation beflügelt); ist Urlaub und Feiern und der unwiderstehliche Drang, immer an Orten sein zu müssen, wo ‚etwas los’ ist, wo es nie langweilig wird, weil es so ‚cool’ ist, mit anderen in geselliger Runde seine Zeit zu verbringen oder besser gesagt ‚totzuschlagen’; ist diese grassierende, manchmal schon provokativ wirkende Oberflächlichkeit des Alltags, die wie selbstverständlich gelebt wird und deren Spiegelbild uns begegnet in diesem zähen, unappetitlichen Einheitsbrei der gegenwärtigen 'Fernsehkultur' (Talkshows, Quizsendungen, Dokusoaps, Hitparaden aller Art, Familienserien usw.) und in der ständigen Präsenz in den Internetforen und sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter usw. und wo der Austausch von Belanglosigkeiten ‚Kult’ ist. In diesen Kontext passt auch die Antwort eines jungen Mann, der auf die Frage, was für ihn das Wichtigste im Leben sei, dem Reporter ins Mikrofon brüllte: "Geld verdienen und saufen!" Blitzt nicht hier die Welt der Spießer von morgen auf?
Es war Anfang der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts, als der damalige Wirtschaftsminister L. Erhard seinen Appell vom 'Maßhalten' ("Das ist vielmehr das Übel, dass wir alle die Maße für die eigene Leistung - und das heißt zugleich auch für das Mögliche - verloren haben.") an die deutsche Öffentlichkeit richtete, und damit ein vielfaches Echo auslöste. Wie recht er hatte! Stimmt es denn nicht, dass heute die über Generationen gewachsenen Werte und Normen nichts mehr gelten und einer subjektiven Beliebigkeit Platz gemacht haben, in der nur noch ein Maßstab zählt, nämlich das 'Ich und seine Gelüste' (Papst Benedikt XVI, Osservatore Romano April 2005), und durch den unsere Ansprüche bis ins Maßlose gesteigert werden?


Wo Es war, soll Es bleiben.

Wer erinnert sich nicht an die wohl berühmteste Kurzformel der Psychoanalyse „Wo Es war, soll Ich werden“, die dem genialen Geist S. Freuds zu verdanken und in seinen ‚Vorlesungen zur Einführung in die Psycholanalyse’ nachzulesen ist? Ich habe sie immer als Emanzipationsmaxime gedeutet und daraus die Verpflichtung abgeleitet, mich weiter zu entwickeln und an mir zu arbeiten. Wenn ich unsere Jugendlichen von heute betrachte, kommen mir Zweifel, ob diese Zielvorstellung auch schon bei ihnen angekommen ist, oder ob sie nicht vielmehr nach dem Grundsatz handeln „Wo Es war, soll Es bleiben“? Ihre Selbstverwirklichung kennt nur eine Richtung, für die sich der Begriff 'Bedürfnisbefriedigung' am besten eignet. Und in meiner Wahrnehmung verfestigt sich der leise Verdacht, dass sie – einem zwanghaften Reflex folgend und das Ende nicht bedenkend – leichtfertig mit ihrem Vorrat an Zeit umgehen und ihn ohne Rücksicht auf Verluste verbrauchen: auf Fêten, in Discos, in den Vergnügungsmeilen rundum den Ballermann, am Balaton oder am Goldstrand des Schwarzen Meeres, wo der Alkohol in Strömen fließen muss und ein ‚Date’ nach dem Gipfel der Lust verlangt; oder auf Popkonzerten, wo sie rhythmisch klatschend einstimmen in das Gejohle einer aufgeheizten Masse.
Wundern wir uns, dass sie auf eine Lebensstrategie setzen, deren Ziel es ist, sich möglichst von Arbeit und Verantwortung fernzuhalten, und die bei ihnen 'voll aufgeht', wenn stattdessen Konsum und Vergnügen an die oberste Stelle ihrer Prioritätenliste rücken? Wieviele von ihnen sind den Verlockungen und Versuchungen unserer Zeit schutzlos ausgeliefert ("Sie zahlen 20% des Kaufpreises an. Den Rest finanzieren Sie später. Wir können Ihnen auch eine Ratenzahlung zu günstigen Konditionen anbieten. Erkundigen Sie sich ganz unverbindlich!")! Wundern wir uns noch, wenn sie sich volldröhnen mit den neusten Kreationen, die in der Musikszene nachgefragt sind, wenn sie Stunden um Stunden vor dem Bildschirm verbringen, um in Chatrooms ihr Innenleben bis ins Kleinste auszubreiten oder genüsslich über andere herzuziehen, oder wenn sie ihre Aggressionen in Ego-shootings abreagieren?
Das wird spätestens in der Schule manifest, zeichnet sich aber eigentlich schon früher ab, wenn man sich mal in ihrem häuslichen Milieu umschaut. Wer bildungsresistent eingestellt ist, wer sich selbst keine Ziele setzt und nur der Dumpfheit des Alltags überlässt, sollte wissen, dass die Träume von einem schönen Leben Seifenblasen ähneln, die zerplatzen, wenn sie mit der rauhen Wirklichkeit in Berührung kommen. Schon vor einigen Jahren hatte ich in einer Rede, die nach einem langen Berufsleben als krönender Abschluss geplant war und die mein damaliger Chef, nachdem ich ihm vorab mein Manuskript zu lesen gegeben hatte, nicht durchgehen ließ mit der Begründung, sie sei zu lang und passe nicht in den Rahmen einer Entlassfeier, folgende Gedanken niedergeschrieben:

"Und so bin ich im Laufe der Jahre zunehmend zur Erkenntnis gelangt,
dass [3.] von der Schule auch noch eine großzügige Gratifikation erwartet wird: schließlich sollen wir Lehrer dafür sorgen, dass aus den Kindern etwas Anständiges wird und am Ende ein ordentlicher Abschluss herauskommt – selbstverständlich zu Konditionen, die außerhalb der Schule, in der Arbeits- und Berufswelt, nur ungläubiges Kopfschütteln hervorrufen können, aber bei uns Normalität sind: mit geringstem Arbeitsaufwand will das Gros der hier Lernenden ein Optimum an Leistung und Resultaten erreichen.
Und unter uns gefragt: wer von ihnen ist denn noch bereit, Einsatz zu zeigen und sich anzustrengen, wer ist noch bereit, seinen Horizont zu erweitern, sein Wissen zu vertiefen oder seine Neigungen und Fähigkeiten auszubauen, wer ist noch bereit, den Reichtum einer Sprache zu entdecken, z. B. die Erhabenheit der deutschen Literatur oder die magische Welt des englischen Dramas, in der sogar die „Engel zum Weinen“ gebracht und „die Steine Roms“ zum Aufstand gegen Caesars Mörder beschworen werden, also wer ist zu all dem bereit, der von sich behauptet: „Everything I really need to know I learned from television.“? Wohl treffender als mit dieser Selbstaussage, die ich per Zufall unter der Karikatur einer englischsprachigen Zeitschrift gefunden habe, kann man die Gesinnung vieler unserer Jugendlichen von heute nicht ausdrücken."


Und an anderer Stelle:
"Wo sind wir hingekommen, dass wir die positive Eigenschaft des Denkens verdrängt haben durch eine Kultur negativer Eigenheiten: durch eine Kultur sozialer Kälte und egoistischer Zügellosigkeit, deren Facettenvielfalt die Tiefen des moralischen Werteverfalls schonungslos offenlegt - angefangen von der Raffgier, der persönlichen Vorteilnahme, der Rücksichtslosigkeit und dem gegenseitigen Misstrauen über plumpe Anmache, Beleidigungen und Streitigkeiten bis hin zur öffentlichen Randale; dann durch eine Kultur geistiger Trägheit und Interessenlosigkeit und nicht zuletzt durch eine Kultur von Lernunwilligkeit und Bildungsverdrossenheit? Um sich im Leben zu behaupten, genügt es nicht, seine fünf Sinne zusammenzunehmen, genügt es nicht, die Schule mit nur ganz wenig Proviant an Wissen und Bildung zu verlassen, genügt es nicht, seine neusten SMS abzurufen oder seine geistigen Aktivitäten auf das Surfen im Internet zu beschränken. „Mene, mene, tekel“, heißt es schon im Buch Daniel: gewogen und zu leicht befunden. Wenn wir heute bestehen wollen, wenn wir mehr sein wollen als nur Massenware der Natur (oder living trash), wenn wir das sein sollen, was Aristoteles als zoon logon echon(ζῷον λόγον ἔχον) bezeichnet (also als vernunftbegabtes Wesen), dann können wir auf die Anstrengung des Geistes und damit auf abstraktes Denken nicht verzichten. Denn erst die Abstraktion ermöglicht es uns, Zusammenhänge zu erkennen und zu begreifen, Vorgänge zu analysieren, Wissen zu ordnen und zu verwalten und im richtigen Moment auch abzurufen."

Und was die Vertreter der Erlebnis- und Betroffenheitspädagogik gar nicht gerne hören:
"Zensuren müssen wieder den Namen Zensuren verdienen: weg mit der Inflation der guten Noten, weg mit dieser „Fata Morgana“ ohne Aussagewert.
Zensuren müssen wieder zu Maßstäben zur Bewertung von Lernfortschritten werden, anhand derer ein Schüler sich selbst einschätzen, vergleichen und motivieren kann."



Die Seichtigkeit des Seins ist überall

Aber die Seichtigkeit des Seins geht mittlerweile durch alle Bevölkerungsschichten hindurch; sie hat längst auch die Älteren erfasst, die sich zwar von diesen lauten, nervenaufreibenden und kraftraubenden Openair-Veranstaltungen distanzieren, dafür aber einer moderaten Variante den Vorzug geben. So trifft man sich zu einem ‚Flight’, um im gemeinsamen Wettstreit beim Golfen sein persönliches Handicap zu verbessern; so ist man bereit, viel Geld auszugeben für ein Beethoven-Konzert, das von einem namhaften Dirigenten und seinem Orchester vorgetragen wird; oder man lässt sich auf einer Schiffskreuzfahrt von der erlesenen Kulinarik an Bord verwöhnen (von der manche behaupten, sie sei die Erotik des Alters!) und seine Sinne verzaubern von einem grellen Bühnen- und Showprogramm. Und das Neuste auf diesem Gebiet habe ich einer Werbung aus dem Radio entnommen: da werden Flüge zu so exotischen Destinationen wie Dubai, Rio de Janeiro oder New York angeboten, um in der spektakulären Glitzerwelt der Fremde seine Weihnachtseinkäufe (Christmas-Shopping!) zu erledigen. Ist das nicht irre?


Ausblick

Was aber tun, um dem Fluch, der ‚Diktatur’ der Moderne zu begegnen? Wer in den Evangelien nach einer praktischen Entscheidungshilfe oder einem konkreten Instrument sucht, wird enttäuscht. Die Botschaft des Neuen Testamentes zielt auf Umdenken, auf ein anderes Bewusstsein, auf eine andere Gewichtung der Werte. Liefert man sich den Dämonen unserer Zeit aus, gerät man automatisch in den Teufelskreis von immer mehr Arbeit und einer die Psyche belastenden Befindlichkeit, gerät man in die Tretmühle der von Terminen erdrückten und von rasanten Veränderungen geschüttelten Zeit, gerät man in den Kreislauf der Gier nach Geld, Wohlstand und nach einem Spitzenplatz im gesellschaftlichen Ranking, gerät man in den circulus vitiosus des nie enden wollenden Konsumierens, Verbrauchens und Gewinnstrebens und muss sich behaupten gegen eine unerbittliche Konkurrenz, die das Karussell des Leistungszwangs weiter beschleunigt – bis eines Tages der große Zusammenbruch, der burn-out schlagartig das Leben erschüttert wie ein gewaltiges Erdbeben und sich die Frage nach dem Sinn seines Tuns und der eigenen Identifikation stellt. Aber es geht auch anders, wenn es gelingt, aus dem Gefängnis seiner egoistischen Grundeinstellung auszubrechen, wenn es gelingt, dem Wahnsinnsdruck durch immer größere Arbeitsverdichtung zu entkommen, wenn es gelingt, sich zu befreien von den Strebungen und Süchten einer modernen Gesellschaft, auf denen angeblich unser ganzes irdisches Glück beruht; doch einmal abhängig von ihnen geworden, lassen sie ihr zerstörerisches Gift langsam, aber beständig in uns wirken, und wir merken es erst, wenn es zu spät ist. Nur im Verzicht auf noch mehr Reichtum, auf noch mehr Macht, auf noch mehr Luxus (gibt es nicht eine Obergrenze, über die hinaus sich eine Steigerung der Lebensqualität verbietet?) können wir zu einer inneren Freiheit gelangen, die den Menschen und nicht mehr die ‚Sache’ in den Mittelpunkt rückt und Zeitgewinn bedeutet, für sich selbst und andere, aber auch mehr Gelassenheit, mehr Genügsamkeit, mehr Unabhängigkeit. Sollten wir uns nicht lieber dem anvertrauen, der sich nicht einbinden lässt in die unbarmherzige Dynamik des täglichen Wettbewerbs, der uns eine neue Sichtweise eröffnet auf das, was eigentlich zählt, der uns die Wertigkeit der Dinge so einschätzen lässt, wie sie wirklich sind, der uns zu erkennen gibt, wo unsere Stärken und Schwächen liegen, wo die ‚Diktatur’ des gelebten Alltags an ihre Grenzen stößt, und der uns wie einst Salomo ein weises und verständiges Herz schenken möge, um zwischen Gut und Böse, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden (siehe 1 Könige 3,4 - 15)?
 
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Zwar habe ich zu dieser Tages- (oder vielmehr: Nacht-)Zeit das Meiste aus diesen neuen Beiträgen erst einmal nur überflogen; eine intensivere Lektüre wird folgen müssen. Allerdings ganz kurz schon einmal hierzu: Wie wahr ... wie wahr!
Kein Wunder, daß in einem solchen Klima der Mensch in eine tiefe Identifikationskrise fällt, der von Selbstverwirklichung und Freiheit redet und doch nur um sich selbst kreist, der zu sich selbst finden will und sich doch immer fremder wid, bis die Vereinsamung ihn ganz in Beschlag nimmt. Ihm wird nicht bewußt, daß er auf die falschen ‚Götter’ setzt: auf Konsum, auf die Beliebigkeit im Denken und Tun, die einhergeht mit der Lust zu provozieren, Aggressionen herauszulassen und Tabus zu brechen, auf Freizeit und Vergnügen, auf Verhöhnung des Denkens und gleichzeitiges Eintauchen in virtuelle Welten und schließlich auf die Gier nach dem Geld, die der eigentliche Auslöser für seine Umtriebigkeit ist; ihr sind keine Grenzen gesetzt und längst hat sie schon die Schwelle der Maßlosigkeit überschritten, wodurch die sozialen Gräben immer weiter aufreißen. (...)

Nicht derjenige ist frei, der sich dem Zeitgeist anpaßt und sich freiwillig der Diktatur der Moderne unterwirft; frei wird der, der sich dem einen, wahren Gott und sich seiner alles vergebenden Liebe und Barmherzigkeit anvertraut. So besitzt er ein Meßinstrument, das ihm hilft, Wichtiges vom Unwichtigen zu unterscheiden, seine eigenen Fähigkeiten im Vergleich zu anderen richtig einzuschätzen, sich dem Leistungswahn gegenüber gelassener zu verhalten und Distanz zu wahren zu dem Ramsch, den uns die moderne Zivilisation aufdrängen will. Vielleicht kommen wir dazu, uns neu zu besinnen auf den großartigen Gedanken, der im ‚Te Deum’ des Ambrosius niedergeschrieben so lautet: „In te, Domine, speravi: non confundar in aeternum“.
:thumbup::thumbup::thumbup:
 
Lieber Gaukler,

vielen Dank für Deine positive Rückmeldung. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich diese Überlegungen überhaupt ins Forum stellen sollte, zumal sie sich von meinem eigentlichen Reisebericht weit entfernen und erst recht vom Thema Rom. Ich glaube, ich sollte es bei diesen Ausflügen in Theologie und Gesellschaftskritik bewenden lassen. Die Leser erwarten keine schwere 'Kost', sondern kurze, sachliche Informationen. Manchmal denke ich, da schon tief im Herbst des Lebens angekommen, daß ich schon außerhalb der Zeit stehe, und ich fühle mich ein wenig wie der alte Attinghausen im 'Wilhelm Tell', der zu den Vertretern des Adels sagte: "Ich bin der Letzte meines Stammes."

Viele liebe Grüße
Seneca
 
Die Leser erwarten keine schwere 'Kost', sondern kurze, sachliche Informationen.
Das ist zwar sicherlich richtig; andererseits jedoch kann ja jeder völlig frei bestimmen, wie viel er liest - oder eben über-liest. ;)




Manchmal denke ich, da schon tief im Herbst des Lebens angekommen, daß ich schon außerhalb der Zeit stehe, und ich fühle mich ein wenig wie der alte Attinghausen im 'Wilhelm Tell', der zu den Vertretern des Adels sagte: "Ich bin der Letzte meines Stammes."
Na, dann umso mehr durftest du uns gerne an deiner Altersweisheit ;) teilhaben lassen.
 
Lieber Gaukler,

vielen Dank für Deine positive Rückmeldung. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich diese Überlegungen überhaupt ins Forum stellen sollte, zumal sie sich von meinem eigentlichen Reisebericht weit entfernen und erst recht vom Thema Rom. Ich glaube, ich sollte es bei diesen Ausflügen in Theologie und Gesellschaftskritik bewenden lassen. Die Leser erwarten keine schwere 'Kost', sondern kurze, sachliche Informationen. Manchmal denke ich, da schon tief im Herbst des Lebens angekommen, daß ich schon außerhalb der Zeit stehe, und ich fühle mich ein wenig wie der alte Attinghausen im 'Wilhelm Tell', der zu den Vertretern des Adels sagte: "Ich bin der Letzte meines Stammes."

Viele liebe Grüße
Seneca

Lieber Seneca,
aber es ist doch die ganz eigene Betrachtungsweise eines jeden hier von uns, welche das Forum so bunt macht!

Ich gebe zu, dass es für mich - wie du so schön schreibst - schwere Kost ist, aber das ändert nichts daran, dass ich angefangen habe deinen Bericht nun von Anfang an zu lesen.

Er öffnet ein weiteres Fenster zu einer ganz besonderen Betrachtungsweise dieser wunderbaren Stadt.
 
Cara Pecorella,

Du hast es auf den Punkt gebracht: "Er (der Bericht) öffnet eine weiteres Fenster zu einer ganz besonderen Betrachtungsweise dieser wunderbaren Stadt."

Es freut mich, daß Du Dir Zeit nimmst für meinen Bericht und versuchst, Dich in meine Gedankenwelt hineinzuversetzen.

Liebe Grüße
Seneca
 
Lieber Seneca,
ich habe Deine letzten Postings gelesen und bin ganz gerührt von Deinen tiefgehenden Gedanken!

Seneca schrieb:
Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich diese Überlegungen überhaupt ins Forum stellen sollte, zumal sie sich von meinem eigentlichen Reisebericht weit entfernen und erst recht vom Thema Rom.

Das empfinde ich überhaupt nicht so! Der Ausgangspunkt Deiner Überlegungen ist ja die Sixtina. Die Bilder dieser Kapelle nehmen den Menschen ganz im Blick - von der Schöpfung bis hin zum Jüngsten Gericht. Das hat Michelangelo meisterhaft dargestellt. Die Fresken an den Seitenwänden nehmen das "Zwischendrin" des Menschen wahr, was oft übersehen wird. Wir sind zwischen der Schöpfung und dem Jüngsten Tag und so sind die Bilder an den Seitenwänden der Sixtinischen Kapelle "unsere Bilder" und sie beinhalten unsere Fragen und das seit über 500 Jahren und sie laden uns zum Nachdenken ein, was der Mensch ist und was ihm ausmacht.

Du hast diese Einladung sehr ernst genommen!

Herzlichen Gruß
Padre
 
Zuletzt bearbeitet:
Lieber Padre,

danke für Dein positives feed-back, Deine ermutigenden Worte! Mir ist natürlich klar, daß meine Überlegungen weit über einen normalen Reisebericht hinausgehen. Irgendwie bin ich bei den großartigen Bildern in der Sistina 'hängengeblieben', die mich nicht nur veranlaßten, sie zu beschreiben, sondern auch über meinen Glauben zu reflektieren, dessen 'Wahrheiten' lange verschüttet waren, und die ich erst wieder neu entdecken muß. An diesem Prozeß möchte ich die Leser dieses Forums teilhaben lassen, denn beim Glauben geht es ja ums Ganze, um uns und unsere Beziehung zu Gott. In ihm offenbart sich ja die ganze Tiefe unseres Geisteslebens.
Und wenn man sich schon im Zentrum der Katholischen Kirche befindet, dann sollte man sich auch mit der Person des Petrus beschäftigen und vor allem mit der Frage, ob er tatsächlich in Rom war (denn darauf beruht ja die Apostolische Sukzession) oder ob wir nicht alle Opfer einer Legendenbildung sind.

Dir liebe Grüße von
Seneca
 
Lieber Seneca,

ganz herzlichen Dank für die Fortsetzung Deines Berichtes. Du hälst zu Recht der Gesellschaft den Spiegel vor. Es war sicherlich sehr schwer für Dich, als Du bei der Verabschiedung nicht Deine Worte wählen durftest. Als alleinerziehende Mutter (mein Mann starb als die Jungs 8 und 10 Jahre alt waren) kenne ich sehr wohl die Schwierigkeiten der heutigen Zeit. Dennoch bin ich der Meinung - wie Du ja auch - dass es möglich ist, Kinder auch mit einem hohen moralischem Anspruch zu erziehen. Leider geben Eltern nur zu leicht diese Aufgabe an die - dann überforderten Lehrer- ab.
Ich mußte Deine Worte erst einige Zeit wirken lassen, bis ich darauf antworten konnte. Allerdings kann und möchte ich mich als Agnostikerin nicht zu den Glaubensfragen äußern.

Liebe Grüße und in der Hoffnung auf viele denkanstoßende Beiträge
dentaria
 
Liebe dentaria,

auch Dir ein herzliches Dankeschön für Deine liebevoll begleitenden Worte. Ich kann mich noch sehr gut an den Augenblick erinnern, als ich in das Arbeitszimmer meines Chefs gerufen wurde und er mir mitteilte - wirklich sehr kollegial und sehr fair - , daß er meiner Rede in der vorliegenden Form nicht zustimmen könne. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, und ich wollte erst gar nicht begreifen, warum es mir nicht erlaubt sein sollte, mich auf meine ganz persönliche Art von der Schulgemeinde zu verabschieden, zumal ich über 30 Jahre an unserer Schule unterrichtet hatte. Zitat aus der Rede:
"Über dreißig Jahre war ich hier an dieser Schule tätig, und da kann schon leicht der Eindruck entstehen, als gehöre ich zum lebenden Inventar bzw. man sei ein lebendes Fossil, das – wenn es noch eine Zeitlang so weitergehe – endlich einen Platz im Kuriosenkabinett verdient habe.
Wo ist die Zeit geblieben? Wie viele Schülergenerationen hat man kommen und gehen sehen? In Anlehnung an Schiller darf ich daher zu Recht fragen:
„Wer kennt die Schüler, nennt die Namen,
die gastlich(manche auch ungastlich!) hier zusammen kamen?“
Wie vielen Kollegen ist man in dieser Zeit begegnet? Wie viele Gespräche hat man geführt, wie viel Kraft hat man in die Schule investiert? „Alles Windhauch, das ist alles Windhauch - vanitas vanitatum et omnia vanitas.“, heißt es im Buch Kohelet. Und wenn in wenigen Wochen das neue Schuljahr beginnt, ist man schon fast vergessen. Auch das ist Windhauch."
Im Laufe der Jahre hatte sich bei mir viel Frust angesammelt, und da konnte schon der Eindruck entstehen, als würde ich soz. meinen letzten Arbeitstag dazu nutzen 'abzurechnen', um meinen ganzen Schutt abzuladen. Das paßt natürlich nicht zu einer feierlichen Verabschiedung.
Ich habe mich damals der Entscheidung meines Chefs (zu dem ich übrigens bis heute noch ein sehr gutes Verhältnis habe) gebeugt, obwohl ich schon sehr verärgert war, weil ich doch sehr viel Zeit und Mühe in diese Rede gesteckt hatte. Aber nicht nur mein Verhältnis zu meinem 'alten' Chef ist ungetrübt, auch von meinen ehemaligen Schülern bekomme ich viele positive Rückmeldungen (was mich manchmal sehr verwundert), die doch im Großen und Ganzen mit unserer kleinen Schule zufrieden waren.

Daß Du so früh Deinen Mann verloren hast und Du Deine Kinder alleine durchs Leben bringen mußtest, hat mich doch ziemlich betroffen gemacht. Da träumt man davon, einen langen Weg gemeinsam zu gehen, und dann passiert ein Ereignis, das plötzlich das ganze Leben verändert. Ich kann das gut nachvollziehen, da auch wir von einem harten Schicksalsschlag getroffen wurden. Ich möchte das hier nicht weiter ausführen. Es zerbricht mir noch heute das Herz.


Viele liebe Grüße
Seneca
 
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