Oh Rome! my country! city of the soul! (Canto IV, Childe Harold's Pilgrimage)

q. Montag, d. 6. Oktober 2008: Die Vatikanischen Museen – I Musei Vaticani
Erster Teil: Die Welt der Antike


Meine persönliche Vorbereitung nicht ohne kritische Anmerkungen


Heute stand nur ein Besichtigungsprogramm auf unserer Agenda: die vatikanischen Museen – i Musei Vaticani. Bei der ungeheuren Menge der hier ausgestellten Kunstwerke und dem Labyrinth an Sälen, Hallen, Räumen und Korridoren ist es das Mindeste, was man für einen Besuch veranschlagen muss; und selbst dann hat man nur einen Bruchteil dieser im Laufe von Generationen gesammelten Schätze und Herrlichkeiten gesehen.
Von den zehn Tagen unseres Romaufenthaltes hat es wohl keinen gegeben, in den ich so viel an Zeit und Vorbereitung gesteckt habe wie für dieses „labyrinthische Welttheater“ (R. Raffalt). Und je mehr ich mich mit dieser Wunderwelt beschäftigte, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass mein Wissen nur zu einer oberflächlichen Betrachtungsweise der hier gesammelten Kunst reicht. Um mich einigermaßen zurechtzufinden, hatte ich mir aus drei Einzelplänen, auf dem alle Säle und Räume mit ihrer jeweiligen Bezeichnung eingetragen waren, einen zusammenhängenden Plan fertiggestellt und hatte ihn ergänzt mit den Namen und entsprechenden Katalognummern der Figuren und der Portraits, die mich am meisten interessierten. Beispiel ‚Sala Rotonda’: Brunnenbecken – Jupiter von Otricoli (539) – Hadrian (543) – Herkules (544) – Antinous (545) – Galba (548) – Claudius (550).
Obwohl der Plan nicht mehr auf dem neusten Stand war, hatte er auf unserem Rundgang doch wertvolle Dienste geleistet. Selbst bei meiner Vorauswahl hätte die Zeit nicht gereicht, sich intensiv mit jedem Gegenstand zu beschäftigen. Deshalb hatte ich mich bei meinem persönlichen Schwerpunkt nur auf wenige Kunstwerke beschränkt, bei denen ich mich natürlich länger aufgehalten hatte, um sie so eingehender studieren zu können. Dazu gehörten: der Laokoon – der Augustus von Prima Porta – die Stanzen des Raffael und ein Gemälde von Melozzo da Forlì: Gründung der Vatikanischen Bibliothek.
So gerüstet, freute ich mich schon im Vorfeld auf den Besuch der Vatikanischen Museen. Am Ende des Tages kamen wir alle vier zu dem gleichen Urteil: unter den hier angetroffenen Umständen hatte sich dieser Besuch nicht gelohnt, er war eher enttäuschend. Nicht wegen der Kunst, die bei dieser Fülle erstklassiger Exponate jeder Kritik entbehrt, sondern wegen der Organisation.

Man lockt die Leute mit Kunst, ‚erschlägt’ sie geradezu damit, und tut aber nichts, um sie näher dahinzuführen. Bei sehr vielen Besuchern hatte ich den Eindruck, dass sie an den herrlichsten und wertvollsten Stücken ahnungslos und achtlos vorbeigingen. Sie waren nur von einem Gedanken getrieben: so schnell wie möglich der Sixtinischen Kapelle zuzustreben. Das kann es doch wohl nicht sein!
Die Verwaltung der Vatikanischen Museen sollte sich ernsthaft Gedanken machen, wie sie dem gewaltigen Ansturm gerecht werden kann. Nur auf Masse und Kasse setzen, kann nicht das Konzept der Zukunft sein. Ich würde deshalb gerne die Gelegenheit wahrnehmen, aus meiner Sicht einige Verbesserungsvorschläge vorzustellen:

1. Die Öffnungszeiten verlängern bis in die Abendstunden hinein, um die Besucherströme über einen längeren Zeitraum besser zu verteilen
2. Die wichtigsten Exponate beschriften
3. Einen besonderen Eingangsbereich schaffen für Leute, die nur die Sistina sehen wollen, selbst auf die Gefahr hin, dass man Zugangsbeschränkungen einführen muss (wie sie z.B. in der Galleria Borghese praktiziert werden). Die gegenwärtige Regelung, dass alle durch das Labyrinth der Säle und Flure geschleust werden, um schließlich in der Cappella Sistina anzukommen, ist eine Zumutung.
4. Die bekanntesten und besten Stücke in einem dafür zu schaffenden Museumstrakt ausstellen. Damit würde man den Anforderungen, die heute ein modernes Museum erfüllen sollte, gerecht.

"Das wird nie passieren", wird mancher Kritiker einwenden. Denn schließlich waren die ‚Vatikanischen Museen’ nie als Museum gedacht, sondern sondern sie waren immer und sind es bis heute geblieben: ein Sammelsurium der vielleicht bedeutendsten antiken Kunstobjekte, für deren Betrachtung man – je nach Lust und Laune und dem Gesetz der Improvisation folgend – die verschiedensten Gebäude mit Hallen, Höfen und Gängen errichtet hat, und die den Päpsten zur Erbauung dienten und von ihnen auf langen Wegen regelrecht erwandert wurden. Daher wird man an diesen chaotischen Verhältnissen wohl auch nichts verändern. Denn es widerspricht dem Geist der Improvisation, alles für die Ewigkeit vorauszuplanen und festzuschreiben.



Fare la coda und jedem das Seine!

Schon beim Frühstück hatte ich versucht, die drei mit einer Vorwarnung auf den heutigen Tag einzustimmen: „Wir müssen uns sicher auf eine Wartezeit von einer Stunde gefasst machen. Heute ist nämlich Montag: da wird alles in die VM strömen, weil die meisten anderen Museen geschlossen sind. Wenn sich aber der Stau so zügig auflöst wie am Donnerstagmorgen auf dem Petersplatz, dann können wir zufrieden sein.“ Und um das Ganze auf die Spitze zu treiben, fügte ich meinen Gedanken noch eine kleine Stichelei hinzu: „Und denkt daran! Wir sind im Vatikan, und vatikanisch heißt: verzichten auf Bequemlichkeit und sich üben in der Tugend körperlicher Exerzitien.“

Der 64-er Bus brachte uns wie gehabt zur Pz. del S. Uffizio, dann ging es quer über den Petersplatz zur Via di Porta Angelica, und etwa auf Höhe der Porta S. Anna, eines weiteren Zugangs in den Vatikan, erblickten wir das Ende der Warteschlange. Da ich eine ungefähre Vorstellung vom Verlauf der winkligen Schutzmauer hatte, dachte ich so im Stillen: „Ob eine Stunde warten wohl reicht?“
Es blieb uns nichts anderes übrig als uns hinten anzustellen, und schon wenige Augenblicke später gehörten wir nicht mehr zu den Letzten. Langweilig wurde uns aber nicht: ich hatte mir einiges zum Lesen mitgenommen, obwohl es kein Vergnügen war, im Stehen und in gleichzeitigem Vorwärtsgehen sich in ein Buch zu vertiefen. Zwischendurch hielten wir immer wieder mal ein kleines Schwätzchen, und ich versuchte sogar, mit einigen Nachbarn eine zwanglose Unterhaltung anzufangen, aber schnell merkte ich, dass ich als Gesprächspartner unerwünscht war. Man wollte lieber unter sich sein. Was soll’s! Suum cuique - jedem das Seine!
Besonderen Spaß bereitete es mir, die vielen Unentschlossenen zu beobachten, vor allem die Deutschen, die durch ihre Körpersprache mehr auffielen als alle anderen, weil sich nämlich ihre Ratlosigkeit vom Kopf bis in die Zehenspitzen fortsetzte: gelangweilte Blicke, Gesichter ohne jede Strahlkraft, ohne einen Ausdruck von Klugheit oder Aufgewecktheit, vielmehr erstarrt zur Maske tumber Teilnahmslosigkeit, und in ihrem Bewegungsablauf von einer Langsamkeit, dass man ihnen beim Gehen die Schnürsenkel hätte zubinden können: Protagonisten und zugleich Provokateure bräsiger Selbstgefälligkeit!

Langsam, Stück für Stück, aber doch stetig, schob sich der Lindwurm an der Mauer entlang: von der Ecke an der Pz. del Risorgimento zum stumpfen Winkel an der Via Leone IV, und von da zu den nächsten beiden Ecken am Viale del Vaticano.
Nach gut einer Stunde rückte endlich der Eingangsbereich ins Blickfeld. „Wenn wir an der Kontrolle vorbei sind“, analysierte il mio cognato, „dann wird sich der Stau schnell auflösen."



‚Die Schlacht am kalten Buffet’

So ganz stimmte es nicht: in der Eingangshalle entspannte sich zwar die Situation, weil man den Hauptstrom der Besucher durch eine Reihe von Personenschleusen dirigierte und an mehreren Kassenhäuschen vorbeiführte, aber dafür herrschten an der Ausgabe der Kopfhörer chaotische Verhältnisse. Wer hier nicht körperlichen Einsatz zeigte, hatte das Nachsehen; es war wie die berühmte Schlacht am kalten Buffet. Auch wir mussten uns durchkämpfen und aufpassen, dass sich niemand vordrängte. Dann ging alles sehr schnell: zwei Audio-Guides bestellen – Ausweise vorlegen – Daten eintragen - bezahlen – aushändigen der elektronischen Führer ohne ein Wort der Erklärung – der Nächste bitte! Avanti il prossimo! - Das Personal war total überfordert!
In diesem Tohuwabohu, dramatisch gesteigert durch ein babylonisches Sprachgewirr, mussten wir uns erst einmal orientieren. Deshalb sahen wir uns zunächst nach einem ruhigeren Eckchen um, wo wir uns über das weitere Vorgehen abstimmen konnten. „In diesem Rummel werde ich noch bekloppt“, war das Erste, was ich herausbrachte. „Ich glaube, es ist am besten, wenn wir hier im Museum getrennte Wege gehen. Unter solchen Umständen hat es keinen Zweck, zusammenzubleiben.“ Die anderen sahen es genauso.
Irgendwie hatte ich schon in der Vorbereitung den ‚worst case’ einkalkuliert und vorsichtshalber einen zweiten Plan mit den persönlichen Ergänzungen kopiert. „Nehmt das hier mit!“, empfahl ich meinem Schwager und seiner Frau. „Das wird euch auf eurem Rundgang sehr nützlich sein.“ – „Und wo sollen wir uns wieder treffen?“, wollte meine Schwägerin noch wissen. – „Ganz einfach! Wer zuerst mit der Besichtigung fertig ist, wartet draußen vor dem Eingang und meldet sich übers Handy.“ Gesagt, getan.



Rein ins Getümmel und erste Kontakte mit der Kunst der Antike

Eigentlich konnten wir jetzt mit unserer Museumstour beginnen, doch vorher wollte sich meine Frau noch mit der Technik des Audioguide vertraut machen. „Das kannst du hier total vergessen“, meinte ich. „Du glaubst doch wohl im Ernst nicht, dass du bei dieser Lautstärke und diesem Gedränge irgendein Wort verstehst. Lass es sein! Wir sollten lieber warten, bis wir einen Ort gefunden haben, wo wir nicht von allen Seiten gestört werden. Da werden wir dann die Einstellung vornehmen.“
Ihre Zustimmung erfolgte prompt, und jetzt endlich konnten wir uns aufmachen, die Kunstwelt des Vatikan zu entdecken. Ein nicht zu übersehender Pfeil gab die Richtung des Rundgangs vor: wir durchschritten zunächst ein Vestibül, und nach wenige Schritten standen wir dann im Cortile della Pigna. Unsere Blicke fielen sofort auf den riesigen Pinienzapfen – nach dem übrigens dieser Hof benannt ist - und auf die gewaltige Rundung der Apsis dahinter, die mich an die kühnen Wölbungen der Maxentiusbasilica auf dem Forum Romanum erinnerte.
Kaum vorstellbar, dass diese Nische, der Nicchione, als Platz für einen Papstthron unter freiem Himmel vorgesehen war. Was für eine grandiose Kulisse, um die Majestät eines Pontifex Maximus sichtbar zu machen und sie über alles menschliche Maß hinaus zu erheben. Die Idee war genial, doch für die Umsetzung fehlte allerdings der Mut.

So sieht man heute an Stelle des Throns die riesige Pigna, den bronzenen Pinienzapfen, nicht in der Mitte der erhöhten der Terrasse, sondern an deren vorderstem Rand – ein wahrer Blickfang! Über eine Doppeltreppe, angelegt in Form von zwei seitlichen Aufgängen und von weitem ein abgeflachtes Trapez beschreibend, erreicht man die Plattform und gelangt so in die Nähe des mächtigen Sockels, auf dem der Pinienzapfen ruht, flankiert von zwei bronzenen Pfauen (keine Originale) aus der Villa des Hadrian.
Er ist von so zeitloser Schönheit, dass er noch heute als Vorbild dient für Schmuckelemente, die man zu dekorativen Zwecken in der Innenarchitektur verwendet oder als bekrönenden Abschluss von repräsentativen Gebäuden, insbesondere von Kuppeln.
Dieser aus unzähligen Schuppen bestehende Konus hat eine bewegte Geschichte hinter sich: gefunden hatte man ihn im Bereich der Agrippa-Thermen, und noch heute trägt dieses Stadtviertel im Centro storico seinen Namen: Rione della Pigna. Irgendwann – niemand kennt das genaue Datum – kam er nach Alt-St. Peter, wo er im Vorhof der Basilica zum prächtigen Mittelpunkt eines Brunnens wurde, überfangen von einem Baldachin, den acht Säulen stützten. Der Strahl des Wassers trat an der Spitze der Pigna heraus, und niederfallend verfing er sich im Geflecht der Schuppen und quoll schließlich in ein Bassin aus Marmor. Sah die Antike im Pinienzapfen ein Symbol für das sich immer erneuernde Werden und Wachsen, deutete das frühe Christentum ihn als Symbol der Unsterblichkeit durch die Kraft des ewig fließenden Wassers.



Der Pinienzapfen stand viel zu hoch, als dass ich seine Oberfläche hätte berühren können. Das gelang mir bei einem anderen Kunstwerk – älter noch als die Pigna, aber weniger im Focus des Interesses stehend – viel besser, nämlich bei den beiden Granitlöwen aus Ägypten, die sanft und friedlich, mit verschränkten Vorderpfoten und zur Seite geneigtem Kopf auf einem relativ breitem Sockel lagen, der mit einem umlaufenden Band sorgfältig herausgemeißelter Hieroglyphen geschmückt war. Ich meine mich zu erinnern, aus den Königskartuschen den Namen des Pharaos Nektanebos (I.) herausgelesen zu haben.
Thronname: Chéper-Kha-Rê > ‚Erneuerung / Verwandlung ist Ursache für die [unerschöpfliche] Lebenskraft des Rê‘
Geburtsname: Néchèt-neb=ef > ‚Stark ist sein Herr’

Ursprünglich gehörten diese wasserspeienden Löwen zum Dekor des Wasserkastells der Fontana dell’Acqua, das der Peretti-Papst Sixtus V. in Auftrag gegeben hatte. Allein wegen seines Familienwappens durften die Löwen nicht fehlen, überragt von der mächtigen Statue des Moses, der zur theatralischen Geste ausholt und einen flammenden Blick auf den Betrachter schleudert.
Jetzt kann man die Originale im Cortile della Pigna aus nächster Nähe bestaunen, und an diesem Morgen ließ ich meine Hand über die glatte und von der Sonne erwärmte Fläche dieser Figuren gleiten, folgte den Umrissen ihrer wohlgeformten Körper und versuchte so fühlend und tastend mich dem Geheimnis des schöpferischen Geistes zu nähern, der aus der bloßen Materie des ältesten Gesteins der Erde dieses Wunder der Kunst hervorgebracht hatte.



- Kleiner Ausflug ins Reich der Hieroglyphen

Es ist manchmal wie verhext: da gibt es Dinge, die lassen sich partout nicht aus dem Gedächtnis vertreiben. In schöner Regelmäßigkeit steigen sie aus der Erinnerung empor und widersetzen sich vehement der inneren Trägheit. Solange, bis man schließlich ihrem Drängen nachgibt und beginnt, sich mit der Problematik auseinanderzusetzen. So ist es mir auch mit den beiden Löwenfiguren ergangen, die mit übereinander geschlagenen Vorderpfoten vor den Treppenstufen des Nicchione 'ruhen', dieser so majestätisch aufragenden Gewölbenische. Zu Hause habe ich mir diese Figuren noch einmal genauer angeschaut. Was ich vermutete, hat sich bestätigt: im Sockel sind wirklich die beiden Kartuschen mit den Namen des Pharaos Nektanebos (I.) eingraviert. Er lebte in der Spätzeit Ägyptens (380 – 362 v. Chr.) und war Begründer der XXX. Dynastie. Er hat sich vor allem hervorgetan durch eine rege Bautätigkeit (z. B. die Errichtung der Vorhalle für den Isis-Tempel auf der Insel Philae, nahe bei Assuan im Nil gelegen) und durch die Neuordnung seines Reiches nach dem glücklichen Sieg über die Perser.

Eigentlich ist die Entschlüsselung seines Thron- und Eigennamens völlig unproblematisch. Was mich allerdings bei diesen beiden Granitlöwen verunsichert hatte, waren die sog. Komplemente (Ergänzungen) im Geburtsnamen des Pharaos. Sie waren mir entfallen und damit nicht greifbar, da ich mich nur an die Königskartuschen vom Pavillon des Isis-Tempels und von der wunderschönen Stele aus Naukratis erinnern konnte.


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Um in die Welt der ‚Heiligen Zeichen‘ einzusteigen, fangen wir am besten mit dem linken Schen-Ring an (abgeleitet von šnw › schenu = einkreisen), weil am einfachsten zu erklären. Siehe Abbildung lks. ob. mit den beiden Namenskartuschen! Von oben nach unten gelesen, erkennt man folgende Zeichen:
1. die Sonnenscheibe, das Symbol für den Sonnengott Ra oder Rê. Dieses Zeichen gehört zur Gruppe der Ideogramme, d. h. es handelt sich um Bedeutungszeichen mit einem Lautwert: › Rê. Obwohl dieses Zeichen am Anfang des Ringnamens steht, wird es immer zum Schluss gelesen.
2. den Skarabäus (den heiligen ‚Pillendreher‘), ebenfalls ein Symbol der Sonne. Er wird ḫpr › cheper genannt und steht für ‚werden, entstehen, sich verwandeln‘, aber auch für ‚Gestalt, Wesen, Veränderung‘
3. die erhobenen Arme; sie symbolisieren den › Ka, was soviel bedeutet wie ,Seele oder unsterbliche Lebenskraft, die den Menschen von Geburt an begleitet und die im Jenseits weiter fortbesteht, soz. sein geistiger Alter Ego‘.

So ergibt sich für den Thronnamen folgende Lesart: ḫprkɜRˤ › cheper-ka-re. ‚Die immmerwährende bzw. Zeiten überdauernde Erneuerung/Verwandlung (das Werden i. e. S.) als immanentes Geschehen ist das tiefere Geheimnis der Lebenskraft des Rê‘ / 'Die [schützende u. zugleich unvergängliche] Lebenskraft des Rê - immer wandlungsfähig, immer veränderbar' / ‚Die Ka-Kraft des Rê ist in mir (Nektanebos) zu neuem Leben erwacht / aufgeblüht (eigentlich: Wirklichkeit geworden, … zum Vorschein gekommen oder auch: … sichtbar geworden)‘ / 'Ich bin die gestaltgewordene Ka-Kraft des Rê' - diese Übersetzungsvarianten müssten nach meinem Verständnis der Namensdeutung am nächsten kommen.
Eine kleine Randnotiz: hinter einem solchen Ringnamen verbirgt sich so etwas Ähnliches wie die religiöse Kurzformel für die alles verändernde, alles durchwirkende und stetig sich erneuernde Kraft des Sonnengottes Rê, die natürlich auch auf den Pharao ausstrahlen soll, um so die Einzigartigkeit seiner Stellung innerhalb der ägyptischen Gesellschaft zu legitimieren. Folgerichtig entwickelte sich eine Tradition, den Thronnamen nur einmal an einen Pharao zu vergeben. In der Regel war es auch so. Aber gibt es eine Regel ohne Ausnahme? Wer sich mit der Entzifferung der Königsnamen vertraut gemacht hat, dem wird nicht entgangen sein, dass es schon lange vor Nektanebos einen bedeutenden Pharao gegeben hat, der Träger des gleichen Namens war. Die Rede ist von Sesostris (I.) [S-n-Wsrt › Senuseret], der in der Zeit von ca. 1970 - 1928 v. Chr. lebte und somit als Herrscher im mittleren Reiches regierte. Nektanebos hat diesen Thronnamen dann später wieder übernommen.



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Beim Geburtsnamen (Eigennamen) gestaltet sich die Entzifferung etwas aufwendiger, weil hier nämlich Deute- und Lautzeichen miteinander verknüpft sind. Wir müssen zunächst auf folgende Hieroglyphen achten (von oben nach unten):
1. den gestreckten Arm mit dem Stock, ‚Stärke, Macht‘, aber auch ‚Gewalt, Anstrengung, Mühe‘ symbolisierend. Sein phonetischer Wert ist nḫt › néchèt. Dabei handelt es sich um ein Dreikonsonanten-Zeichen (Triliteral), das gerne von Lesehilfen begleitet wird. Ich gehe gleich noch genauer darauf ein.
2. die (oder den?) Sphinx. Das ist keine Hieroglyphe im klassischen Sinn, sondern ein Zeichen aus der Spätzeit Ägyptens und ersetzt hier den im Regelfall gebräuchlichen Korb, der von den Fachleuten als ‚Herr bzw. der Herr‘ (nb › neb) gedeutet wird.
3. die Hornviper, ein Phonogramm (f › ef), hinter dem sich das Possessivpronomen ‚sein‘ verbirgt.
Zusammengefasst ergibt sich daraus folgender Königsname: nḫtnb=f › néchèt-neb-ef. Und gräzisiert: Nektanebos. Im Deutschen würde dieser Name sinngemäß so lauten: ‚Der Starke ist sein Herr.‘

Zurück zu den Dreikonsonanten-Zeichen: ihnen stellt man, wie gesagt, gerne Ergänzungen zur Seite, um auf diese Weise ihre Lesbarkeit zu erleichtern. Dem liegt ein Prinzip zugrunde, das soz. als immanente Eigenschaft in Rebus-Rätseln 'hinterlegt' ist: vorgegebene Bilder und Zeichen [rebus (lat.): etwas ‚durch Dinge‘ zum Ausdruck bringen, verdeutlichen] so miteinander kombinieren, dass durch den Zusammenschluss ein neuer Begriff entsteht, der selbst keinen Bezug zu den Bildern hat.
Beim Geburtsnamen des Nektanebos sind es (einfache) Lautsymbole (Phonogramme) mit klar unterscheidbaren Lautwerten. Miteinander verbunden ergeben sie eine Lautung, die identisch ist mit der des Wortzeichens für ‚stark/mächtig‘. Klingt abstrakt, ist es aber nicht, wenn wir ins Detail gehen:

Als erstes Zeichen in der Kartusche fällt die Wasserlinie auf. Die Lautung ist n › en.
Darunter erscheint der Zweig, ein Zweikonsonanten-Zeichen: ḫt › chèt.
Die nächsten beiden Zeichen sind phonetische Ergänzungen, um das ḫ › ch und das t › t hervorzuheben: einmal dargestellt durch den Kreis mit der schraffierten Fläche, dessen Bedeutung bis heute nicht zweifelsfrei geklärt werden konnte (vielleicht ein Fadenknäuel?, vielleicht ein Tamburin?, vielleicht eine Plazenta?), und zum anderen durch den Brotlaib.
Isoliert betrachtet sind diese Laute bedeutungsirrelevant. Erst in zusammengesetzter Form werden sie zum Bedeutungsträger, dessen Notation einen uns schon bekannten Begriff ans Licht bringt: n + ḫt = nḫt › né-chèt (wir erinnern uns: die Hieroglyphe mit dem gestreckten Arm und dem Stock!), und was dahinter steht, wissen wir bereits, nämlich: ‚stark, mächtig‘ usw.

Und wie sehen die beiden geknoteten Schnurschleifen auf dem Sockel der Granitlöwen vor dem Treppenaufgang zum Nicchione aus?


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1. Der Thronname ist identisch, also ḫprkɜRˤ › cheper-ka-re.
Typisch für alle Kartuschen ist die Einleitung mit einem Titel. So befinden sich vor diesem Namensring zwei Hieroglyphen, die den Titel ‚Doppelkönig‘ ergeben, also Herr über Ober- und Unterägypten, über Wüste und Fruchtland, aber auch über die menschliche und göttliche Sphäre. Wir erkennen die Biene (nj-sw.t › nisut) und die Binse (bj.tj › biti)

2. Auch der Geburtsname ist im wesentlichen unverändert geblieben. Nur die (der?) Sphinx ist ersetzt worden durch das viel bekanntere Zeichen des Korbes (nb › neb = der Herr).
Weggefallen sind die 'Lesehilfen', und das aus ökonomischen und optischen Gründen: einerseits gewinnt man mehr Platz für die zum Verständnis des Namens unverzichtbaren Hieroglyphen, andererseits braucht man an der Größe der beiden Kartuschen nichts zu ändern. Folglich kann die ‘Schrift’ bleiben wie sie ist: sie muss weder gestaucht noch gedehnt werden. Auf die Gestaltung der Inschrift hat das den Effekt, dass sie den Betrachter in der Vorstellung zurücklässt, ein ausgewogenes, in sich stimmiges Bild vor sich zu sehen - das Ergebnis einer handwerklich ausgereiften Arbeit, künstlerisch dargeboten in einer Form, die von großer Könnerschaft zeugt. Die Tiersymbole z. B. sind so natürlich, so lebensecht, so plastisch in den Granit eingraviert, dass sich der Gedanke aufdrängt, die Figuren könnten sich jederzeit aus ihrer Erstarrung lösen und hinüberwechseln auf die Seite des Lebens, wenn es gelänge, in ihnen den Funken zu entzünden, der tote Materie in lebende verwandelt.



Neu hinzugekommen sind zwei Komplemente, die ich - wie ich anfangs schon bemerkte - nicht einordnen konnte:
da ist einmal der Falke auf der Standarte, ein altes Zeichen (Determinativ) für ntr › netscher = Gott; der Falke wird hier wohl verstanden als Inbegriff alles Göttlichen; und zum anderen erkennt man (mit einem bisschen guten Willen) eine Geißel bzw. einen Wedel; eben so gut könnte es ein Dreschflegel sein: flagellum genannt, das Symbol königlicher Macht (nḫɜḫɜ › néchacha). Die Botschaft, die dahinter steckt, ist selbsterklärend: der Pharao will als Verkörperung göttlicher und weltlicher Macht wahrgenommen werden. Darauf gründet sein Anspruch höchster Verehrung und absoluten Gehorsams.

Unter Berücksichtigung all dieser Aspekte erlaubt der Geburtsname des Nektanebos folgende Deutungen, die mir am sinnvollsten erscheinen: 'Stark ist sein Herr - als Garant der göttlichen (Welt)-ordnung und als Regent in der Ausübung der Staatsgewalt'. Oder vereinfacht: 'Stark ist sein Herr - als Gott und König'.
Wie der Thronname ist auch der Geburtsname gekoppelt an eine Titulatur, die ihn soz. als Stellvertreter – als ‚vicarius‘ – des Sonnengottes Rê auf Erden ausweist: ‚Sohn des Rê‘ (sɜRˤ › sara), verbildlicht durch die Sonnenscheibe () und die Gans ().


Die Königin Tuja und der Pharao Mentuhotep

Der Auftakt war schon ’mal vielversprechend. Und hier auf dem riesigen Geviert des Cortile della Pigna, das ich mir durchaus als festlichen Empfangssaal für die Audienzen eines Papstes hätte vorstellen können, fanden wir auch eine Stelle, um die nötigen Einstellungen am Audioguide vorzunehmen und seine Handhabung für Ernstfall zu erproben. Aber beim Anblick der unaufhörlich hereinströmenden Besuchermassen, die alle dem wirklich ersten Höhepunkt
im Belvederehof zustrebten und denen wir gezwungenermaßen folgen mussten, konnte man schier verzweifeln. „Weißt du was?“, fragte ich meine Frau, ohne ihre Antwort abzuwarten, „lass uns kurz in die ägyptische Abteilung gehen. Ich würde mir gerne die Königin Tuja, die Mutter des großen Ramses, anschauen und die Büste des Pharao Mentuhotep.“

Die Figur der Königsmutter fanden wir an der Rückwand von Saal V. Es handelt sich um eine aufrecht stehende und menschliches Maß überragende Statue aus schwarzem Granit, den rechten Fuß im leichten Ausfallschritt nach vorne als Zeichen dafür, dass sie als ‚Lebende’ dargestellt ist. Man sieht eine Frau von wirklich königlichem Geblüt mit einer schweren Perücke aus dichtem Haar, das ihr Gesicht umschmeichelt, und dessen glatte Strähnen bis auf die Brust herabfallen, und mit einem Gewand, das bis zu den Knöcheln reicht, und dessen leichter, fast durchsichtig erscheinender Stoff eng am Körper anliegt und ihre Formen mehr betont als verdeckt.
Bei dem Kopf des Mentuhotep (‚Month ist zufrieden’) handelt es sich um das Portrait eines Herrschers, der etwa um 2000 vor Christus! regiert hat. Trotz des hohen Alters erstaunt der hervorragend erhaltene Zustand dieser Sandsteinfigur, und in dieser Ausführung legt sie Zeugnis ab für den hohen Grad ägyptischer Steinmetzkunst. Noch deutlich zu erkennen sind die rötlich-braunen Farbreste in seinem Gesicht, die den Pharao als lebenden Herrscher kennzeichnen sollen, obwohl sein Antlitz fast mumienhaft, allem Diesseitigen entrückt wirkt. Als Zeichen seiner pharaonischen Würde trägt er die weiße Krone Oberägyptens mit der aufgerichteten und angriffslustigen Uräusschlange (Kobra) auf der Stirn, die den König vor den Angriffen böser Mächte schützen soll.



Den ‚Lemmingen’ nach

Mit dieser Stippvisite konnten wir uns für eine kurze Dauer vor dem Massenansturm retten, aber jetzt war die Schonfrist endgültig abgelaufen; wir mussten diesem Zug der ‚Lemminge’ folgen und versuchen, uns irgendwie in diesem Gedränge zu behaupten. Es ging zunächst quer über den Pinienzapfenhof und dann links in der Galleria Chiaramonti einen breiten Treppenaufgang hinauf, und nach wenigen Schritten standen wir vor dem berühmten Schaber, dem Apoxyomenos(άποξυόμενος - der sich einreibt) des Lysipp von Sykion.


Man sieht eine ganzfigurige Statue vor sich, gefunden in Trastevere unter den Trümmern eines Hauses aus der Antike; sie zeigt einen Athleten – jung, durchtrainiert, seine Stärke richtig einschätzend und seinem Können vertrauend - , der sich nach einem Wettkampf mit einer Metallsichel, einem Striegel, von Sand und Öl reinigt, mit dem er sich, wie es damals üblich war, vor dem Ringkampf eingerieben hatte. Ob er gesiegt hat, ist nicht erkennbar. Aber nicht auf den Kampf, nicht auf die Kraftanstrengung oder die verbissene Umklammerung der beiden Kämpfer kommt es an, sondern auf die Aktion ‚danach’, die nebensächlichste, unwichtigste aller Handlungen überhaupt – von den Zuschauern unbeachtet und vielleicht in den dunklen Katakomben unter der Arena vorgenommen - , nämlich die Reinigung vom Kampföl. Und ich muss Winckelmann zustimmen, wenn er schreibt: „Je ruhiger der Stand des Körpers ist, desto geschickter ist er, den wahren Charakter der Seele zu schildern.“


Im Cortile Ottagono o del Belvedere

Vom Schaber zum Apoll und Laokoon waren es nur wenige Schritte. Im Vestibolo Rotondo, wo sich der Rundgang im rechten Winkel fortsetzte, wandten wir uns nach links, durchschritten die Vorhalle des Cortile del Belvedere, und schon waren wir auf dem gepflasterten Innenhof angelangt, der unter Julius II. noch ein intimes Gärtchen gewesen war. An die Idylle von einst erinnert heute nur noch der kleine Brunnen in der Mitte und das leise Plätschern seines Wassers.
Was hier los war, verschlug mir fast den Atem: ein Menschenauflauf, bei dem es so gut wie kein Durchkommen mehr gab, ein Stimmengewirr, das an Volksfeststimmung erinnerte, ein ununterbrochener Zustrom von Besuchern, die wie wir fassungslos waren und teilweise desorientiert schienen, und dazu noch die Übereifrigen, die Kunstbeflissenen, die ‚Studiosus-Erprobten’: sie schlängelten sich durch die Massen, als seien sie kein Hindernis, einzig und allein von der Sorge getrieben, sie könnten eine der berühmtesten antiken Skulpturen verpassen. Es war einfach nur irre, es ging zu wie im Tollhaus.
Und was war mit der Laokoon-Gruppe? Sie war und blieb die ganze Zeit umlagert von einer dichten Menschentraube, so dass von ihr nur der Oberkörper des sich verzweifelt gegen sein Schicksal aufbäumenden Priesters des Poseidon zu erkennen war. Vom Anblick dieses Pulkes ließen wir uns nicht beirren, im Gegenteil, ich verspürte sogar eine gewisse Lust in mir, oder besser noch: ich fühlte mich geradezu herausgefordert, in diese Phalanx der Leiber einzudringen. Denn schließlich waren wir in der festen Absicht hierher gekommen, uns den Laokoon aus unmittelbarer Nähe anzusehen.




Aber noch war es nicht soweit. Wir wandten uns erst einer anderen Figur zu – Gottseidank nicht so belagert wie der Laoconte - , nämlich dem Apoll vom Belvedere, dem Gott des Lichts und der Dichtkunst, der marmorkalt, blass und einsam, in zeitloser Schönheit verharrt. Für Winckelmann ist „die Statue des Apollo das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Altertums“. Er hat mit seiner idealisierenden Beschreibung das Meinungsbild von Generationen deutscher Kunstinteressierter beeinflusst wie kein anderer, und er ist sich in seinem Urteil so sicher – wer könnte man ihm da widersprechen? Mein Sachverstand jedenfalls reicht nicht dazu.
In der Tat: die Figur des Apoll ist von erhabener Schönheit und Harmonie; mit forschem Schritt bewegt sie sich auf den Betrachter zu, und je länger man sie anschaut, hat man den Eindruck, dass sie ‚erscheint’. Der Kopf ist zur Seite geneigt, der Blick in die Ferne gerichtet, der linke Arm ausgestreckt, dessen vorderer Teil ein zu engen Falten gerafftes Tuch aufnimmt, das er locker um seinen Hals geschlungen hat, und das hinter seinem Rücken wieder zum Vorschein kommt. Dieses Tuch ist nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern auch gleichzeitig Stütze für den Arm. Das Geheimnis dieser Figur liegt in der Einzigartigkeit ihrer Ausführung, die mit einem Minimum an Material auskommt und doch eine große Wirkung erzielt – ‚beseelt’ und ‚lebendig’ gemacht durch die Hand des Künstlers.



Der Laokoon des Vergil im Lichte von ‚Seneca’, Winckelmann und Lessing

Wie Laokoon seinen Speer mit unbändiger Kraft (validis viribis) gegen den gerundeten Bauch (curvam alvum) des Hölzernen Pferdes schleuderte, so kam ich mir in diesem Augenblick auch vor wie eine Speerspitze, die sich zwischen den Fugen (compages) der Herumstehenden und Umhergehenden ihren Weg suchen musste, um zum gewünschten Ziel zu gelangen. Dann standen wir vor der Skulptur, die Michelangelo enthusiastisch als ‚miracolo dell’arte’, als Wunder der Kunst, und Plinius als ‚Meisterwerk der Kunst’ bezeichnet hatte, und für die Winckelmann sich zu einer Wortschöpfung hatte hinreißen lassen, die sich nur im Deutschen erschließt, und die man sonst in keine andere Sprache übertragen könnte: edle Einfalt und stille Größe!


Im Bilderwerk des Laokoon ist die entscheidende Episode aus dem zweiten Gesang der ‚Aeneis’ festgehalten: Laokoon, der Priester des Neptun (sacerdos), hatte die Trojaner eindringlich davor gewarnt, das Hölzerne Pferd in die Stadt zu ziehen: ‚Equo ne credite, Teucri!’ – ‚Traut nicht dem Pferd, Trojaner!' Für ihn blieben die Griechen unberechenbar und gefährlich. Deshalb ergänzte er weitsichtig: ‚Quidquid id est, timeo Danaos et dona ferentes’. – ‚Was immer auch sei, ich fürchte die Danaer (die Griechen), auch wenn sie Geschenke bringen.'
Kaum hatte er seine Warnung ausgesprochen und seiner Wut über das Vorhaben der Trojaner durch den Wurf seines Speeres (hasta) gegen die Wölbung (caverna) des gerundeten Bauches (curvam alvum) Nachdruck verliehen, tauchten von der Insel Tenedos kommend zwei Schlangen (gemini angues) auf mit blutigen Kämmen (iubae sanguineae), das Meer mit gewaltigen Kreisen (immensis orbibus) durchziehend, bewegten sich zielsicher (agmine certo › mit sicherem Zug nach vorne / mit unwiderstehlichem Vorwärtsdrang) auf den Vater und die beiden Söhne zu, umstrickten sie (ligare / implicare) mit fürchterlichen Schlingen (spiris ingentibus) und besiegelten ihr Schicksal durch einen tödlichen Biß (morsu). Selbst das entsetzliche Schreien des Laokoon bis hinauf zu den Sternen (clamores simul horrendos ad sidera tollit) wurde von den Göttern nicht erhört.

Soweit der spannende Bericht des Vergil. Und was zeigt davon die Skulptur? Den entscheidenden Übergang vom Leben zum Tod in seinen entscheidenden Phasen: das sich verzweifelte Wehren gegen ein hereinbrechendes und nicht zu begreifendes Schicksal, der aussichtslose Kampf gegen einen alles vernichtenden Gegner und schließlich sich der unbarmherzigen Macht beugen und ergeben, so dass selbst der letzte Schrei im Mund des Laokoon erstickt. Winckelmann bemerkt dazu:
Er erhebet kein schreckliches Geschrei, wie Vergil von seinem Laokoon singet: Die Öffnung des Mundes gestattet es nicht; es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen … “
Diese Aussage wollte Lessing nicht unwidersprochen gelten lassen, im Gegenteil: sie veranlasste ihn dazu, sich kritisch mit ihr auseinanderzusetzen in seiner berühmten Schrift ‚Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie’. Sinngemäß schreibt er, dass die griechischen Künstler der Schönheit alles untergeordnet hätten: die Schönheit sei das ‚höchste Gesetz der bildenden Künste’. Weil aber durch den Schrei bzw. das Schreien das Gesicht auf ‚ekelhafte Weise’ verstellt bzw. verzerrt würde, habe man auf die weite Öffnung des Mundes (‚das große Maul’) verzichtet und es bei einer Vertiefung bewenden lassen, ‚welche die widrigste Wirkung von der Welt tut’.

Aber wie dem auch sei, die drei Künstler aus Rhodos, die dieses phantastische Bildwerk geschaffen haben, haben sich noch in einem anderen Punkt die Freiheit genommen, von der dichterischen Vorlage des Vergil abzuweichen: dem Triumph des Todes haben sie das Licht der Hoffnung hinzugefügt, denn wenn man sich die Laokoon-Gruppe genau anschaut, entdeckt man, dass der ältere Sohn – auf der rechten Seite – sich aus der tödlichen Umklammerung lösen und sein Leben retten kann.


Aber warum musste Laokoon zusammen mit seinen beiden Söhnen sterben? Nur weil er die Trojaner davor gewarnt hatte, das unheimliche Gastgeschenk der Griechen anzunehmen? Kannte er ihre Absichten? Wusste er von der tödlichen Gefahr, die in dem Bauch des hölzernen Pferdes steckte? Oder war es bloß die übertriebene Sorge eines Mannes, der sein Misstrauen und seine Vorbehalte gegenüber den Griechen nie überwinden konnte?
Vergil meinte den Grund für das schreckliche Sterben darin zu sehen, dass Laokoon einen Frevel (scelus) begangen habe, weil er es gewagt hatte, mit seinem Speer das ‚heilige Holz’ (sacrum robur) des Pferdes zu durchbohren (intorserit). Für ein Strafgericht mit tödlichem Ausgang eher ein schwaches Argument!
Auch die bekannte Theorie, die Göttin Athene habe den Tod des Laokoon veranlasst, weil er durch seine beschwörenden Worte - ausgerufen nach Art eines prophetischen Sehers - versucht hatte, den von ihr gewünschten Untergang Trojas zu verhindern, ist nicht unumstritten.
Ein anderer Ansatz geht von der These aus, Apoll könne die Schlangen geschickt haben, um auf seinen Befehl hin den tödlichen Auftrag zu vollstrecken. Durch den furchtbaren Tod des Trios sollten die Kampfhandlungen um Troja für eine gewisse Zeit unterbrochen werden - eine günstige Gelegenheit, die Aeneas (der Stammvater der Römer) dazu nutzte, um mit einigen Gefährten aus dieser Stadt an die Küsten Italiens (Laviniaque venit litora) zu fliehen. Somit läge im Opfer des Laokoon der Anfang vom Aufstieg Roms, das wie keine andere Stadt des Abendlandes eine geistige und kulturelle Führerschaft übernehmen sollte, deren Einflüsse bis auf den heutigen Tag nachwirken auf dem Gebiete der Kunst, der Bildung und der Naturwissenschaften.

Nachdem wir, meine Frau und ich, den Laokoon – befreit von allen Ergänzungen Montorsolis und wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt – ausgiebig studiert hatten, zogen wir beide uns für einen Augenblick zurück, suchten und fanden auch ein freies! Plätzchen auf einer der Steinbänke vor dem kleinen Springbrunnen, der Laokoon-Gruppe genau gegenüber. Dann zog ich aus meinem grünen Einkaufsbeutel – ist das nicht grotesk? – eine Kopie mit der bekannten Episode aus dem zweiten Gesang der Aeneis hervor, mit zahlreichen Erklärungen aus meinem alten ‚Stowasser’ versehen, und wir beide lasen den Text – teils im Original, teils auf deutsch – und ließen uns dabei von niemandem stören.



Der Torso vom Belvedere und sonst nichts?

Es fiel uns nicht leicht, uns von der Laokoon-Gruppe zu trennen, aber wir wurden schnell versöhnt durch den Gedanken, dass noch weitere Kunstwerke von ‚höchster Hervorbringung’ auf uns warteten. Zwischen Laokoon und Hermes passierten wir zunächst die Sala degli Animali, die ausgestattet ist mit allerlei Getier aus den Kunstwerkstätten der Antike, dem wir aber keine besondere Aufmerksamkeit entgegenbrachten - im Gegensatz zu Schwager und Schwägerin, die von diesem Raum begeistert erzählten und sich lebhaft an Darstellungen erinnerten, die Jagdszenen zeigten.

Dann betraten wir die Sala delle Muse, deren Mitte beherrscht wird vom Torso, den Winckelmann für „das Vollkommenste der alten Bildhauerei“ hielt – das nachzuvollziehen mir angesichts dieser verstümmelten Figur eines sitzenden Herkules nicht so recht gelingen wollte. Denn der Torso sieht auf den ersten Blick wirklich aus wie ein „verunstalteter Stein“: ein massiger, muskelbepackter Körper, leicht verdreht und in gebeugter Haltung, auf einem Felsen sitzend, dem Kopf, ein Teil der Brust, Arme und Unterschenkel fehlen.
Auffallend an diesem „Adam der Antike“, wie Raffalt ihn nennt, ist sein ‚durchgestylter’ Körperbau, als habe er sich eben in einem Fitness-Studio einem intensiven Trainingsprogramm zum Aufbau seines Muskelapparats unterzogen: jede Faser, jede Schwellung, jede Wölbung sind deutlich hervorgehoben, und sogar die Adern zeichnen sich unter der gespannten Haut ab. Vielleicht ist es das, was Winckelmann an den antiken Meistern so bewunderte, dass sie schon eine klare Vorstellung, eine konkrete Vision von ihrem Bildwerk hatten, dass dessen Gestalt in ihrem Innern aufleuchtete und geradezu virtuell existierte, dass sie sie nur ‚abzulesen’ und auf den Marmor zu übertragen brauchten, um so durch ihre Hände „die Materie geistig“ zu machen.
Nicht von ungefähr wird der Torso auch als der Torso des Michelangelo bezeichnet, vom Genie hochgeschätzt und in allen Einzelheiten studiert. Er hatte diese Figur soz. ‚verinnerlicht’, indem er sich mit seinen Augen ein genaues Bild machte vom Bau des kompakten Körpers in seiner Form, seiner Drehung und Bewegung, und mit den Händen und Fingern ihre Konturen abfuhr und ertastete. Er hatte sich mit dem Torso so intensiv auseinandergesetzt, dass die Erkenntnisse, die er aus der Beschäftigung mit ihm gewonnen hatte, sich auswirken mussten auf seinen eigenen Stil. Schaut man sich die kraftvollen und muskulösen Gestalten in der Sixtina an, dann weiß man, aus welcher Quelle er seine Anregungen schöpfte.

Wenn ich so ausführlich über den Torso schreibe, dann könnte man meinen, die anderen Figuren in der Sala delle Muse seien nur von zweitrangiger Bedeutung. Das Gegenteil ist der Fall: der Raum ist angefüllt mit den Portraits illustrer Geistesgrößen aus der Athener Gesellschaft; es sind die Portraits von Dichtern, Philosophen, Musen und von dem großen Staatsmann Perikles aus der Glanzzeit Griechenlands. Im Angesicht dieser Persönlichkeiten und tief von ihnen berührt, stiegen in meiner Erinnerung die Anfangsverse aus Goethes „Faust“ empor, die – ein wenig modifiziert – so lauten:


Ihr naht euch wieder, vertraute Gestalten,
Die früh sich einst dem jugendlichen Blick gezeigt.
Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten?



So erkennt man das flächige Gesicht des Sokrates mit seiner Glatze, seinen weit geöffneten Augen, die Lebensweisheit und Milde ausstrahlen, seiner Knollennase und mit seinem vollen, spitz zulaufenden Bart, von dichten Locken gekräuselt. Er befindet sich in guter Nachbarschaft von Leuten, die mit ihren Ideen die griechische und abendländische Gedankenwelt nachhaltig geprägt haben: darunter sind zu sehen Homer, Platon, Sophokles, Epikur und Euripides.
Und nun zur Büste des Perikles: sie gehört sicher zu den berühmtesten Portraits der bildenden Künste, und sie wurde in zahlreichen Repliken nachgeahmt. Wenn man Plutarch Glauben schenken darf, dann war es seine eigenartige, deformierte Kopfform, durch die Perikles auffiel, und die sein Umfeld immer wieder zum Anlass nahm, sich darüber lustig zu machen. „Zwiebel“ gehörte noch zu den harmlosesten Bezeichnungen für den Mann, unter dem Athen seine kulturelle Blüte erlebte, und der in vielen Reden seine große rhetorische Begabung unter Beweis gestellt hatte. „Die Staatsgewalt liegt bei uns nicht in den Händen weniger, sondern des ganzen Volkes“, ist Ausdruck seiner demokratischen Gesinnung.
Vor uns erblicken wir den langgestreckten Kopf des Perikles, den ein gepflegter Bart ziert, geschützt von einem sich schräg nach hinten auftürmenden Helm, der genügend Platz bietet, seine Anomalie zu verbergen, und wir blicken in ein Gesicht, umweht von einem Hauch Melancholie und Nachdenklichkeit.



Die Sala Rotonda – der Saal der Götter und Kaiser

Die Sala Rotonda war der nächste Raum, den wir betraten. Das Element des Runden, dem wir schon im Tempel des Pantheon begegnet waren, wiederholt sich auch hier, aber die hoheitsvolle, feierliche Raumwirkung dieses den sieben Planetengottheiten geweihten Heiligtums wird nicht erreicht, obwohl man in den wesentlichen Architekturteilen das Original zum Vorbild genommen hat: den großen Rundsaal mit den hohen, halbkreisförmigen Nischen, auf deren Wände ein rötlicher Putz aufgetragen ist, und deren Wölbungen, einem Baldachin vergleichbar, als riesige Muscheln gestaltet sind – die Rippen fein vergoldet; dann die vorgesetzten flachen Säulen, sauber kanneliert und die Nischen von beiden Seiten begrenzend und mit korinthischen Kapitellen abschließend, und schließlich die kühne Rundung der Kuppel mit den asymmetrischen Kassettenfeldern auf der Innenschale und mit der Öffnung in ihrem Scheitelpunkt, aus der das Licht in den weiten Raum der Rotonda hineinflutet.
Vielleicht lag es an den vielen Menschen, die wie die Ölsardinen in einer Dose zusammengedrängt waren, vielleicht lag es an unserer Blickrichtung, die nicht zuerst die Halbkugel erfasste, sondern das Zentrum mit der riesigen Brunnenschale, daß sich die Raumwirkung nicht einstellen wollte. Und es ist eigentlich überflüssig zu erwähnen, dass das Pantheon des Vatikan nicht den Gottheiten vorbehalten ist, die den Lauf der Gestirne bestimmen, sondern Kaisern und Göttern bzw. Göttinnen unterschiedlichster Art, die in den acht Nischen ihren vorläufig letzten Platz gefunden haben. Mich interessierten weniger die großen Gestalten als vielmehr die kleinen Büsten des Antinous, des Hadrian und des Zeus.

Wer den Rundsaal – die Sala Rotonda – zum ersten Mal betritt, dessen Aufmerksamkeit wird, wie eben schon gesagt, automatisch auf das gewaltige Brunnenbecken, das Labrum, in der Mitte des Raumes gelenkt. Aus einem einzigen Stein geschlagen, faszinieren noch heute das wunderbare Rot des Porphyrs und seine harmonische Form, einen flachen Bogen beschreibend, und sein enormer Umfang von ca. fünfzehn! Metern. Es lässt den Reichtum erahnen, mit dem sich Nero in seinem Goldenen Haus umgeben hatte. Und wenn man sich dann noch das leise Plätschern des Wassers vorstellt, das in unzähligen Parabeln auf den Grund der weiten Schale niederfiel, hätte man da der Versuchung widerstehen können, wenigstens einmal im Leben den Luxus mit diesem Herrscher zu teilen?
In der gleichen Weise wie uns das Porphyrbecken mit seinem Durchmesser von fast fünf Metern begeisterte, so sehr waren wir auch von dem Bodenmosaik angetan, auf dem es ruht. Uns überraschten der hervorragende Erhaltungszustand, die leuchtenden Farben und die ausgezeichnete handwerkliche Arbeit. Vom Grundriss her einen riesigen Kreis bildend, ist es in acht gleich große Segmente unterteilt, die jeweils von einem umlaufenden Mäanderband eingefasst sind – auf schwarzem Grund, während die eigentlichen Ornamente alternierend in helleren und dunkleren Farben erscheinen, so dass die Zweidimensionalität in eine Dreidimensionalität übergeht.
Im äußeren Bilderkreis hat der Künstler seiner Phantasie freien Raum gelassen, und seine Freude an lustigen Einfällen ist heute noch spürbar: in einer irrealen Welt trifft der Mensch auf die Lebewesen des Meeres, auf verführerische Nymphen und auf Seeungeheuer aller Art mit geschwungenen Schweifen, die am Ende büschelförmig auseinanderfallen.



Die Büsten des Antinous und des Hadrian zu finden, gehörte zu meinen leichtesten Aufgaben. Sie stehen jeweils links und rechts von der Kolossalstatue des Herkules, dieses Muskelpakets aus vergoldeter Bronze, der sich mit der Rechten auf seine Keule stützt und in seiner Linken ein Löwenfell hält. Ich hatte mich in meiner Vorbereitung deshalb auf die Portraits dieser beiden Männer konzentriert, weil wir am Tag zuvor eigentlich die Villa Adriana besuchen wollten, was ja aus den geschilderten Gründen nicht geklappt hatte.
Wie viele andere Fundstücke, so hatte man auch den Kopf des Antinous in der kaiserlichen Residenz von Tivoli ausgegraben und gleich in der neu eröffneten Sala Rotonda ausgestellt, wo er schnell bekannt wurde. Wenn man den Schilderungen, die sich um seine Person ranken, Glauben schenken darf, musste dieser Antinous von der Natur mit einer unglaublichen Schönheit gesegnet gewesen sein und eine sinnliche Ausstrahlung besessen haben, von der der alternde Hadrian nicht loslassen konnte. Er gehörte, obwohl Hadrian mit der schönen Sabina verheiratet war, zum engsten Familienzirkel, und er musste den Kaiser auf seinen vielen Reisen begleiten, so auch nach Ägypten, das die Römer damals in geradezu verklärerischer Weise verehrten. Und das Schicksal wollte es, dass Antinous verunglückte und in den Fluten des Nils versank. Und darüber versank der Kaiser in tiefer Trauer; man sagte, „er habe geweint wie eine Frau“.
Das führte aber nicht dazu, dass er Ägypten aus seinem Gedächtnis verdrängte, im Gegenteil: es wurde für ihn zur Verpflichtung. In seiner Villa in Tibur schuf er sich ein Klein-Ägypten, indem er das berühmte Canopus-Tal anlegen ließ, das von einem künstlichen Kanal durchzogen wurde.


Und nun zurück zur Büste des Antinous: sie zeigt einen jungen Mann in der Blüte seines Lebens mit einem weichen, glatten Gesicht, ebenmäßig geformt, Sympathie und viel innere Wärme ausstrahlend. Schaut man auf seine Haare, dann könnt man meinen, Apoll oder Adonis vor sich zu sehen – so üppig wachsen sie, dass sie in schweren Locken nach unten fallen und Stirn und Nacken bedecken.
Sein Mund mit den schön geschwungenen Lippen, umspielt von einem sanften Lächeln, verrät höchste Sinnlichkeit, und sein Blick, verträumt und tiefgründig, geht hinüber auf die andere Seite und bleibt haften auf dem Antlitz des Mannes, der ihn so abgöttisch geliebt hatte, Hadrian nämlich.


Sein Bildnis hatte man in seinem Grabmal, der Engelsburg, gefunden; es soll erst nach seinem Tod entstanden sein. Man erkennt in ihm nicht gleich den ‚natürlichen’ Hadrian, obwohl einige charakteristische Merkmale, die man mit seinem Typus verbindet, deutlich hervortreten: das flächige Gesicht, das seine gerundete Form noch zusätzlich unterstreicht, der kurz geschnittene Bart, seine Männlichkeit betonend, das volle, dichte Haar und die Wölbung seiner Stirn, die ihn gebieterisch als Herrscher auszeichnet. Aber das ist eigentlich schon alles.
Ansonsten wirkt Hadrian in diesem Portrait vergeistigt, der Wirklichkeit fast entrückt, der sein Umfeld aus der Distanz betrachtend beurteilt und mehr Skepsis als Zuversicht verbreitet. Irgendwie ahnt man, dass die Verantwortung, die er als Lenker des Imperium Romanum tragen musste, Spuren hinterlassen hatte, und dass die permanente Herausforderung, sich immer für das Wohl des Staates einzusetzen und weittragende Entscheidungen für die Zukunft zu treffen, ihn hatte einsam werden lassen.
Sein Kopf ist leicht geneigt, und so ruht heute sein Blick auf dem jungen Mann, den er aus tiefstem Herzen und voller Inbrunst geliebt hatte. Auf diese Weise kommt es hier in der Sala Rotonda zum erneuten Tête-à-tête zwischen Liebhaber und Geliebtem und das unter den Augen des sittenstrengen Vatikan, der nur allzu gut weiß, dass auf dem ‚Webstuhl der Zeit' das Leben immer wieder neu geschaffen wird, nicht nur das Leben des Einzelnen betreffend, sondern auch im Hinblick auf die Beziehungen untereinander. Die sich daraus ergebenden Muster können so zahlreich sein wie 'der Sand am Meer' und so bunt wie die schillernden Farben eines Regenbogens; von daher wird der Bühne des Welttheaters niemals der Stoff ausgehen.

Und nun zum letzten Bildnis. Eigentlich hätte ihm meine Aufmerksamkeit nicht zum Schluss, sondern gleich am Anfang gebührt: es handelt sich um das mächtige Haupt des Zeus, auf das man gleich am Eingang der Rotonda stößt. Man hatte es – wie übrigens das schöne Bodenmosaik auch – in dem kleinen Städtchen Otricoli geborgen, einer Ortschaft nördlich von Rom an der Via Flaminia gelegen, auf dem halben Wege zwischen Viterbo und Terni. Der Kopf des Zeus ist kein Original, sondern eine Nachbildung eines Werkes aus dem 4. Jahrhundert, was ich aber nicht für einen Nachteil halte, denn selbst in diesem Modell lassen sich noch wesentliche Merkmale des Urbildes erkennen und leuchtet die geniale Idee seines Schöpfers hervor.
Der markante Zeus-Kopf zählt zu den bekanntesten Statuen seiner Art: er fehlt deshalb in keinem Schulbuch, und wenn es darum geht, in die Welt der antiken Götter einzuführen, wird er gerne als deren Kronzeuge genommen. Auch mir war das Gesicht seit meiner Kindheit vertraut, denn in meinem alten Geschichtsbuch gab es ein kleines Schwarz-Weiß-Photo von ihm, und schon damals hatten mich die Aura seiner Unnahbarkeit und sein von allen Zweifeln befreiter Selbstanspruch, Souverain des Weltgeschehens zu sein, tief beeindruckt.

Vor uns sehen wir das prächtige Portrait des weltbeherrschenden Zeus, der uns in furchterregender und achtungsgebietender Majestät gegenübertritt. Sein Haupt ist umwallt von einer unglaublichen Fülle lockigen Haares, und der dichte Wuchs seines gekräuselten Bartes unterstreicht den unbeugsamen Willen des Mächtigsten unter den Unsterblichen. Der vorspringende Wulst auf seiner Stirn, der von der Nasenwurzel bis zum Haaransatz reicht, ist das Markenzeichen eines Weltenlenkers, der Schöpfung ordnen, das Chaos bezwingen und das Schicksal des Kosmos bestimmen will. Wehe dem, der sich seinem Willen widersetzt: er wird ihn mit seinem flammenden Zorn strafen. Auch vor seinem Blick ist niemand sicher. Wohin man auch fliehen würde, er wäre schon zur Stelle!
Und dann der kraftvolle Mund: er steht für Entschlossenheit und Durchsetzungsfähigkeit und ist das Organ, den Willen des „uralten, heiligen Vaters“ (Goethe) zu verkünden und dem Recht Geltung zu verschaffen. Seine Worte, einmal ausgesprochen, bleiben bestehen bis in alle Ewigkeit. Nicht einen Deut würde er davon zurücknehmen..



In der Sala Rotonda wiederholte sich, was wir im Vestibolo Rotondo auch schon beobachten konnten: auch hier wurden die Besucherströme umgelenkt, zum zweiten Mal also, um dann auf den langen Galerien zum Allerheiligsten, der Sistina, zu gelangen. Zwangsläufig kam es in in der Rotonda zum Stau, denn zu dem Publikum, das sich hier – motiviert durch persönliches Interesse an den großartigen Kunstwerken – eingefunden hatte, gesellte sich noch der Durchgangsverkehr.
Einen flüchtigen Blick auf meinen Lageplan werfend, wusste ich, dass wir uns immer weiter vom Braccio Nuovo entfernten. Da ich Bedenken hatte, ob es noch einen anderen Eingang als den vom Museo Chiaramonti aus gäbe, wandte ich mich vorsichtshalber an einen der Kustoden: „Scusi, come faccio ad arrivare al Braccio Nouvo? Continuare il giro?“ – „Mi dispiace, non è possibile. Deve tornare indietro!“


Wie wir uns in diesem Augenblick vorkamen, kann man sich ja leicht vorstellen: wir waren gezwungen, den gesamten bisherigen Weg zurückzugehen, und gegen eine Wand von Menschenleibern anzukämpfen, die von hinten unerbittlich vorwärtsdrängte. Wir spürten mit einem Mal, wie sich die Angriffslust der oben beschriebenen Schlangen mit den furchterregenden, blutigen Mähnen auch auf uns übertrug, nur mit dem Unterschied, dass wir die Distanz nicht mit gewaltigen, kreisenden Schlägen überbrücken konnten, sondern wir mussten uns wie zwei glatte Aale – jede Lücke nutzend – durch die Menge hindurchwinden.


Köpfe, nichts als Köpfe … und dazwischen ein ‚alter Bekannter’

Als wir in der Galleria Chiaramonti ankamen, wurde es schlagartig besser, der Ansturm hatte nachgelassen, und wir konnten den langen Korridor im Sturmschritt durcheilen. Es ging an hundert und aberhundert Köpfen und Statuen vorbei, es wollte kein Ende nehmen. Und wie der Zufall es wollte, traf ich einen alten ‚Bekannten’ wieder. „Warte doch mal!“, rief ich meiner Frau hinterher, die sich ein paar Schritte von mir entfernt hatte. „Kennst diesen ‚galligen Alten’ wieder? Aber Vorsicht! Nicht, dass du meinst, man habe ihn mit mir verwechselt!" (Sollte ein Scherz sein) Ich deutete dabei mit der Hand auf ein auffallend markantes Gesicht. Sie konnte es nicht einordnen, mir dagegen hatte es sich seit meiner Schulzeit bis heute unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingebrannt: es gehörte dem Konsul Gaius Marius, der als Feldherr die Teutonen und Kimbern mit seinem Berufsheer vernichtend geschlagen hatte.

Das Portrait dieses Gaius Marius ist sehr realistisch, es stellt ihn allerdings als schon älteren, verknöcherten Mann dar, der nichts Sympathisches ausstrahlt, sondern der eher ‚gallig’ und verbittert wirkt, fast so, als sei er Opfer seines eigenen Starrsinns geworden. Schon damals als Schüler fühlte ich mich von ihm so provoziert, dass ich an seinem Gesicht mein ‚künstlerisches’ Talent ausprobieren musste, indem ich an einigen Partien Veränderungen vornahm, um seine Verunstaltungen noch um einige Grade zu erhöhen.
Durch das schüttere Haar tritt die Wölbung seiner Stirn noch deutlicher hervor als sie es in Wirklichkeit schon tut, die ihn aber nicht als Intellektuellen ausweist - ‚vergeistigt’ durch lebenslanges Nachdenken - sondern es ist die Stirn eines vom Leben Gebeutelten und Enttäuschten, der nicht gerade mit Stolz auf das, was er als Mensch geleistet hat, blicken kann. Die drei Längsfalten über der Nase, die zipfelartigen Ausstülpungen seiner Augenbrauen und der angestrengte Blick seiner hervortretenden Augen deuten an, dass er verzweifelt nach einem Ausweg sucht, um seine innere Verkrampfung und selbstverschuldete Isolation zu überwinden, aber auch, dass seine Bemühungen wieder nur im Desaster, in einem Tobsuchtsanfall stecken bleiben.
Faltenreich auch sein übriges Gesicht: im Bereich Nase-Mund und auf den Wangen haben die Ereignisse eines bewegten Lebens tiefe Spuren hinterlassen, und sogar in der leicht herunterhängenden Unterlippe, die ihn wie einen nach Luft ringenden Asthmakranken aussehen lässt, spiegelt sich sein Charakter: er ist ein Mann, der nie gelernt hatte, auf andere Rücksicht zu nehmen oder mit Bedacht an Probleme heranzugehen, sondern der es gewohnt war, im Alleingang Entscheidungen zu treffen und Ziele zu verfolgen, wobei Taktlosigkeit und Unbeherrschtheit dazu gehörten und Mittel zum Zweck waren.



Der Braccio Nuovo - il bracccio nobile, der vornehme Trakt

Bald hatten wir Braccio Nuovo erreicht, den Neuen Trakt, der als Querarm die nördliche Begrenzung des Cortile della Pigna bildet und die langen Galerien der VM miteinander verbindet. Bei diesem Flügel handelt es sich um eine lang getreckte Halle mit hoch aufragenden Wänden und einem Tonnengewölbe, unterteilt in regelmäßige Kassetten mit eingelegten Rosetten. Die Mitte des Raumes ist überspannt von einer flach gewölbten Kuppel, in den großzügig gestalteten, mit hellblauem Hintergrund versehenen Nischen stehen überlebensgroße Standbilder, und in den Boden sind antike Mosaike eingelassen. Der Braccio Nuovo empfängt sein gesamtes Licht von oben, das ihn gleichmäßig ausleuchtet, ihm einen feierlichen Glanz verleiht und die Statuen plastisch und lebendig werden lässt. Mit der Weite des Raumes und seinen erstaunlichen Dimensionen hatten wir nicht gerechnet, und irgendwie glaubten wir in ihm die phantastische Architektur der Caracalla-Thermen wiederzuentdecken.

Erfreulicherweise kam hinzu, dass sich die Zahl der Besucher in Grenzen hielt, und es war das erste Mal auf unserer Besichtigungstour, dass wir uns ganz entspannt der hier ausgestellten Kunst widmen konnten. Warum dieser Museumstrakt in meinen Vorbereitungen kaum Berücksichtigung fand, kann ich mir bis heute nicht erklären, denn in ihm ist eine Vielzahl hochkarätiger Statuen und Büsten zu sehen - nicht nur der Augustus von Prima Porta oder der liegenden Nil, sondern der Lanzenträger, Demosthenes, Euripedes, Asclepius, Commodus, Titus, eine Athena - das sind nur die Namen einer kleinen Auswahl von bedeutenden Figuren.
Rückblickend kann ich nur jedem Forennutzer von roma-antiqua dringend ans Herz legen, beim vorgeplanten Besuch der VM nicht den Braccio Nuovo zu übergehen. Am besten wäre es, hier mit dem Rundgang zu beginnen. Ich garantiere, dass die Sammlung der hier zu bewundernden Bildwerke und die angenehme Atmosphäre dieses Traktes ihn genauso begeistern wird wie uns.


Zielstrebig steuerten wir das wohl bekannteste und bedeutendste Standbild des Braccio Nuovo an, den Augustus von Prima Porta, benannt nach dem Ort, wo man ihn gefunden und wo die prächtige Villa „Ad Gallinas“ gestanden hatte, der Alterssitz der Livia Drusilla, der (dritten) Ehefrau des Kaisers Augustus. Prima Porta lag etwa 15 Km nördlich von Rom, schon mitten in der Campagna, an der Via Flaminia, und man weiß von Livia, dass sie lieber auf dem Lande lebte in ihrer vertrauten Umgebung und entzückenden Villa als in dem unübersichtlichen Palastgewirr auf dem Palatin. Von daher war es verständlich, dass sie sich nach dem Tod des Augustus, mit dem sie übrigens über fünfzig Jahre glücklich verheiratet war, hierher zurückgezogen hatte. Zur Erinnerung an den Mann, dem sie über ein halbes Jahrhundert treu verbunden und der nach dem Tod als Divus, als Vergöttlichter, in den Götterhimmel aufgefahren war, hatte sie sein Standbild aufstellen lassen, und zwar an einer Ecke ihrer weiten Terrasse, von der er seinen Blick über die Via Flaminia in die hügelige Landschaft der Campagna schweifen lassen konnte. Wie viele andere antike Orte so ist auch dieser Landsitz in Vergessenheit geraten und vom schützenden Mantel der Erde überdeckt worden, und von ihr eben auch die überlebensgroße Augustusstatue, die für die schönste und am besten erhaltene angesehen wird – sicherlich der ausschlaggebende Grund für ein ganzseitiges Photo in meinem alten Geschichtsbuch aus längst vergangenen Schülerzeiten.

Diese wunderbare Arbeit stellt Augustus als Feldherrn dar – als eine Art Heilsbringer, in der Blüte seines Lebens stehend, und mit dem Habitus eines selbstbewussten Herrschers (princeps). Auffallend seine kriegerische Rüstung, sein Harnisch, mit einer Vielzahl von Verzierungen, auffallend der Schwung eines falten- und stoffreichen Tuches, das er dekorativ um die Hüften geschlungen hat, und dessen langes, zusammengerafftes Ende über seinem linken Arm nach unten fällt. Auffallend, dass er mit nackten Füßen dasteht – für einen Feldherrn eher ungewöhnlich und eigentlich nur Gottheiten und Heroen vorbehalten. Für die Fachleute ein klarer Beweis, dass es sich hier nicht um ein realistisches Portrait, das seinem Aussehen und Charakter entspricht, sondern dass es sich um ein frei erfundenes, idealisierendes Bildnis handelt.
Und auffallend auch der halb erhobene rechte Arm – keine Ruhe gebietende Geste wie bei Marc Aurel, der sich mit einer Ansprache (adlocutio) an seine Truppen wendet, sondern eine Geste als Gruß verstanden und als Zeichen des Friedens, der Pax Romana.



Die Idee der Pax Romana wird auch in den Dekors auf seinem Panzer entfaltet. Nehmen wir die Szene in der Mitte: ein bärtiger Mann mit wirren Haaren, langen Hosen und kurzem Leibrock hält in seinen Händen ein römisches Feldzeichen, mit Adler und Medaillons geschmückt, das ein römischer Offizier, in voller Rüstung und in Begleitung der kapitolinischen Wölfin, entgegennimmt. Von Kampf, Unterwerfung oder Demütigung keine Spur, es ist eine Geste des guten Willens, des Friedens und der Versöhnung: die pax romana als Botschaft, als Programm einer neuen Ära, der ‚Saturnia Regia’ oder des ‚Imperium sine fine', wie es bei Vergil heißt. An dieser pax romana sollen alle Provinzen und Völker teilhaben, auch diejenigen, die nach ihrer Unterwerfung um ihre Selbständigkeit bangen – symbolisch dargestellt durch zwei Frauengestalten in tiefer Niedergeschlagenheit und Trauer.

Dass die Pax romana mehr war als sich dem Willen römischer Herrschaft zu beugen, wird in den Ziselierungen oberhalb und unterhalb der Mittelreliefs veranschaulicht: hier wird sie in ein universales, göttliches Geschehen eingebunden. Der Himmelsgott Caelus hat das Firmament wie ein Segel über die ganze Szenerie ausgebreitet. Von links braust der Sonnengott auf einem Viergespann heran, und von rechts sieht man zwei Gottheiten vorbeifliegen – die Göttin der Morgenröte mit der Fackel und die Taugöttin mit dem Krug.
Am unteren Rand der Rüstung ist die Zone der Erde dargestellt; man erkennt Gäa, die Mutter Erde, auf dem Boden liegend, mit Füllhorn und zwei Kleinkindern, die sich liebevoll an sie schmiegen. Flankiert wird sie von den Schutzgöttern des Augustus, von Apoll mit Lyra, auf einem Greifen heranfliegend, und von Diana, der Göttin der Jagd, getragen von einem heranstürmenden Hirschen.
In welchem Kontext stehen die obere und untere Szene? Wie sind sie zu verstehen?
In der Sphäre des Himmels bricht ein neuer Tag heran, der gleichzeitig den Beginn eines neuen Zeitalters markiert. Von seinen Segnungen werden alle profitieren: die Natur, die verschwenderisch ihre Gaben austeilt, die Kunst, deutlich gemacht durch Apoll, und schließlich alle Völker und Nationen des Imperium Romanum, die zivilisierten wie auch die barbarischen. Sie alle werden eine Zeit des Friedens, der gemeinsamen Ordnung und Kultur, des Rechts und der einheitlichen Sprache erleben – die pax romana, die als völkerverbindende Idee den gesamten Erdkreis, den orbis terrae, zusammenhält. Und der erste Schritt dahin ist auch schon getan: mit der Herausgabe der römischen Feldzeichen nämlich.


Der Nil

Bevor wir gleich die Welt der Antike verlassen, möchte ich mich noch der berühmten Gruppe des liegenden Vater Nil zuwenden, die man Anfang des 16. Jahrhunderts in der Nähe der Kirche S. M. sopra Minerva, also im Bereich des römischen Isis-Tempels, ausgegraben hatte.
Es war üblich, Flussgötter nackt darzustellen, da macht der personifizierte Nil keine Ausnahme. Er hat sich nach getanem Werk auf einem Tuch bzw. auf seinem Gewand niedergelassen, das den Launen des Zufalls preisgegeben unter ihm ausgebreitet ist, aus dessen Falten und Bäuschen unzählige Quellen entspringen, die ihre Wasser sprudelnd und gurgelnd in alle Himmelsrichtungen verteilen. Er scheint mit sich, seinem Leben und der ihn umgebenden Natur im Reinen zu sein als sichtbarer Beweis tief verwurzelter Selbstzufriedenheit, die in stoischer Gelassenheit ihren Höhepunkt erreicht; seinen massigen Oberkörper hat er an eine Sphinxstatue angelehnt, die mit maskenhaftem, undurchschaubarem Gesichtsausdruck und mit einem stechenden, die Ferne fixierenden Blick nicht in das quirlige Geschehen einbezogen wird, sondern als Randfigur reine Staffage bleibt.
Während Vater Nil mit der Linken ein von allerlei Früchten überquellendes Füllhorn umgreift, ruht der rechte Arm entspannt auf seinem Oberschenkel, der Linie des zur Seite geneigten Körpers folgend. Seine Hand, halb geöffnet und umspielt von zwei krabbelnden Kindern, gibt einen Büschel Ähren frei, die sich unter der Last des eigenen Gewichts tief nach unten senken.
Anders als beim majestätischen Zeus, dessen Gesicht von einer wallenden Lockenpracht umrahmt wird, ziert den Nil ein dicht verwobenes Geflecht aus Blüten, Schilfblättern und Ähren und soll wohl daran erinnern, dass die Fruchtbarkeit Ägyptens ein Geschenk des Nils, des hapi wie er in Ursprungssprache heißt, und der schwarzen Erde ist, die er aus der unendlichen Tiefe Afrikas heranschafft. Im Gegensatz zum Berühmtesten unter den Göttern des Olymps (unter den ‚Himmlischen‘), der alles in seiner Macht Stehende versucht, um die Kräfte der Welt beherrschend zu binden, lebt der Flussgott aus dem Bewusstsein eines ewig fließenden Stromes, der verlässlich im Rhythmus der Zeit das Land mit segensbringender Fracht überschwemmt.
Lustig auch die kleinen Kinder – allesamt Jungens, pausbäckig und mit Fettpölsterchen reichlich bedacht: sie umspielen Vater Nil bzw. klettern auf ihm herum und geben mit ihrer jeweiligen Position die Höhe an, um die der Fluss anschwellen konnte. Einer dieser flinken Bengel hat es sogar bis zum Füllhorn geschafft; stolz ragt er da heraus und deutet an, wie hoch der Nil im Idealfall steigen kann, um dem Land eine Zeit der Fruchtbarkeit, der reichen Ernten und des Wohlstandes zu bringen.
Unwillkürlich muss ich an meinen Religionsunterricht in den ersten Nachkriegsjahren denken, der in den alten Gemäuern einer provisorisch eingerichteten Volksschule stattfand. So sah mein Klassenzimmer aus: ein Ungetüm von Kanonenofen links neben dem Katheder, rustikale mit Bohrungen für die Tintenfässer! versehene Holzbänke, die den Raum in zwei Blöcke unterteilten und 50! Kindern Platz boten, eine große schwarze Wandtafel, fest montiert, mit rauer Oberfläche und ein von Schuh-nägeln und -eisen strapazierter Parkettfußboden, der immer so einen schweren, den Atem nehmenden Geruch verströmte, weil zur Reinigung und Pflege ein billiger, von grünen Holzspänen durchsetzter Industriebohnerwachs zum Einsatz kam.
In der Erinnerung sehe ich Bilder vor mir aus den Tagen, die für Ägypten eine glückliche Fügung des Schicksals bedeuteten, wo den Menschen ein Überangebot an allen lebensnotwendigen Gütern der Erde zur Verfügung stand (Getreide, Fleisch und Fisch, Gemüse und Früchte jeglicher Art), und wo Not und Entbehrung unbekannt waren. Was für ein Gegensatz zur Wirklichkeit von damals! Aus biblischer Sicht waren damit die 'fetten' Jahre Ägyptens gemeint, die in den unterhaltsamen Josephsgeschichten der Genesis (1. Buch des Mose 41, 1 - 36) thematisiert sind:
Beunruhigt über seine nächtlichen Träume ließ der Pharao Joseph, den 'Hebräer', zu sich rufen: ihm schien, als seien sieben wohlgenährte Kühe aus dem Nil gestiegen, die im Riedgras umherzogen um zu weiden; später gesellten sich sieben andere Kühe dazu, die - abgemagert und hässlich - über die schönen, prächtig entwickelten Kühe herfielen und sie in ihrem Bauch verschwinden ließen, ohne dass äußerlich eine Veränderung zu erkennen war. Der Pharao träumte ein zweites Mal: an einem einzigen Halm wuchsen sieben schöne volle Ähren, danach trieben an einem anderen Halm sieben kümmerliche, vom Wind verdorrte Ähren aus und verschlangen die prallen.
Obwohl der Pharao alle Weisen und Wahrsager seines Landes befragte, wusste niemand Rat. Nur Joseph - von Gott autorisiert - sah sich imstande seinen Traum zu deuten, und so überzeugend, dass die dunklen Gedanken des Königs schnell verflogen und bei ihm wieder Vernunft einkehrte, um die für die Vorsorge notwendigen Schritte einzuleiten: "Es ist ein und derselbe Traum", erklärte er. "Sieben Jahre lang wird Ägypten eine Periode des Überflusses und der Fruchtbarkeit erleben, dann wird man von den Wohltaten der Natur nichts mehr merken. Sieben Hungerjahre werden folgen, das Land veröden und großes Leid über das Volk bringen".

Und noch einmal zurück zu unserer Figurengruppe. Was wäre der Fluss ohne seinen Tierreichtum? Deshalb gehören Krokodil, Flusspferde, ein kleines Raubtier, spezialisiert auf das Fangen und Töten von Schlangen, und noch viele andere Tiere dazu. Ihr Lebensraum ist die Basis der Figurengruppe, und als Spielgefährten der Kinder vervollständigen sie das Bild einträchtiger Harmonie.
 
Zuletzt bearbeitet:
Seneca,
das hast Du gut und richtig beschrieben.

Was soll ich sonst noch dazu sagen?
Fragt sich
patta
 
Seneca,
sicher haben schon viele Foristi genauso gelitten wie du. Wo ist die Sixtina? Wie komme ich am schnellsten in die Sixtina? Und dann?
Das Jüngste Gericht, das ja noch relativ leicht zu verstehen ist. Die Deckengemälde? Schön und gewaltig! Selbst Kunstkritiker sind sich ja über den hintergründigen Sinn nicht einig; was für mich schließlich die Klasse der ganz großen Kunst ausmacht. Für die hervorragenden Wandgemälde hat kaum noch jemand ein Auge. Geschweige denn für die vielen Kunstwerke im Gesamtkomplex des Museums.

Aber was ist die Alternative? Du hast einige Möglichkeiten aufgezeigt. Eine andere wäre, nur noch geführte Touren, wie teilweise in Florenz, anzubieten. Das würde mich abschrecken. Ich glaube, dass die Unterhaltung der Museen eine Menge Geld verschlingt. Also muss man Massen anlocken, die ja "auch noch" kommen. Für den nicht ganz so erfahrenen Museumsbesucher, wie mich, reicht der offizielle Museumsführer, bei dem ein oder anderen Besuch zusätzlich der Audioguide und natürlich zu den wichtigsten Schätzen weitere Erläuterungen, Kritiken aus Büchern und/oder Internet.
Wenn man sich dann nicht zu viel auf einmal vornimmt und drei bis vier Stunden Zeit, sowie Geduld mitbringt, kann auch heute der Busuch der VM ein Genuss sein.
Vielleicht sollte für Experten eine Regelung außerhalb der normalen Öffnungszeiten gefunden werden; z.B. Themenführungen etc.

Ich werde jedenfalls unabhängig von der jeweiligen Regelung das Museum weiterhin alle paar Jahre besuchen; am liebsten alleine.

Schließlich lieben wir Rom ja vielleicht auch deshalb, weil nicht alles so generalstabsmäßig organisiert ist.

Gruß
Ludovico
 
Ja, auch ich würde die drei ersten Vorschläge von dir, Seneca, unterschreiben. Insbesondere der Trennung von Sistina und VM könnte ich einiges abgewinnen. Man könnte sogar zweimal Eintritt nehmen:roll: und könnte sicher auch mehr Personen durch die Sistina schleusen.

Mir tut es auch sehr leid, zu sehen, wie wenig die exquisiten Exponate der VM zu ihrem Recht kommen und wie schwierig es bei dem Durchgangsverkehr ist, sich ihnen angemessen zu widmen.

Gruß gengarde
 
Hallo und Moin, Moin Seneca!


VIELEN DANK

:thumbup: :thumbup: :thumbup: :thumbup: :thumbup:

für Deine schöne Ergänzung des Sonntagberichtes und jaaa, die VM sind so ein Thema für sich ......



Gruß - Asterixinchen :)
 
Hallo Patta, caro Ludovico, lieber Gengarde, chère petite Astérixe,

Erst jetzt komme ich dazu, mich für Euer Interesse an meinem Bericht zu bedanken. Es ist gut zu wissen, daß Ihr ähnliche Erfahrungen gemacht habt wie wir. Alle schwärmen von den VM, aber unter den beschriebenen Umständen kann ich das nicht ganz nachvollziehen. Vielleicht war es in unserem Fall besonders schlimm, weil wir den Besuch der VM auf einen Montag gelegt hatten, an dem viele andere Museen in Rom geschlossen sind.
Natürlich ist unbestritten, daß für die Unterhaltung der VM ein hoher finanzieller Aufwand nötig ist, und daß kommerzielle Gesichtspunkte eine bedeutende Rolle spielen, aber unser Eindruck war, daß es den Verantwortlichen nur darum geht abzukassieren; wie die Leute mit der Kunst zurechtkommen, wie das Verständnis für die wichtigsten Werke geweckt werden kann, darüber macht sich offensichtlich keine Gedanken. Da setzt ja unsere Kritik an.
Dein Vorschlag, Themenführungen anzubieten, lieber Ludwig, hat mich besonders überzeugt, und ich würde ihn gerne - Deine Erlaubnis vorausgesetzt – in meinem Bericht aufnehmen. Themenführungen könnten durchaus bei laufendem Betrieb stattfinden. Es gibt ja einige Bereiche in den VM, die kaum besucht sind wie z. B. der Braccio Nuovo oder die Pinakothek: da ließen sich solche Veranstaltungen sehr gut durchführen.
Nochmals vielen Dank für Eure Anregungen.

Ciao, e alla prossima
Seneca
 
Seneca schrieb:
Vielleicht war es in unserem Fall besonders schlimm, weil wir den Besuch der VM auf einen Montag gelegt hatten, an dem viele andere Museen in Rom geschlossen sind.

Das, lieber Seneca, ist schon fast ein Anfängerfehler - wenn Du es vorher schon gewusst haben solltest :nod:

meint
patta
 
Die Vatikanischen Museen - 2. Teil: die Renaissance oder die Welt der Päpste


Mit dem Verlassen des Braccio Nuovo hatten wir auch den Bereich der Antike verlassen, und wir sollten bald in die Welt der Renaissance bzw. der Päpste eintreten, insbesondere in die Privatgemächer von Julius II, dem mächtigsten Pontifex der damaligen Zeit. Tief durchdrungen von der Idee eines neuen Goldenen Zeitalters, wollte er an die ruhmreichen Zeiten eines Augustus anknüpfen und ihn noch überbieten durch den Glanz einer von der Architektur und Kunst erneuerten Stadt. Nichts sollte mehr an die Lebensunsicherheit des mittelalterlichen Roms erinnern, an Armut und Straßenräuberei und an die zermürbenden Machtkämpfe der Adelsgeschlechter. Nichts sollte mehr erinnern an dunkle Mystik und an den kollektiven Wahn der Inquisition und religiöser Rituale, die mehr von Aberglauben als von Glauben zeugten. Alles sollte erstrahlen in neuer Klarheit und in einem Geiste, der das Individuum und die in ihm verborgenen Kräfte wiederentdeckte. Und es waren die Päpste, die die im mittelalterlichen Denken verhaftete Kirche in die Zeit der Renaissance und ihrer humanistischen Gesinnung führen sollten, obwohl aus unserer heutigen Sicht der Lebenswandel einiger dieser Weltbeweger im krassen Gegensatz stand zu den Idealen, die diese Zeit hervorgebracht hatte – allen voran der Borgia-Papst Alexander VI., der – seinem gewissenlosen und dämonischen Sohn Cesare in allem hörig – die Kirche an den Rand des Abgrunds geführt hatte, und der bis heute als Kronzeuge gegen eine kirchliche Autorität auftreten muß, die sich durch Begünstigung, Korruption und moralische Zügellosigkeit selbst disqualifiziert hatte.


Der Marsch durch endlos lange Galerien

Bis wir aber die Welt der Päpste betreten konnten, mussten wir erst einen längeren Weg zurücklegen. Wäre es nach uns gegangen, dann hätte es nach dem Besuch des Braccio Nuovo eine Zäsur gegeben: wir hätten den ersten Teil unseres Besichtigungsprogramms beendet, um am nächsten Tag ausgeruht und wieder aufnahmefähig die Kunst der Renaissance für uns zu entdecken. Ich bezweifle jedoch stark, ob eine solche Unterbrechung in den Statuten der VM vorgesehen ist. Aber man könnte es ja durch Fragen in Erfahrung bringen.
Wie dem auch sei, für uns hieß es an diesem Tag: ‚Augen zu und durch’, oder besser: Augen auf und wieder hinein in das Massengewühl. Mir graute davor! Einmal im Strom drin, wurden wir vom Sog der Leute mitgerissen. Schneller als wir dachten, hatten wir die Räume, auf die ich im ersten Teil näher eingegangen bin, durchschritten. Nach der Sala Rotonda setzte sich der Rundgang in endlosen Gängen fort: Galleria dei Candelabri – Galleria degli Arazzi (Galerie der Wandteppiche) – Galleria delle Carte Geografiche - in dieser Reihenfolge durcheilten wir die Korridore.
Unterwegs überlegte ich mir, wie wir unser restliches Programm weiter ‚abspecken’ und auf welche Räume wir am ehesten verzichten könnten; unsere Wahl fiel auf das Appartamento Borgia. Denn wenn wir unsere inneren Signale richtig interpretierten, dann war unsere Aufmerksamkeit längst an Grenzen gestoßen. Eigentlich hatten wir das Maß dessen, was man gedanklich und emotional verarbeiten konnte, überschritten. Und ein Übermaß an Eindrücken schadet mehr als es nutzt.

Dadurch, dass sich in der letzten Galerie ein Rückstau gebildet hatte, konnten wir immer mal wieder einen Blick auf die großartigen Landkarten werfen, die man auf die Wandflächen zwischen den Fenstern aufgemalt hat. Dargestellt sind die Landschaften Italiens – mehr in Form von Ansichten als in wissenschaftlicher Hinsicht den Ansprüchen topographischer Genauigkeit zu genügen. An uns zogen Landschaftsbilder vorbei, deren Faszination auf einem intensiven Farbspiel beruhte: blau und grün waren die dominierenden Farben, die sich im ständigen Rhythmus wiederholten; die Farbe ‚rot’ war den Ortschaften und Städten vorbehalten, von denen die wichtigsten in detailgetreuer Wiedergabe als Veduten festgehalten sind. Die natürliche Grenze zwischen den östlichen und westlichen Regionen Italiens bildet der Apenninen.



Wieder einen Schritt weiter: endlich im Apostolischen Palast

Der Weg zu den Stanzen Raffaels ging weiter auf einem Steg, der von außen um den Apostolischen Palast führte und bald den ersten der als ‚Stanzen’ bezeichneten Räume erreichte, die die Wohnung von Papst Julius II. bildeten, deren Decken und Wände vom Genie eines Raffael mit den schönsten Renaissancemalereien überzogen sind.

In der Sala di Constantino, wo die wichtigsten Stationen aus dem Leben dieses Herrschers in großartigen Fresken festgehalten sind, hielten wir kurz inne, um das monumentale Schlachtengemälde vom Sieg des Kaisers über seinen Rivalen Maxentius an der Milvischen Brücke zu betrachten, das aber ohne die Kreuzesvision Konstantins nicht denkbar ist.
Während bei Raffael die Malerei dem Prinzip der Schönheit und Harmonie – Markenzeichen seines alles überstrahlenden Geistes – unterworfen ist, so wird auf den Fresken im Konstantinssaal ein anderes Prinzip erkennbar: den entscheidenden, den flüchtigen Augenblick eines dramatischen Geschehens in Szene zu setzen.


- Die Kreuzesvision Konstantins:

Fangen wir an mit dem Fresko, das die Erscheinung des Kreuzes kurz vor der Entscheidungsschlacht an der Milvischen Brücke zum Thema hat: Konstantin in kaiserlicher Rüstung und in Begleitung eines Prätorianers ist aus seinem Luxuszelt, mit Girlanden und Emblemen reich geschmückt, herausgetreten, um auf einer Plattform – einer Art Rednerbühne aus Stein – seinen eilig herbeigelaufenen Soldaten mit bewegtem Gestus die Himmelserscheinung zu deuten. Sie haben sich in einem Halbkreis um ihn versammelt, Feldzeichen und lange Speere mit Fahnen und einem geflügelten Drachen mit sich führend, und folgen in gespannter Erwartung seinen Worten, die Blicke teils auf ihn, teils nach oben gerichtet. Schwere dunkle Wolken haben den Himmel verfinstert, dräuend verkünden sie Unheil: plötzlich reißen sie auf, und im Glanze gleißenden Lichts schweben Engel herbei und halten ein großes, weithin sichtbares Kreuz – rot ausgemalt – in ihren Händen. Die göttliche Botschaft erscheint als Inschrift in griechischer Sprache auf einem Lichtstrahl: „Durch dieses siege (nika)!“
Schon mehr im Hintergrund sieht man eine weitere Gruppe von Soldaten herbeistürmen, die mit erhobenen Händen auf das Wunder am Himmel zeigen und den Kaiser mit Zurufen darauf aufmerksam machen.
In der Ferne erkennt man das alte Rom: man schaut auf den Tiber, überspannt vom Pons Aelius (Engelsbrücke), links und rechts davon die Mausoleen des Augustus und des Hadrian, und gegen den aufhellenden Horizont zeichnen sich die dunklen Umrisse einer Pyramide ab, der vermuteten Grabstätte des Romulus.



- Die Schlacht an der Milvischen Brücke:

Der Sieg Konstantins an der Milvischen Brücke (Ponte Molle) ist das bedeutendste unter den Fresken in der Sala di Constantino, und den Entwurf (das concetto) zu diesem Schlachtengemälde hat Raffael noch erstellt. Es lebt vom erbitterten Kampf der beiden feindlichen Heere, die sich ineinander zu einem unentwirrbaren Knäuel verkeilt haben: es ist ein Kampf auf Leben und Tod, in dem es keine Gnade mit dem Gegner gibt. Krieger werden erbarmungslos niedergemetzelt, Pferde versuchen die Phalanx des Fußvolkes zu durchbrechen. Wer gestürzt ist oder seine Waffe verloren hat, wird zur leichten Beute seines Gegenübers und verliert sein Leben unter den wuchtigen Hieben eines Schwertes oder wird von einem Speer durchbohrt.
Aus der Mitte diese Kampfgewühls erhebt sich die majestätische Gestalt des Konstantin. Im sicheren Gefühl des Sieges schreitet sein kostbar geschmücktes Pferd über die gefallenen Feinde. Ihm folgen die Träger mit den Feldzeichen, verziert mit dem triumphalen Signum des Kreuzes, es folgen die Fahnenträger und zu guter Letzt die Trompeter, die mit Posaunenschall den Sieg Konstantins verkünden und damit das Ende der Verfolgungszeit und gleichzeitig den Beginn der christlichen Herrschaft. Engel schweben über ihm, und als Boten Gottes weisen sie ihm den Weg durch das Getümmel Richtung Tiber, wo einige der Besiegten noch versuchen schwimmend oder auf Booten das rettende Ufer auf der gegenüberliegenden Seite zu erreichen – aber vergeblich: überfüllt und zum Kentern verurteilt sind sie gnadenlos den Pfeilen der Bogenschützen ausgeliefert.
Auch für Maxentius ist die letzte Stunde angebrochen: er ist in die Fluten des Tibers gestürzt zusammen mit seinem Pferd, das sich verzweifelt gegen den Untergang aufbäumt. In einer letzten Kraftanstrengung klammert er sich an die Zügel seines Pferdes und starrt mit Entsetzen auf Konstantin, der mit seiner Lanze zum finalen Todesstoß ausholt.





In der Stanza d’Eliodoro

Die Stanza d’Eliodoro war unser nächstes Ziel. Benannt ist dieser Raum nach der Vertreibung Heliodors und seiner Gefährten (seiner Leibwache) aus dem Tempel von Jerusalem, die vom Syrerkönig Seleukos beauftragt worden waren, den Tempelschatz zu rauben; sie wurden dabei überrascht, und schon auf der Flucht, von einem heransprengenden himmlischen Reiter eingeholt – assistiert von zwei Engeln oder wie es im Alten Testament heißt, von ‚zwei jungen Männern, voll gewaltiger Kraft, in strahlender Schönheit und herrlich gekleidet’ (vgl. 2 Mak 3, 23 ff). Dabei wurde Heliodor zu Boden geworfen und überwältigt.


Nicht dieses Fresko, sondern ‚die Befreiung Petri aus dem Kerker’ und ‚die Messe von Bolsena’ erregten unsere Aufmerksamkeit. Denn in diesem zuletzt genannten Bild begegnete uns Papst Julius II. zum ersten Mal in Person; wir sollten ihn am Ende unseres Rundgangs noch einmal sehen als Mittelpunktsfigur auf Melozzo da Forlìs berühmtem Gemälde von der ‚Gründung der Vatikanischen Bibliothek’ – damals noch ein junger Kardinal, stolz und selbstbewusst in Purpur gewandet und in unmittelbarer Nähe seines Onkels, des Papstes Sixtus IV.




- Julius II. : Papst - Politiker - Visionär:



Was war das für ein Mensch, dieser Giuliano della Rovere, ‚von der Eiche’, und spätere Papst Julius II., der sich nicht nach einem Heiligen nannte, sondern nach dem alten Adelsgeschlecht der Julier, dem auch Julius Caesar angehörte?
Er hatte schon sehr früh eine Blitzkarriere hingelegt: mit 27 Jahren! war er auf Veranlassung und mit Billigung seines Onkels Sixtus IV. in den Kardinalsstand erhoben worden, und er besaß damals schon Eigenschaften, die ihn zum Höheren prädestinierten: eine ausgezeichnete Bildung – bei den Franziskanern erworben - ,ein würdevolles Auftreten „von stärkstem Selbstbewusstsein“ (Gregorovius), ein Mann, durchbebt von Tatkraft und durchdrungen von visionären Ideen, aber auch von leidenschaftlicher Liebe zur Kunst und mit einem sicheren Gespür für Talente. Solange er Mönch war, fühlte er sich dem Gelübde von Keuschheit und Armut verpflichtet, aber als Kardinal setzte er sich darüber hinweg, und Moral war für ihn eine Sollforderung, die nur noch auf dem Papier bestand, aber in seinem Leben nicht mehr bindend war.
Aber es gab noch andere ihn belastende Charaktereigenschaften: Ungeduld war eine solche. Getrieben von der dahinrasenden Zeit, verlangte er von seinen Ideen, Plänen und Beschlüssen, sie widerspruchslos in die Tat umzusetzen. Wehe, wer es wagte, sich diesem Machtmenschen zu widersetzen! Da konnte er schnell seine durch Erziehung erworbenen Etikette vergessen; er wurde aufbrausend und steigerte seine Wut bis hin zum Jähzorn. Er schreckte nicht einmal davor zurück, auf das Gerüst in der Sixtinischen Kapelle hochzusteigen, um Michelangelo mit dem Krückstock zu drohen!
Nach dem Tod seines Onkels (Sixtus IV.) hoffte er – vertrauend auf seine Verdienste am päpstlichen Hof – die Tiara und damit das höchste Kirchenamt zu erlangen, aber seine Rechnung ging nicht auf: er musste noch drei weiteren Päpsten den Vortritt lassen, darunter dem Borgia-Papst Alexander VI., den er ein Leben lang gehasst hat. Schon am Totenbett seines Onkels gab es einen so heftigen Streit zwischen den beiden Kardinälen, dass Außenstehende eingreifen mussten, um Schlimmeres zu verhindern. Und dieser Hass saß so tief, dass er, nachdem er schon vier Jahre im Amt war, seine Residenz im Appartamento Borgia aufgab, um in die Wohnung ein Stockwerk darüber zu ziehen und sie nach seinen Vorstellungen und in seinem Geist zu gestalten. Er wollte einfach alles, was ihn an die Borgia-Familie erinnerte, aus seinem Gedächtnis löschen.




Über dreißig Jahre hatte Julius II. warten müssen, um endlich nach der Tiara zu greifen, dreimal war er bei den vorhergehenden Wahlen zum Kirchenoberhaupt durchgefallen und hatte Päpsten gedient, von denen er überzeugt war, dass ihr Format nicht gereicht hat, ihn zu übertreffen.
Einmal auf dem Thron des Petrus entfesselte sich seine aufgestaute Energie und seine Leidenschaft in einer atemberaubenden Aktivität, immer getrieben von der Angst, dass ihm zu wenig Zeit verbleibt, um alle seine Ziele zu verwirklichen. Zehn Jahre dauerte seine Herrschaft, selbst hundert wären noch zu wenig gewesen, um alle Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Ziel seiner Politik war es zunächst, die unter Alexander VI. verlorenen Gebiete des Kirchenstaates zurückzugewinnen und die Einigung Italiens voranzutreiben - aus seiner Sicht die unabdingbare Voraussetzung dafür, die päpstliche Autorität langfristig zu sichern. Wenn alle diplomatischen Bemühungen ausgeschöpft waren, scheute er nicht davor zurück, das geistliche Gewand abzulegen und dafür den Waffenrock überzuziehen und persönlich ein Heer gegen seine Feinde ins Feld zu führen. „Wenn die Schlüssel des Petrus nicht ausreichen, so möge mir sein Schwert helfen“, so rechtfertigte er sein Vorgehen gegenüber seinen Kardinälen. Um die Raffgier Venedigs, das seine Macht in Norditalien immer weiter ausgedehnt hatte, zu begrenzen, schloss er mit Maximilian I. und Ludwig XII. (dem französischen König) einen Bündnisvertrag – konstituierende Grundlage für die Liga von Cambrai.
Nachdem die Söldnertruppen ihre Schuldigkeit getan und in der Nähe von Cremona die venezianischen Truppen vernichtend geschlagen hatten, änderte Julius II. seine Gesinnung: ‚fuori i barbari!’ – hinaus mit den Barbaren, so lautete jetzt seine Forderung. Er befürchtete, Italien könne weiterhin Spielball fremder Mächte bleiben, deren Absicht es war, den ‚geheiligten Boden’ ihrem Herrschaftsbereich einzuverleiben und damit ihrer Kontrolle zu unterwerfen.
Wenn das Goldene Zeitalter anbrechen sollte, von dem Julius II. in seinen Visionen träumte und mit dem er eine längere Friedenszeit verband, dann musste er erst seine Macht im eigenen Land festigen, und das konnte nur geschehen, wenn es gelänge, die Barbaren aus Italien zu vertreiben: die Spanier, die Deutschen und allen voran die Franzosen, die der Papst noch selbst zu Hilfe gerufen hatte, als es darum ging, die Großmachtstellung Venedigs zu brechen, die aber danach ihre Vorherrschaft in Oberitalien immer weiter vorangetrieben hatten. Er schloss eine neue Koalition, die sog. Heilige Liga, der neben der Republik Venedig Staaten angehörten wie Spanien, England und die Eidgenossenschaft der Schweiz. Mit vereinten Kräften konnten sie die Expansionsbestrebungen Frankreichs unterbinden, allerdings auf Kosten blutiger Auseinandersetzungen. Schließlich zogen sich die französischen Truppen ganz aus Norditalien zurück. Raffael hat dieses Ereignis in der Befreiung Petri aus dem Kerker auf die Ebene künstlerischer Verklärung gehoben.

Mit der Vertreibung der Franzosen und der Stabilisierung der politischen Verhältnisse konnte Julius II. endlich damit beginnen, seine Vorstellungen von einem Goldenen Zeitalter Wirklichkeit werden zu lassen: Rom sollte ein für allemal die dunklen Schatten und die düstere Beklemmung des Mittelalters abstreifen, er sah vor sich eine Stadt aufstrahlen in einer Pracht wie sie nur die Zeiten unter Augustus und seinen Nachfolgern gekannt hatten: mit Palästen, Plätzen, einem dichten Straßennetz, einem neuen Forum Romanum und überragt von der majestätischen Kuppel der Peterskirche, die nach den Plänen Bramantes neu entstehen und in deren Zentrum sein gewaltiges Grabmal errichtet werden sollte. Unter seinem Pontifikat entwickelte sich der Apostolische Palast zu einem geistigen und politischen Machtzentrum, er ließ den Kapitolsplatz neu gestalten und die Gebäude darauf so ausrichten, dass sie zum Vatikan hin gewandt waren.
Die Neugestaltung Roms sollte ausstrahlen auf ganz Italien: dieses Land sollte eine neue Blütezeit erleben, ohne Kriege und in sich geeint, und sie sollte dann auch den gesamten Erdkreis, den orbis terrae, erfassen. Vor seinem geistigen Auge sah er eine neue Weltherrschaft anbrechen unter der Führung des Pontifex in Rom und unter den gekreuzten Schlüsseln Petri. Bloß ein Problem gab es: das war die Zeit. Nur zehn Jahre blieben ihm, die Welt zu verändern. Was er nicht wusste, war, dass die Renaissance unter ihm schon ihren Zenit erreicht hatte. Und was die Kunst angeht, hat es wohl keine Zeit gegeben – weder vorher noch später - , die so reich mit Genies gesegnet war, dass man den Eindruck gewinnen konnte, dass es in unserer abendländischen Geschichte für einen Wimpernschlag die Kunst war, die über die Politik gesiegt hatte.



- Die Befreiung des Heiligen Petrus aus dem Kerker:


Das Wandfresko greift thematisch die Schilderung von der wunderbaren Befreiung des Petrus aus dem Gefängnis in Jerusalem auf, niedergeschrieben im 12. Kapitel der Apostelgeschichte. Petrus war auf Befehl des Königs Herodes (Agrippa) verhaftet und ins Gefängnis geschleppt worden. Seine Verurteilung (zum Tode) sollte nach dem Paschafest stattfinden – vor den Augen der Öffentlichkeit. Für ihn galten besonders strenge Haftbedingungen: gefesselt an zwei (Eisen)-ketten lag er zwischen zwei Wachposten, und zusätzlich hatte man die Wachen noch von außen verstärkt. Mitten in der Nacht geschah dann das Wunder: „Plötzlich trat ein Engel des Herrn ein, und ein helles Licht strahlte in den Raum. Er stieß Petrus in die Seite, weckte ihn und sagte: Schnell, steh auf! Da fielen die Ketten von seinen Händen.“ (Apg 12,7) Mit Hilfe des Engels gelangte Petrus in die Freiheit; er führte ihn an den schlafenden Wächtern vorbei hinaus vor die Stadt.
Die Darstellung dieser Szene bezieht ihren 'Stoff' nicht allein aus dem Bericht der Apostelgeschichte, sondern ist auch darin begründet, dass Julius II. als Kardinal die Basilica San Pietro in Vincoli (in Fesseln) als Titelkirche innehatte, und daß er in dieser Kirche nach der Vetreibung der Franzosen aus Italien seine Dankgebete gesprochen hatte – vor den Ketten, mit denen der Apostel Petrus nach der Überlieferung des Neuen Testaments im Gefängnis des Herodes gefesselt war.
Betrachtet man das Wandfresko des Raffael, so kann man sich der magischen Wirkung, die von der Mittelszene ausgeht, nicht entziehen. Hinter einem Gitter aus massiven Eisenstäben schläft der Apostel, vor Erschöpfung niedergesunken auf dem steinigen Boden, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, links und rechts bewacht von zwei Soldaten in starrer Rüstung aus glänzendem Metall. Sie haben ihre Oberkörper aufgestützt auf zwei Lanzen und halten in ihren Händen die schweren Ketten, die sie mit den gefesselten Beinen und Armen des Petrus verbinden. Umflutet von der Aura eines gleißenden Lichtkranzes, der im Widerschein die Stofffülle seines Gewandes in rötlich-goldenen Farben aufleuchten läßt, beugt sich ein Engel mit gespreizten Flügeln vornüber, den Greis zu wecken, und um seine Fesseln zu lösen und ihn anschließend an den auf den Treppenstufen in Ohnmacht gefallenen Wachen vorbei in Sicherheit zu bringen.
Auf der linken Seite – gespenstisch ausgeleuchtet vom fahlen Licht des Mondes, vor dessen schmaler Sichel dunkle Wolken herziehen – spielen sich dramatische Szenen ab. Von der Lichterscheinung des Engels überrascht, reagieren die vier schwer bewaffneten Wächter in unterschiedlicher Weise: einer, vom Glanz des Lichtes geblendet, wendet sich taumelnd zur Seite und verdeckt mit dem Arm schützend das Gesicht, ein anderer hat die Flucht ergriffen und sucht hinter einem Gewölbebogen Deckung; ganz vorne – am unteren Treppenabsatz und mit dem Rücken zum Betrachter – stürmt ein Posten heran, außer sich vor Wut und mit den Nerven am Ende, eine Fackel in der Linken, den Oberkörper in gekrümmter Spannung, die weit von sich gestreckte Rechte mit der Geste des Vorwurfs auf das Geschehen über ihm gerichtet, und wie von Sinnen weist er den vor ihm liegenden vierten Wachhabenden zurecht, der vor Schreck auf den Stufen niedergefallen ist und ihn mit weit aufgerissenen Augen - das Entsetzen ins Gesicht geschrieben - fassungslos anstarrt.


- Die Messe von Bolsena:



Die hier dargestellte Szene erinnert an ein Wunder, das sich 1263 in Bolsena zugetragen haben soll: ein böhmischer Priester, der die leibliche Gegenwart Christi in der konsekrierten Hostie in Frage stellte, erhoffte sich von einer Pilgerfahrt nach Rom eine Erlösung von seinen Zweifeln. Als er in Bolsena das Messopfer feierte, geschah das Unglaubliche: während er die Wandlungsworte sprach, tropfte plötzlich Blut aus der Hostie und färbte das Tuch, auf dem der Kelch und die Hostienschale stand, rot. Anlässlich dieses Ereignisses führte die Katholische Kirche schon ein Jahr später das Fronleichnamsfest ein, für das Thomas von Aquin den feierlichen Hymnus „Pangue, lingua, gloriosi corporis mysterium(Preise, Zunge, das Geheimnis dieses Leibes voller Herrlichkeit) verfasst hat, und das vor allem unter Papst Sixtus IV. einen Aufschwung erlebte.
Raffael hat sich bei der Darstellung seines Wandbildes exakt an die Überlieferung vom Blutwunder in der Messe von Bolsena gehalten, nur mit dem Unterschied, dass das Wunder nicht dem Priester widerfährt, sondern dass es sich unmittelbar vor den Augen des Papstes vollzieht. Julius II. hat sich vor dem Altar niedergekniet, umgeben von einer Reihe von Kardinälen und seiner Leibwache, der Schweizergarde, die er im Jahre 1505 gegründet und der er den Titel „Beschützer der Freiheit der Kirche“ verliehen hatte.
Umsichtig und mit gespannter Aufmerksamkeit sind die Gardisten in plüschiger Kleidung dunkler Samtfarben Zeugen der feierlichen Zeremonie, während Julius, in bewegungsloser Haltung verharrend, die Hände zum Gebet gefaltet und den Blick gebannt nach vorne gerichtet, das übernatürliche Geschehen verfolgt.



Die stanza della segnatura – Höhepunkt der Renaissancemalerei

Mit der stanza della segnatura betraten wir den Raum, dessen Wände und Decken wohl mit dem Schönsten, was die Renaissancemalerei hervorgebracht hat, überzogen ist. Es war das Arbeitszimmer Julius II., das ursprünglich einem anderen Zweck diente, wenn man den Begriff ‚segnatura’ zu Grunde legt, was soviel wie ‚Unterzeichnung / Unterschrift’ bedeutet. Wahrscheinlich haben hier Sitzungen eines Gerichtshofes stattgefunden, und mit der Unterschrift des Papstes wurden die Urteile rechtsgültig.

Überwältigt von der Fülle der Bilder und der leuchtenden Farben stockte uns in den ersten Augenblicken der Atem, und wir überließen uns ganz dem staunenden Betrachten. Wie von einer fremden Macht gesteuert, durchquerten wir den Raum und nahmen vor dem Fenster auf einer steinernen Bank Platz. Von hier eröffnete sich die beste Perspektive, um die großartigen Fresken auf uns wirken zu lassen. Wohin man auch schaut, noch heute ist das das unglaubliche Talent und der schöpferische Geist Raffaels spürbar. In virtuoser Weise – mit den Mitteln von Farbe, Licht und Bewegung – ist es ihm gelungen, die Welt der Philosophie und Theologie darzustellen, nicht abstrakt, sondern durch Personen, die alle vereint sind in dem Bemühen, den Dingen auf den Grund zu gehen und zu den letzten Erkenntnissen, zur endgültigen Wahrheit vorzustoßen, um zu verstehen, „was die Welt im Innersten zusammenhält.“ (Goethe)
In diesem überschaubaren Kosmos sinnlicher Wahrnehmungen, begleitet von einem Feuerwerk vielfältigster Farbimpressionen, in einer Welt angereichert mit Szenen voller dramatischer Höhepunkte und umfangen von einer allgegenwärtigen Gedankenhelle, die im geistigen Vermächtnis der großen Meister aufleuchtet, ihm zugleich unvergänglichen Glanz verleihend, sollte das Auge Julius II. niemals zur Ruhe kommen; und angesichts der illustren Versammlung von Propheten, Kirchenvätern, Weisen und Denkern wird er wohl immer wieder die Frage nach seiner eigenen geistigen Verortung gestellt haben.



- Die Schule von Athen:


Unseren Blick nach rechts gewandt, beschäftigten wir uns zunächst mit der ‚Schule von Athen’, einem Fresko, das die gesamte Wandfläche einnimmt. Vor einer prächtigen Kulisse – der noch im Bau befindlichen Basilica der Peterskirche mit kassettenreichem Tonnengewölbe und den überlebensgroßen Bildnissen von Apoll und Minerva an der Stirnseite – haben sich zahlreiche Weise und Gelehrte der Antike – schätzungsweise an die fünfzig Männer – versammelt und in Gruppen über dem Raum verteilt. Es sind die Geistesgrößen, die mit ihren Ideen, der Kunst der Rhetorik und Dialektik und ihren mathematischen Grundsätzen das Denken des Abendlandes, vor allem aber die unterschiedlichen Disziplinen der Philosophie, geprägt haben; und in ihrer Zeitlosigkeit und ihrem Anspruch, mit Hilfe der Logik zu allgemein gültigen Erkenntnissen zu gelangen, wirken sie heute noch nach.


Wunderbar ausgeleuchtet – in alles durchflutender Gleichmäßigkeit – empfängt die riesige Halle ihr ganzes Licht von oben, aus einem geöffneten, aber auch ‚leeren’ Himmel. In der Mitte – am vorderen Rand eines weiten Durchgangs, zu dem eine gewaltige Freitreppe hinaufführt – durchschreiten die beiden Protagonisten diese elitäre Versammlung: Platon und Aristoteles; die Umstehenden öffnen ihnen bereitwillig die Gasse und begrüßen sie mit dem Ausdruck tiefer Bewunderung und stummer Ehrfurcht, Arme und Hände in unterschiedlichen Haltungen – mal verschränkt, mal ist die Rechte wie zum Schwur auf die Seite des Herzens gelegt, mal in vorsichtiger Andeutung zum Gruß erhoben oder wie der kahlköpfige Greis rechts von Aristoteles im gelben Mantel und in Profilansicht, dessen Unterkinn ein stattlicher Bart weiß-grauer Haarpracht ziert: er hat seine Linke demonstrativ auf die Hüfte gestemmt, und seine Rechte lässt er auf der gerundeten Schwellung seines Bauches ruhen.


Beide, Platon und Aristoteles, erscheinen mit den Werken, die sie unsterblich gemacht haben: Platon – in rotem Überwurf, mit weißem Bart, gewölbter Stirn und den Gesichtszügen des Leonardo da Vinci – trägt seinen Timaios, und Aristoteles in blauem Überwurf und dunklem Unterkleid – der jüngere von beiden – seine Ethik, die in leicht schrägem Winkel mit der unteren Kante auf seinem Oberschenkel aufliegt und deren Oberkante von seiner Linken fest umklammert wird. Seine Rechte hat er waagerecht von sich gestreckt und die Hand gespreizt, als suche er Kontakt zum Boden und wolle die Erde sinnlich erfahren und so den alten philosophischen Grundsatz förmlich ‚greifbar’ umsetzen, der da lautet: nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu – nichts ist in unserem Verstande, wenn es nicht (vorher) in unseren Sinnen gewesen ist.
Platon weist mit dem Zeigefinger der rechten Hand nach oben, als wolle er andeuten, dass es noch eine Welt ‚jenseits des Seins’ gibt, eine oberste Instanz (auch Gott genannt, wenn man so will), in dem alles Werdende seine Ursache (aitia) hat. Unsere Welt ist nicht das Produkt des Zufalls, sondern das Ergebnis von Vernunft und Ordnung und erfüllt damit im philosophischen Sinn einen ‚Zweck’ (telos), der gleichsam Ausdruck der Schöpferkraft Gottes und seiner Ideen ist – wobei allerdings Gott nicht als höchste Idee gedacht wird, sondern als ein Wesen (usia) außerhalb bzw. jenseits alles Seienden (ontoos).

„Niemals ist der Vorgang des Denkens erregender dargestellt“, schreibt R. Raffalt und trifft damit den Kern der Botschaft, die sich hinter der Darstellung der einzelnen Bildszenen verbirgt; ich möchte seine Bemerkung aufgreifen und erweiternd festhalten: niemals ist das Denken dramatischer dargestellt – verdeutlicht in dem Spannungsbogen des qualvollen sich Versenkens in einen mühsamen Reflexionsprozess und der Klarheit einer neu gewonnenen Erkenntnis, wenn der Geist über alle Anstrengungen intensiven Nachdenkens triumphiert.

Dass die Früchte des Nachdenkens nicht am besten reifen im einsamen Monolog zu Hause, wo Ruhe und Konzentration das Ringen um den richtigen Ausdruck befördern und es nicht lästige Störungen behindern, sondern dass sie am besten gedeihen im Dialog, in der kritischen Auseinandersetzung mit anderen und in regen Diskussionen, das hat Raffael in den Szenen, wo die verschiedenen Gruppen mit großem Eifer und teilweise leidenschaftlichem Engagement um die absolute Wahrheit streiten, in genialer Meisterschaft zum Ausdruck gebracht.



So erkennen wir oben auf der linken Seite des sich zur Bühne öffnenden Durchgangs an seinem Profil mit den typischen Merkmalen der hohen Stirn, des gelichteten Haupthaares, des rundlichen Gesichts mit Knollennase und Bart Sokrates in einem olivgrünen Gewand: an den Fingern der linken offenen Handfläche zählt er seine Argumente auf, als wolle er ihnen besonderen Nachdruck verleihen und die Umstehenden von der Richtigkeit seiner Thesen überzeugen. Sie hören ihm aufmerksam zu, aber auch mit der nötigen kritischen Distanz. Auffallend in dieser Gruppe ist der junge Militär mit Schwert, Harnisch und federgeschmücktem Helm. Es ist Alkibiades, der seinen großen Lehrer ein Leben lang bewundert und mit dem ihn eine innige Freundschaft verbunden hatte. Die Argumentationskette des Sokrates trifft nicht durchgehend auf Zustimmung, es regt sich auch Widerspruch; halb verdeckt durch Alkibades hat ein Zuhörer zum Zeichen seines Protests den Arm ausgestreckt, mit dem er gleichzeitig auf eine Dreiergruppe weist, die sich eiligen Schrittes aus der linken Ecke des Gewölbebogens löst und auf die Mitte zustrebt. Sie vertritt offensichtlich eine andere Denkrichtung, und zur Rechtfertigung ihrer Lehrmeinung trägt der mittlere von ihnen – ein Jüngling mit nacktem Oberkörper und ‚fliegendem’ Gewand – das Beweismaterial in Form einer Buchrolle und anderer Schriftstücke bei sich.


Unterhalb dieser Gruppe sehen wir den Schöpfer hedonistischer Ideen, Epikur, mit einem Kranz aus Rebenlaub, mit aufgekrempelten Ärmeln und mit der Korrektur eines Textes beschäftigt - ein Philosoph, den man vorschnell auf einen einzigen Satz von ihm reduziert: „Das höchste Ziel ist die Lust.“ Eine Ansicht, die zu großen Missverständnissen geführt hat, als läge des höchste Glück des Menschen im grenzenlosen Lustgewinn oder wie Goethe es unübertroffen ausgedrückt hat: „So tauml’ ich von Begierde zu Genuss, und im Genuss verschmacht’ ich nach Begierde.
Nicht das hemmungslose Ausleben all unserer Sinne, Triebe und Gefühle begründet das Glück, sondern ein Leben, das sich orientiert an Vernunft und Maß und sich selbst Grenzen setzt: „… nicht jede Freude ist immer zu erstreben … man muss das Nützliche gegen das Schädliche abwägen.“
In dieser Szene benutzt Epikur einen Säulenstumpf als Unterlage für das aufgeschlagene Manuskript eines Schülers, der hinter ihm stehend als Ausdruck freundschaftlicher Verbundenheit und als Anerkennung väterlicher Obhut den Arm auf seine Schulter gelegt hat. Mit großem Ernst vertieft sich Epikur in den Text, auch in der Absicht, ihn hier und da zu verbessern. Flankiert wird er links vom greisen Thales im Profil, und rechts schaut ein kleiner Junge hervor mit üppiger Lockenpracht, der dem Betrachter das Gesicht zuwendet, ihn mit seinen großen dunklen Augen anschaut, und der so gar nicht in diese Welt der geistigen Duelle und geschliffenen Worte passt.



Und nun zur letzten Gruppe auf der linken Seite, wo wir Pythagoras inmitten seiner wissbegierigen Schüler entdecken, der sich halb sitzend, halb kniend - gefangen in seinen eigenen Gedanken und sein Umfeld nicht mehr wahrnehmend – ganz auf den Inhalt seiner Studien konzentriert. Nicht der Flächensatz im rechtwinkligen Dreieck oder andere geometrische Probleme sind sein Thema, sondern es geht, wenn man das Zeichen richtig interpretiert, das ihm ein Eleve in weiser Voraussicht auf einer Tafel hinhält, um Musik und im weitesten Sinn um die Harmonielehre und das Verständnis der Töne. Im ersten Augenblick könnte man meinen, Pythagoras habe die Seiten gewechselt, er habe das Reich der strengen Logik gegen das Reich der Melodien, der Gefühle und Stimmungen getauscht – aber weit gefehlt! Ein Mann, der sich zeit seines Lebens um den Nachweis bemühte, dass die Welt ein System von Zahlen sei („Alles ist Zahl.“), für den war auch die Musik ein ‚Phänomen’, eine Erscheinungsform, die den Prinzipien der Mathematik gehorchen und wo es möglich sein musste, durch Messung die Gesetze der Harmonie zu entschlüsseln.
Offenbar war Pythagoras nicht der einzige, der auf diesem fast noch unbekannten wissenschaftlichen Feld gearbeitet hat. Ihm gegenüber steht – in seitlich leicht verdrehter Haltung und auf ihn herabblickend – ein anderer Pionier auf diesem Gebiet, der sein Buch auf dem linken Knie abstützt und sich in einem intensiven Gedankenaustausch mit Pythagoras befindet: es wird gerechnet, es wird verglichen, es wird ergänzt und verbessert.
Der Meister ist so gekankenversunken, dass er den hinter ihm lauernden bärtigen ‚Alten’ nicht bemerkt, der mit dem Blick eines auf Plagiate spekulierenden Neugierigen über seine Schulter schaut und die neusten Ergebnisse nicht schnell genug abschreiben kann, während sich der große arabische Denker Averroes – mit Turban und die schmale Rechte vor die Brust gehalten – in kollegialer Zurückhaltung über ihn beugt und mit großem Interesse versucht, die Beweisführung seiner neuen Lehre nachzuvollziehen.

Und fast engelgleich und nur auf sich selbst bezogen erhebt sich zwischen den beiden Hauptfiguren - in einem wallenden weißen Gewand und mit Locken, die bis auf die Schultern herabfallen – der junge Francesco Maria della Rovere, Neffe des Papstes und Herzog von Urbino, ein Förderer der Kunst, der vermutlich Raffael den Weg in den Vatikan geebnet hat.




Wer von uns erinnert sich nicht mehr daran, dass man nach der Verinnerlichung des Flächensatzes im Matheunterricht gleich daranging, den Höhensatz des Euklid dauerhaft und unauslöschlich in unseren Verstand einzusenken?
Dieser Euklid begegnet uns auf der rechten Seite, wo er gerade dabei ist, vier jugendlichen Alumnen die Grundbegriffe des analytischen Geometrie beizubringen – ein höchst spannender Vorgang, auf den jeder von ihnen mit unterschiedlicher Haltung und einer anderen Körpersprache reagiert, die den Grad des Verstehens und des Durchschauens der inneren Zusammenhänge widerspiegelt.
Tief gebeugt über einer auf dem Boden liegenden Tafel schlägt Euklid – mit kahlem Schädel und der dicken Haarkrause Bramante, dem großartigen Architekten der Peterskirche, zum Verwechseln ähnlich – mit einem Zirkel, den er in der rechten Hand hält, einen Kreisbogen um zwei ineinander verschachtelte Dreiecke, während seine Linke die überquellende Stoffmenge seines faltenreichen Obergewandes zurückhält. Trotzdem bleibt ein Teil seines Unterkleides sichtbar, das am Hals mit einer Goldbordüre versehen ist, die die Signatur Raffaels trägt: RUSMANU - Raffael Urbinas Sua Manu.
In dieser Szene befasst sich Euklid nicht mit seinem Höhensatz, der ihn für alle Zeiten berühmt gemacht hat, sondern mit dem Verhältnis regelmäßiger, vielwinkliger Flächen und des Kreises, wobei die Ermittlung des Schwerpunktes Ziel seiner Berechnungen sein kann. Und was liegt näher, als in einem nächsten Schritt den Kreis um eine angenommene Achse rotieren, dadurch eine Kugel entstehen zu lassen und sie so in einen Würfel oder einen Kegel einzuschließen, dass sie die sechs Seiten bzw. Grundfläche und Mantel berührt?
Mit höchster Aufmerksamkeit verfolgen die Schüler die Rechenkünste ihres großen Meisters. Der jüngste von ihnen hat sich tief niedergehockt, um den virtuosen Umgang mit Zirkel und Zahlen aus nächster Nähe beobachten zu können. Die Rechte liegt auf seinem Oberschenkel auf, während sein Oberkörper vornüber geneigt auf dem angewinkelten Knie gegenüber ruht. Mit leicht geöffneten Lippen und den Blick auf die Tafel geheftet bemüht er sich, den Vorgang zu begreifen; der zweite, rechts von ihm, hat die Augen nach oben gerichtet, und mit dem Zeigefinger auf die Skizze weisend scheint ihm ein ‚Licht’ aufgegangen und er dem Verstehen ein Stückchen nähergekommen zu sein; der dritte, der sich über die beiden beugt und mit der rechten Hand auf dem Rücken des ersten abstützt, kann – die Haltung seiner linken Hand richtig gedeutet – bisher als einziger die Logik des Euklid nachvollziehen und hält seine Gedanken auch nicht zurück, sondern teilt sie dem Vierten mit, der sich – halb aufgerichtet, mit angewinkelten Armen und mit offenen, nach unten zeigenden Handflächen – ebenfalls mit wachem Geist in die alte, auch von Euklid angewandte Beweisführung hineindenkt, die für die Analyse geometrischer 'Fälle' unabdingbar ist, und die mit ihrem Kürzel q.e.d. (quod erat demonstrandum) und der streng schematischen Gliederung von Annahme, Behauptung und Beweis ein Gräuel für zig-Schülergenerationen meines Alters gewesen ist; nichts desto trotz lässt sich der junge wissbegierige Mann nicht davon abbringen, sich das Wissen und Können seines großen Vorbildes Schritt für Schritt anzueignen und es so zum festen Bestandteil seines geistigen Eigentums zu machen.

Dass den Gesetzen des Euklid nicht länger das Stigma grauer Theorie anhaften muss, sondern dass sie von praktischem Nutzen sind, wird an der Kugelform der Erde sichtbar, die die aufrecht stehende Gestalt am rechten Rand des Bildes in den Händen hält. Krone und ein aufwendig geschnittener Mantel mit einem breiten Kragen, der fast die halbe Schulter bedeckt, verraten den hoheitlichen Status, der sich hinter dieser Figur verbirgt: es ist der König Ptolemäus aus Ägypten, ihm gegenüber Zarathustra mit dunklem Bart und orientalischer Kopfbedeckung, der auf den Fingerspitzen seiner ausgestreckten rechten Hand mit der Himmelskugel jongliert.
Unterbrochen wird das Gespräch der beiden durch zwei junge Männer, die von außen kommend, am Pfeiler des Gewölbebogens vorbei, die Szene betreten: Es sind der Maler Sodoma, mit hintergründigem Lächeln die beiden eben beschriebenen Figuren betrachtend, und Raffael selbst mit dunklem Barett, der uns mit seinem sanften Blick anschaut, in dem man fast feminine Züge zu erkennen glaubt, und hinter dem ein liebenswürdiges Wesen und ein gutmütiger Charakter zum Vorschein kommt.



Von dem halben hundert Männern verdienen zum Schluss noch zwei unsere besondere Aufmerksamkeit, Diogenes und Heraklit. Der erste – Diogenes – ‚lungert’ auf den Stufen der weiten Halle, nur mit dem Allernötigsten bekleidet: Arme, Beine und ein Teil des Oberkörpers bleiben unbedeckt, und halb hingestreckt hat er sich in einen Text vertieft, den er wegen seiner Altersweitsichtigkeit nur mit zusammengekniffenen Augen und aus großer Entfernung lesen kann. Ein Mann mit so geringen Ansprüchen an sich selbst, der sein Leben in einer Tonne zubrachte, passt eigentlich so gar nicht in diese exklusive Versammlung hochrangiger Weiser und Gelehrter, und trotz seines hohen Alters ist er von seiner Lebensphilosophie nicht abgewichen und seinem einmal eingeschlagenen und für richtig befundenen Weg treu geblieben: er versteht sein ganzes Dasein als gelebte Provokation, als inszeniertes Ärgernis. Wer Bedürfnislosigkeit und damit den Verzicht auf persönliches Eigentum zum obersten Prinzip erklärt, verschafft sich damit ein Höchstmaß an Unabhängigkeit und innerer Freiheit und kann sich das Recht herausnehmen, mit den Mitteln ‚zynischer Vernunft’ gesellschaftliche Tabus aufzubrechen und die Gier nach Macht und Reichtum anzuprangern. Und seien wir mal ehrlich, könnten wir einen solchen Querdenker wie Diogenes, der auf niemanden Rücksicht nehmen musste und mit seiner Kritik den Nerv gesellschaftlicher Missstände traf, nicht heute auch gut gebrauchen?


Die letzte Gestalt – Heraklit, mit dem Beinamen ‚der Dunkle’ – ist so in das Geschehen eingebunden, dass sie uns im Vordergrund ganz nahekommt. Auf der untersten Stufe der bühnenartigen Treppenanlage sitzend hat er seinen Ellenbogen auf einen Marmorblock gestützt, während sein Kopf gegen die Hand gelehnt ist. Er befindet sich in einer Phase der Konzentration und Kontemplation, wobei er momentan in seinen Überlegungen aus dem Rhythmus gekommen zu sein scheint. Aber dieser Stillstand in seinem Gedankenfluss wirft ihn nicht aus der Bahn, im Gegenteil, er ist für ihn Ansporn genug, letzte Reserven zu mobilisieren, um auf den Grund seines Bewusstseins ‚hinabzutauchen’ und aus der Tiefe eine neue Idee hervorzuholen und sie gleich zu Papier zu bringen.
Panta rhei -
panta rei“ – alles fließt, so lautet eine seiner bekanntesten Wortschöpfungen, der er noch eine zweite, gleichbedeutende hinzugefügt hat: „Niemand kann zweimal in denselben Fluss steigen.“ Eine, wie ich finde, zeitlose Metapher für den ewigen Wandel der Zeit, für das Werden und Vergehen des Lebens oder, wie Goethe es in seinem Gedicht ‚Selige Sehnsucht’ genannt hat, für das „Stirb und Werde.“


Wir sind am Ziel unserer Betrachtungen angekommen. Auf dem Gang durch die Vergangenheit sind wir den größten Denkern des Altertums und ihrer Ideenwelt begegnet. Trotz der Verschiedenheit der Systeme verband alle die Suche nach der einen, absoluten und ewig gültigen Wahrheit, die keine Fragen mehr offen und das Wirklichkeit werden lässt, wovon auch schon Leibniz zu träumen gewagt hat, nämlich, „das Gold aus dem Kot, den Diamanten aus der Grube und das Licht aus der Finsternis zu ziehen.“ (Leibniz an Remon, 1714)
Aber weder Platon, der mit seinem Idealismus die Sterne vom Himmel holen wollte, noch Aristoteles, der mit seinem Pragmatismus die Bodenhaftung zur „wohlgegründeten dauerhaften Erde“ (Goethe, Grenzen der Menschheit) suchte, hat die letzte, alles erklärende Antwort gefunden. Aber gibt es nicht noch einen dritten Weg, der Himmel und Erde miteinander verbindet? Wir wären nicht im Vatikan, wenn wir diese Frage nicht bejahen müssten. Natürlich! Es ist die Theologie, die mit den Mitteln der Philosophie und dogmatischer Erkenntnisprinzipien das Mysterium von Zeitlichkeit und Ewigkeit, von Glauben und Anschauung, von Offenbarung und Erlösung durchleuchtet, und deren Klarheit uns, durch die Phantasie und Kunst eines genialen Raffael in bildliche Sprache umgesetzt, in der ‚Disputà del sacramento’ entgegenstrahlt.
 
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Exkurs: die 'disputà del sacramento' - der richtige Titel für Raffaels Meisterwerk?

Einleitung



Eigentlich paßt der Titel, dessen Etikettierung dem Meisterwerk des Raffaelo seinen unverwechselbaren Namen gegeben hat und dessen Anteil an seinem ewigen Ruhm nicht zu unterschätzen ist, so gar nicht zum szenischen Aufbau der ‚Disputà’: hier gibt es keine Auseinandersetzung, keine Grundsatzdebatte um letzte theologische Feinheiten, hier wird nicht gestritten, sondern das Allerheiligste Altarssakrament erfährt höchste geistige Beachtung und tiefste innere Verehrung zugleich: nicht 'Disputà del sacramento', sondern 'Trionfo del sacramento' oder ‚Adorazione del sacramento’ wäre für mich die bessere Bezeichnung.
Ein erlesener Kreis aus Kirchenvätern, Päpsten, Bischöfen und anderen Geistesgrößen (darunter auch einige kritisch Eingestellte!) hat sich um das Altarssakrament gruppiert aus einer tiefen Glaubensüberzeugung heraus und in der Hoffnung, dass ihre Vorstellung von Gott als dem Einen in drei Personen und dennoch unteilbar!, von seiner persönlichen Nähe als Ausdruck selbstloser Zuneigung, aber auch von seiner unendlichen Ferne als Zeichen der Unbegreiflichkeit, der Unverfügbarkeit und der unzugänglichen Verborgenheit der einen absoluten, für alle Zeiten gültigen und unwandelbaren Wahrheit möglichst nahekommt; ebenso ihre Vorstellung von seiner Größe und Allmacht, aber auch von seiner Ohnmacht als Beweis seiner Bereitschaft, sich mit uns zu versöhnen und die Hindernisse zu überwinden, die zur Entfremdung, ja zur Trennung mit ihm - dem Ursprung und Ziel aller menschlichen Existenz - geführt haben; ebenso ihre Vorstellung von dem Gott, der - sich selbst erschaffen, Raum und Zeit umspannend! - von Ewigkeit zu Ewigkeit regiert (... and he shall reign for ever and ever, Hallelujah! / ... ed egli regnerà nei secoli dei secoli, alleluia!), und nicht zuletzt ihre Erkenntnisse über sein Wirken in der Welt und sein Handeln an uns durch die 'sichtbaren Zeichen einer unsichtbaren Wirklichkeit' (Augustinus): es fehlt nicht an theatralischen Gesten, es fehlt nicht an staunenden Blicken, es fehlt nicht an stummer Bewunderung, es fehlt nicht am Ausdruck tiefgreifender Reflexion, aber es fehlt auch nicht an Zeichen von Gleichgültigkeit und kritischer Distanz; kurzum, Raffael hat sich bei der Auswahl der hier versammelten Personen darum bemüht, einen durchaus repräsentativen Querschnitt in Bezug auf die damalige Geisteshaltung im Bild festzuhalten. Wie man überhaupt sagen muss, dass er mit seinen Mitteln, den Mitteln der darstellenden Kunst, und vertraut mit den Ideen des christlichen Glaubens eine Theologie entfaltet, so leicht, so brilliant, so natürlich, so durchdacht, so ideenreich - und das alles aufstrahlend im Glanz vollendeter Schönheit - , dass man sich wünschen würde, die Kirche von heute könne zu eben dieser Klarheit und Eindeutigkeit des Denkens und Überzeugens zurückfinden.



Tantum ergo sacramentum … - so groß ist also dieses Sakrament …


Im Mittelpunkt des gesamten Geschehens – gewissermaßen im Fluchtpunkt aller perspektivischen Linien – erscheint als kleinster aller Gegenstände eine Hostie, diese unscheinbare Oblate, diese flache Scheibe unbehandelten Brotes – eingeschlossen hinter dem Glas einer filigran gearbeiteten Monstranz, die einen einfachen Altar ziert, den Raffaelo in eine weite, nach seinen Vorstellungen gestaltete Landschaft gesetzt hat, und der zudem auf einer vierstufigen, breit angelegten Treppenanlage ruht.
In der golddurchwirkten Vorderbespannung ist der Namenszug Julius II. eingestickt, und die rechteckige Vorderwand bietet Platz für das Ornament eines überdimensionalen, symmetrisch angeordneten Schlingknotens, dessen goldene Konturen sich scharf vom Blau des Untergrunds abheben – Symbol für die ‚verschlungene’ Welt der Sakramente, die nach katholischer Lehre keine leeren Zeichen eines magischen Ritus sein wollen, sondern heilige Zeichen (signum rei sacrae), die ihre Kraft bzw. ihre Wirkung entfalten durch die göttliche Gnade, damit „die wahre Gerechtigkeit entweder anfängt oder vermehrt oder wiederhergestellt wird“, wie im offiziellen Dekret des Konzils von Trient zu lesen ist (… per quae omnis vera iustitia vel incipit, vel coepta augetur, vel amissa reparatur)
Man kann dazu stehen wie man will, aber meine Meinung ist, daß die Theologie da an ihre Grenzen stößt, wo sie versucht, ein übernatürliches Geschehen in den Kausalzusammenhang von Ursache und Wirkung zu stellen. Den göttlichen Willen mit den Mitteln der Vernunft und des Verstandes zu durchdringen, kann nicht gelingen. Allen Spekulationen zum Trotz bleibt am Ende doch ein großes Fragezeichen, ein letztes Geheimnis, dem man sich nur glaubend und staunend annähern kann.
Dieser Gedanke ist übrigens nicht neu, er ist grundgelegt in einer scholastischen Definition, die ich wegen ihrer Eindeutigkeit für unübertroffen halte: hier werden den Sakramenten das Attribut ‚mysterium’ verliehen, das ‚magis credendum et venerandum quam investigandum est’ (das mehr zu glauben und zu verehren ist als zu hinterfragen).


„Tantum ergo sacramentum“ (So groß ist das Sakrament) - wie oft habe ich als Kind in den sonntäglichen Andachten diese Strophe gesungen, ja geradezu ‚geschmettert’! Lang, lang ist’s her!
Was viele vielleicht nicht wissen, verfaßt hat sie Thomas von Aquin; sie ist Teil seines Hymnus „Pange lingua“, und zusammen mit der Melodie gehört es zum Ergreifendsten, was die katholische Kirche zu bieten hat. Ich war damals zutiefst gerührt, getroffen bis auf den Seelengrund, wenn beim Aussetzen des Altarssakramentes dichtes Weihrauchgewölk aufstieg, und die bläulichen Schwaden vom Chorraum in das Kirchenschiff herüberwaberten, wenn die Messdiener mit sichtbarer Freude und mit all ihrer Kraft die kleinen Schellen auf den Stufen vor dem Altar zum Klingen brachten und die Orgel mit ihrem mächtigen Klang den Innenraum erfüllte. In diesen Augenblicken war ich der Kirche ganz nahe, ich fühlte mich wie in einer Traumwelt, Raum und Zeit vergessend. Es war ein Überschwang der Gefühle, schwerelos, uferlos, gedankenverloren und sphärenentrückt; kurzum, es bestand so etwas wie eine raunende Verschwisterung zwischen mir und der Kirche, es waren Erlebnisse von Einmaligkeit. Aber dieses Übermaß an Gefühlen ließ sich nicht konservieren, es blieb beschränkt auf den winzigen Abschnitt meiner vita und lebt eigentlich nur in meiner Erinnerung fort. Schade eigentlich. Veramente peccato!

Merkwürdig, daß ich damals mit Inbrunst einen Liedtext sang (und das in Lateinisch!), von dem ich nur die erste Zeile verstand, den ich bis heute auswendig aufsagen kann, und der mir vom Verständnis her nach wie vor große Rätsel aufgibt. Trotzdem will ich versuchen, das ‚heilige Original in mein geliebtes Deutsch zu übertragen’ (Goethe), obwohl ich weiß, dass es geradezu unmöglich ist, den Quelltext so zu verdolmetschen, dass er der ursprünglichen Intention gerecht wird. Auf geht’s!


Tantum ergo Sacramentum - So groß ist also dieses Sakrament!
Veneremur cernui; - Laßt uns davor niederfallen, es mit ganzem Herzen anzubeten;
et antiquuum documentum - anstelle der alten Riten (der alten Vorschriften/Regeln)
novo cedat ritui; - soll jetzt die neue Feier treten
(gemeint ist die Liturgie des Fronleichnamfestes, des Festum Sanctissimi Corporis Christi).
praestet fides supplementum - Und was sich unseren Sinnen nicht erschließt,
sensuum defectui. - erschließe sich im Licht des Glaubens.


Hier werden diese Gedanken zum Ereignis, hier werden sie inszeniert als Apotheose eines unerschütterlichen Credo und eines Bekenntnisses zum dem Einen, Ewigen und Dreifaltigen Gott. Und meine innere Stimme sagt mir, dass der Königsweg zum tieferen Verständnis der katholischen Lehre über die Beschäftigung mit der Eucharistie führt, dem neben der Taufe wichtigsten Sakrament der Kirche. Nicht nur, daß es Zeichen einer übernatürlichen, aus Gott kommenden Kraft ist, sondern es ist zum Inbegriff der realen Präsenz Gottes geworden. „Mein Fleisch ist wahrhaft eine Speise, und mein Blut ist wahrhaft ein Trank. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm. ... Wer dieses Brot ißt, der wird ewig leben" - Caro mea vere est cibus, et sanguis meus vere est potus. Qui manducat meam carnem et bibit meum sanguinem, in me manet et ego in eo. ... Qui manducat hunc panem, vivet in æternum. (Jo 6,56 - 59)

Was für eine provokante Aussage, was für eine anmaßende Selbstbehauptung! Eine an Hybris grenzende Überheblichkeit, Spinnerei (una pazza idèa), Ausgeburt eines verqueren Geistes, irrwitzige Idee eines Heilsbringers, eines 'Daseinsvergolders', der seine Legitimität von einer höheren Macht ableitete und sich auf einem Nebenschauplatz der Weltbühne abseits der großen geistigen Zentren der damaligen Zeit beweisen wollte, oder doch göttliche Wahrheit - über alle menschliche Vorstellung erhaben? Auf jeden Fall kein Schlafpulver, sondern Dynamit, ein Stoff wie geschaffen für die Theologie, um daraus eine ihrer gewagtesten Theorien zu entwickeln; Raffael hat sie kongenial in seinem Bild umgesetzt, indem er die Hostie in den Mittelpunkt seines Werkes stellt, um zu demonstrieren, dass die suggestive, ja geradezu magnetische Kraft, die von ihr ausgeht, die hier versammelte Elite an die reale Gegenwart Christi glauben lässt, die wiederum im Himmel ‚geschaut’ wird, und das in einem weiteren Paradox, nämlich in der Dreiheit des einen göttlichen Wesens: una essentia tres personae!
Was aber ist das Besondere am Allerheiligsten Altarssakrament (sacrosanctum eucharistiae sacramentum), wodurch ragt es unter allen anderen Sakramenten heraus? Es ist die Verwandlung (conversio / transfiguratio) von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi. Nach kirchlichem Dogma handelt es sich dabei um eine totale Wesensveränderung (mutatio), d. h. die Gestalt (substantia) von Brot und Wein – also ihre materielle Seinsform – geht über in eine neue Daseinsweise, in der der Leib Christi als geistförmige Existenzweise und als reale, aber verborgene Gegenwart angenommen wird. Diese ‚wunderbare und einzigartige Verwandlung’ (conversio mirabilis et singularis) bezeichnet die Kirche als ‚transsubstantiatio’, ein Terminus, den das Konzil von Trient als „am geeignetsten“ (aptissime) befunden hat.
Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, unterscheidet die Theologie mit der Scholastik zwischen substantia (Wesen) und species (Gestalten) bzw. accidentia (Erscheinungsformen).
Die Akzidenzien sind von der Verwandlung ausgeschlossen, sie behalten – wie Thomas es nennt – ihr eigenes ‚esse’, und erfüllen als äußeres Zeichen den Zweck, den Leib Christi sichtbar zu machen.

Soweit meine Erläuterungen dazu. Da ich nicht vom Fach bin, nicht vertraut mit der Terminologie der Dogmatik, der wohl schwierigsten Disziplin der katholischen Theologie, läßt sich auch der Anspruch auf Vollständigkeit nicht aufrechterhalten. Meine Version muss deshalb verkürzt bleiben. Dazu ist die Sache, um die es hier geht, zu komplex und zu kompliziert. Wenn es sich so verhalten sollte wie beschrieben, dann ist diese Umwandlung beispiellos in der gesamten Schöpfung; sie hat die Gemüter erregt und bewegt bis auf den heutigen Tag und hat auch immer wieder zum Widerspruch herausgefordert. Was sich wirklich ereignet – da jede sinnliche Wahrnehmung fehlt - , entzieht sich unserer Erkenntnis und würde auch unser Begreifen übersteigen. Daher bleibt nur das staunende Verweilen vor dem Geheimnisvollen, vor dem unaussprechlichen, nie zu durchschauenden Mysterium, dem allein das Urteil des Glaubens gehört – so wie es im Bild des Raffael die Kirchenlehrer und die anderen hochrangigen Vertreter des kirchlichen Lebens auch tun.




Glauben - ein Gedankenprozeß mit Rückversicherung aus der Tiefe des Herzens

Schaut man in ihre Gesichter und deutet den Ausdruck ihrer Physiognomie richtig, dann begegnen uns in ihnen keine Hasardeure, die sich auf ein fragwürdiges Glaubensabenteuer eingelassen haben, ohne die Risiken zu bedenken, die glauben, weil es absurd ist (quia absurdum), die sich an Paradoxien klammern, für die in unserer Sprache die entsprechenden Kategorien fehlen und damit unerklärbar bleiben. Glauben ist angestrengtes Bemühen, ist ein Gedankenprozeß, an dessen Ende eine Überzeugung steht, die ihre Bestätigung erfährt durch eine Zustimmung aus dem Herzen heraus, durch ein Echo aus dem inneren Impuls heraus - von jenem "guten" Gefühl in der Tiefe jeder menschlichen Existenz, dem man nachsagt, daß es sich nicht täuschen lässt.
So betrachtet, spiegelt der Glaube eine Haltung wider, die sich nur positiv auf die Lebenseinstellung des einzelnen auswirken kann, und die in der Festlegung einer gradlinigen, zielgerichteten Perspektive ihren Ausdruck findet: glauben ist kein amorpher Zustand zwischen wissen und vermuten, sondern ein Fürwahrhalten, ein Vertrauen-Finden in Gottes Wahrhaftigkeit. Im hebräischen Denken hat „glauben“ nicht dieselbe Bedeutung wie das lateinische „credere“ = sein Herz (cor) einem anderen anvertrauen / überlassen, sondern man versteht darunter soviel wie: Halt bzw. Stand haben / sich festmachen in Gott. Wer in Gott „steht“, weiß Gott an seiner Seite, weil er zu ihm „steht“, weil er ihn trägt mit der Kraft, die alles menschliche Begreifen übersteigt, seiner Liebe nämlich, und die ihn anrührt bis auf den Grund seiner Existenz und ihn in seiner Betroffenheit (affectio) dazu veranlaßt, Farbe zu bekennen, Zeugnis abzulegen und seine gewonnenen Überzeugungen in einem klaren Urteil, in einem klaren „Standpunkt“ zu verdeutlichen. Übrigens ein Gedanke, dem man auch in den Confessiones des Augustinus begegnet, wo er schreibt: ‚et stabo atque solidabor in te, in veritate tua’ – Und so finde ich Halt/Stand – und das immer fester – in Dir, in Deiner Wahrheit.

Glauben im Spannungsfeld zwischen Betroffensein ('Angetansein' = affectio) und Bekennen einer Wahrheit, die nicht aus uns kommt als Produkt unseres Denkens, sondern die uns vorgegeben ist als Vermächtnis der ‚latens Deitas’, der verborgenen Gottheit (Thomas v. Aquin), ist ein Vorgang, der ein Beleg ist für seine Zeitlosigkeit und für seine Strahlkraft durch die Generationen hindurch und die in der Öffentlichkeit oft zitierte, aber wenig aussagekräftige Behauptung widerlegt, dass man früher (im Mittelalter und in der Übergangszeit zur Neuzeit, also in der Renaissance) gläubiger gewesen sei und ein intensiveres Verhältnis zu den Geheimnissen der christlichen Religion gehabt habe als heute.

Wer seinen Halt/Stand in Gott hat, kommt nicht darum herum, eine Wirklichkeit anzuerkennen, die so gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, die wir mit unseren Sinnen und unserem Verstand begreifen – eine Tatsache, der sich auch Thomas bewußt war, wenn er feststellt: ‚quia fides de absentibus est, non de praesentibus’ - weil es der Glaube mit den abwesenden (mit dem Unsichtbaren) und nicht mit den gegenwärtigen Dingen (mit dem Sichtbaren) zu tun hat.
Es geht darum, Grenzen zu überschreiten, über sich selbst hinauszugehen, damit wir offen werden für die Vorstellung, dass es neben der Welt, die wir als ‚Sehende’ Schritt für Schritt zu entdecken und mit unseren Methoden zu erfassen suchen, einen Raum geben muss, der unserem Zugriff verschlossen bleibt: ein unsichtbarer Raum, ein Ort, der allein Gott vorbehalten ist.
Selbst wenn es gelänge, die geistigen Kräfte aller Menschen zu bündeln, um wenigstens einmal einen Blick hinter die ‚Kulissen’ zu werfen, würde es nicht reichen, die Schranken zu Gottes Wirklichkeit zu öffnen. Denn das Unsichtbare ist das Lebenselixier, das eigentliche Element Gottes, das wahre Kennzeichen seines Seins. Und so kann ich mich nur an Goethe halten, der uns in seinem Proœmion diese treffenden, nicht zu überbietenden Worte hinterlassen hat:

Im Namen dessen, der Sich selbst erschuf!
Von Ewigkeit in schaffendem Beruf; …
In jenes Namen, der, so oft genannt,
Dem Wesen nach blieb immer unbekannt.


Anders als beim Wissen, dem durch die normative Kraft des Faktischen Grenzen gesetzt sind, gibt es beim Glauben keine Endgültigkeit, keinen Stillstand im Denken. Da sich die Wahrheit nie ganz mitteilen wird, sind immer neue Anläufe der Wahrheitsfindung nötig, um sich an ihren Kern heranzuarbeiten. Jede gewonnene Erkenntnis kann durch eine Gegenbewegung des Denkens aufgehoben werden bis hin zum Zweifel. Ist doch alles Illusion, „Windhauch und Luftgespinst“ (Kohelet), sinnlose Leere? Da im Glauben alle Erkenntnisse abgestimmt sein müssen mit einem Votum aus unserem Inneren heraus, werden sich Irritationen nicht vermeiden lassen, wird diese Ambivalenz von Glaube und Zweifel nicht überwunden. Blaise Pascal hat dies in seinen ‚Pensées’ (Gedanken) wunderbar zum Ausdruck gebracht, indem er schreibt: «Le cœur a des raisons que la raison ne connaît pas; on le sait en mille choses» - Das Herz hat Gründe, die die Vernunft nicht kennt; man erfährt es tausendfach. Was sinngemäß auch so lauten kann: das Herz hat seine Gründe, aber eben andere als die der Vernunft.
Dieses Wechselspiel, diese Konkurrenz von Glaube und Zweifel wird den Menschen immer begleiten: eine absolute Gewissheit wird es nicht geben; immer der Anfechtung ausgesetzt, bleiben viele Fragezeichen zurück. Vielleicht ist es auch gut so, denn der Zweifel bewahrt ihn davor, in seinem Glauben selbstgerecht und selbstgefällig zu werden.



Genitori, Genitoque … - Dem Erzeuger, dem Gezeugten …


Genitori, Genitoque - Dem Erzeuger (= dem Vater), dem Gezeugten (= dem Sohn)
Laus et jubilatio, - Gebühre Lob und Freude ohnegleichen,
Salus, honor, virtus quoque -
Dazu Wohlergehen [Glück und langes Leben], hohes Ansehen [Ehre und Respekt], und grenzenlose Macht!
Sit et benedictio: - Aber auch den Segen nicht vergessen:
Procedenti ab utroque -
Dem, der hervorgeht aus beiden (= dem Geist),
Compar sit laudatio. - Gelte in gleicher Weise Lob und Anerkennung.

Mit diesen Worten klingt der feierliche, schon mehrfach erwähnte Hymnus ‚Pange lingua’ aus, der seit mehr als 700 Jahren nicht mehr von den Fronleichnamsprozessionen und den Andachten in der katholischen Kirche wegzudenken ist und mit seinem Klang noch heute die Gemüter bewegt und erregt. Für mich persönlich ist das ‚Genitori, Genitoque’ die kürzeste, bündigste, glänzendste und in ihrer sprachlichen sowie logischen Klarheit unerreichte Formel der Trinität - dem genialen Geist eines Thomas von Aquin entsprungen und Ausdruck seiner unendlich tiefen Frömmigkeit und seines grenzenlosen Gottvertrauens, das im ‚Adoro te devote, latens Deitas’ den Gipfel dessen erreicht, was man gedanklich in Sprache umsetzen kann:

Adoro te devote, latens Deitas, - Auf Dich vertrauend und mich vor Dir verneigend [Demütig] bete
ich Dich an, verborgene Gottheit,

Quae sub his figuris vere latitas; - Du bist wahrhaft verborgen unter diesen Gestalten [von Brot und
Wein]

Tibi se cor meum totum subjicit, - Ich gebe Dir mein ganzes Herz, das,
quia te contemplans totum deficit. - Wenn ich so auf Dich schaue, an Deiner Größe zerbricht: so
klein, so unvermögend komme ich mir vor.


Visus, tactus, gustus in te fallitur, - Das Auge, das Gefühl und auch das Schmecken können sich in
Dir täuschen,

Sed auditu solo tuo creditur. - Für meinen Glauben verbindlich bleibt nur das von Dir Gehörte.
Credo quidquid dixit Dei Filius: - Ich vertraue der Botschaft des Gottessohnes [Ich glaube, was
immer der Sohn Gottes gesagt hat]:

Nil hoc verbo Veritatis verius. - Nichts ist wahrer, nichts außer seinem Wort: es ist die (absolute)
Wahrheit.
 
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Die 'disputà del sacramento' - zweiter Teil


Die visio beatifica, die göttliche Vision des Raffaelo


Ganz im Geiste eines Thomas von Aquin und im Bewusstsein des großen Glaubensbekenntnisses, des Symbolums der katholischen Kirche, in dem das Geheimnis der Dreifaltigkeit noch weiter aufgefächert wird, lässt Raffael uns teilhaben an einer phantastischen Vision – einer visio beatifica im scholastischen Sinn – und vor unseren Augen die Dreiheit der göttlichen Personen in ihrer ganzen Glorie aufstrahlen.



Es verwundert also nicht, wenn Raffaelo für uns den Himmel öffnet und die Wolkenbank, auf der die Kronzeugen des Alten und Neuen Testaments, die haute volée céleste, Platz genommen haben, so tief herabsenkt, dass sie fast den Horizont berührt und mit den Händen greifbar wird. Da die Luftbrücke des Himmels – aus zurückrollenden Wolken bestehend und unzähligen kleinen Engeln als Tummelplatz dienend – als Halbkreis um den Thron Christi gestaltet ist, sitzen sich die Heiligen genau gegenüber: auf der linken Seite, ganz nah an Christi Thron und von ihm halb verdeckt, ist Jeremias zu erkennen, der trotz seiner Drohworte den Untergang Jerusalems nicht verhindern konnte; in der Mitte: das jugendliche Gesicht umwallt von einer Fülle langen Haares und ganz versunken in seine Tätigkeit arbeitet Johannes an der Niederschrift seines Evangeliums und wird dabei von den staunenden Blicken des David beobachtet, der mit seinem Spiel auf der Harfe der Musik Geltung verschafft. Ganz außen befindet sich der heilige Petrus, eingehüllt in den Bäuschen seines rauschenden Gewandes, die Symbole der Schlüsselgewalt von seiner Rechten fest umschlossen und den Blick auf Christus gerichtet, im Dialog mit Adam, dessen kompakt-athletischer Körper Erinnerungen an Herkules wachruft.


Auf der rechten Seite, unmittelbar neben dem Thron Christi, nähert sich Judas der Makkabäer – der große Freiheitskämpfer Israels aus dem 2. Jahrhundert vor Christus. Dem Geist der Thora verpflichtet und aus der Verantwortung heraus, das Erbe der jüdischen Tradition zu bewahren, gelang es ihm in einem offenen Kampf die Syrer zu besiegen, die rücksichtslos versucht hatten, dem Volk Israel die griechische Kultur aufzuzwingen. Er gewann nicht nur die politische Unabhängigkeit Israels zurück, sondern auch die religiöse Selbständigkeit, die in der Wiedereinweihung des Tempels ihren sichtbaren Ausdruck fand. Noch heute erinnert das fröhliche Chanukka-Fest Anfang Dezember an die historischen Ereignisse; nicht nur zurückblickend, sondern auch vorwärtsgewandt ist mit diesem Fest die Hoffnung verbunden, dass auch in Zukunft das jüdische Volk vor schlimmen Schicksalsschlägen (vor Pogromen etwa) bewahrt werde.
Neben ihm im liturgischen Ornat, dessen grünes Obergewand einen Teil der Albe freigibt, Stephanus, der erste Martyrer. In seiner Rechten, die auf einem kunstvoll gearbeiteten Stock ruht, hält er einen Palmwedel, und im Angesicht des nahen Todes geht sein verklärt-sehnsuchtsvoller Blick hinauf zu den Engeln, die ihn schon bald ins Paradies geleiten werden.
In der Mitte der ‚gehörnte’ Moses mit den Gesetzestafeln auf seinem Schoß, die von seinem festen Griff umschlossen den unabänderlichen Willen Gottes demonstrieren.
Links von ihm hat Jakobus d. J. Platz genommen, der nach innen schauend und Raum und Zeit vergessend ganz versunken ist in seinen Gedanken.
Und schließlich die beiden letzten Figuren am äußeren Rand des Wolkengestühls: der Apostel Paulus, umhüllt von einem Gewand leuchtenden Rots und verschwenderischer Stofffülle, auf sein Schwert gestützt und in Begleitung seines wichtigsten Utensils, nämlich der Mappe zur Aufbewahrung der Briefe an die Gemeinden der Urkirche. Wie Petrus schaut er hinüber auf den, dem er im Leben wie im Tod gleich sein wollte: auf Christus. Nicht locker, wie ich finde, eher angestrengt.
Ihm zugewandt ist Abraham, der Stammvater Israels, dessen Gesicht ein prächtiger Bart grauen Haares ziert; er sieht Paulus nicht an, sondern betrachtet mit stoischer Miene das Geschehen unter ihm.





Während die Wolkenbank die horizontale Achse der Himmelsregion bestimmt, ist die Vertikale den drei göttlichen Personen vorbehalten. Hochoben am Firmament erscheint Gottvater, der als Pantokrator, als Allherrscher, die blaue Kugel des Weltengebäudes in seiner Linken hält – sichtbarer Beweis seiner universellen Macht. Die Rechte, um die im kühnen Wurf ein vielfach gefaltetes Tuch geschlungen ist, hat er zum Segen erhoben. Mit seinem Blick, der keinen Zweifel an seiner Autorität aufkommen lässt, durchmisst er die unendlichen Weiten des Alls. Die Fülle und Länge seines grauen Bartes und dazu die golddurchwirkte Kopfbedeckung, die eher an einen Doktorhut oder flaches Kissen erinnert als an einen Heiligenschein, unterstreichen den Absolutheitsanspruch seines schöpferischen Geistes. Flankiert ist er auf beiden Seiten von einem heranschwebenden Engelschor – schön anzuschauen! - , dem die leichten, vom Winde bewegten Wolken als Reisegefährt dienen, durch die sich die Strahlen des ewigen, von unzähligen Perlen funkelnden und gülden schimmernden Lichts ihre Bahn brechen.


Darunter – sozusagen im Brennpunkt des gesamten Geschehens – beansprucht der auferstandene Christus die Aufmerksamkeit des Betrachters. Er sitzt inmitten eines Nimbus, im Strahlenkranz einer riesigen Sonne; sein Oberkörper entblößt, Beine und der linke Oberarm bedeckt von einem weißen Tuch, stoffreich aus weich fließendem Material, und die Hände mit den Wundmalen erhoben, gleichsam um zu demonstrieren, dass das Leben über den Tod gesiegt hat.


Rechts von ihm – in devoter Haltung und mit beiden Händen den oberen Teil ihres kostbaren Gewandes zusammenhaltend, das vom Gesicht auf die Schulter herabfällt, und das an seinem äußeren Saum von einer aufwendig gestalteten Paspellierung geziert wird: Maria, die Gottesmutter. Ihr gegenüber Johannes der Täufer, der Rufer in der Wüste, der das Auftreten Jesu mit den bekannten Worten ankündigte: „Ich taufe nur mit Wasser; es kommt aber einer, der stärker ist als ich: er wird euch mit dem Heiligen Geist und Feuer taufen.“ Ein Mahner, ein Querdenker, der mit seiner Kritik auch nicht vor der damaligen Obrigkeit zurückschreckte, und der schließlich sein Leben mit dem Tode bezahlen musste, weil Salome auf Betreiben ihrer Mutter Herodias seinen Kopf verlangte.
Den gestreckten Zeigefinger der rechten Hand hat Johannes auf Christus gerichtet, der lange, mit mehreren Knoten versehene Stab des T-förmigen Kreuzes ist auf seine Schulter gelehnt, und das Kleid, bekanntlich aus Kamelhaaren bestehend, gibt den linken Arm frei und umschließt mit seinen Fransen nur notdürftig den Oberkörper. Er hat seinen Kopf von Christus abgewandt, und mit gebieterischem Ernst fordert er den Respekt aller Anwesenden ein.


Und da verkörpert auf der untersten Stufe – zu Füßen des Christusthrons – die vor einem Strahlenmedaillon schwebende Taube den Heiligen Geist, der durch sein Wehen, sein Pneuma, nicht nur den Vater und den Sohn verbindet, sondern der auch uns in der Tiefe unserer Existenz anrühren, aus dem Geworfensein auf uns selbst herausholen und uns ermächtigen will, Jesus als den Christus, als den Logos der Welt zu verkünden – eine Wahrheit, die nach dem Selbstverständnis der Kirche grundgelegt ist in den vier Evangelien, die im Bildwerk des Raffael geöffnet sind und von ebenfalls vier Engeln über dem Altar und dem Allerheiligsten hochgehalten werden, um so der Welt zu verdeutlichen, dass die Offenbarung Gottes das Vermächtnis seines Willens ist, das die Zeiten überdauernd für immer bestehen bleibt.
So ist Raffaels visio ganz im Sinne scholastischen Denkens gestaltet, das von der Annahme ausgeht, dass sich die Wahrheit von oben herabsenkt, und zwar in verschiedenen Abstufungen: vom Vater auf den Sohn, von ihm auf den Heiligen Geist und von diesem schließlich über die mit prophetischer Gabe ausgestatteten Glaubenszeugen auf uns. Der menschliche Geist braucht sich dann nur noch auf Spurensuche zu begeben. Von daher gesehen findet Ratzingers Bemerkung meine zustimmende Anerkennung, wenn er schreibt, dass die Wahrheit Gottes nicht ‚erfunden’, sondern ‚gefunden’ werden muss.
 
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Die 'disputà del sacramento' - dritter Teil


Die Trinität - Geheimnis des christlichen Glaubens: ein Wesen und drei Personen (una essentia tres personae)





Was hat es mit der Trinität, der Dreiheit des Einen göttlichen Wesens, auf sich; welches Gottesbild verbirgt sich dahinter? Befragen wir doch dazu das Große Glaubensbekenntnis, das Credo der katholischen Kirche, dessen Text zurückgeht auf das Jahr 325, verfasst auf der ‚Heiligen Synode’ von Nikaia (Nicäa), der goldenen Stadt am Schwarzen Meer und benannt nach der griechischen Siegesgöttin Nike.

Credo - Ich glaube
in unum DEUM. – an den Einen GOTT.
Patrem omnipotentem, - Den allmächtigen Vater,
factorem cæli et terræ, - Schöpfer des Himmels und der Erde,
visibilium omnium et invisibilium. – aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge.



Schon gleich im ersten Glaubensartikel begegnen uns Begriffe, wie sie gegensätzlicher nicht sein können: da wird Gott gleichzeitig bezeichnet als Vater und als Schöpfer aller Dinge, d. h. als Herr, der über allem Sein und Seienden waltet und wacht - eine Aussage, die verdeutlichen soll, dass seine Macht keine Macht auf Zeit oder auf Abruf ist; im Gegenteil: sie ist nicht begrenzt und nicht eingrenzbar, sie ist von einer Größe, die sich als universal, als kosmisch, als von Ewigkeit zu Ewigkeit gültig, ja als Allmacht versteht, wie es auch im Attribut des Vaters zum Ausdruck kommt.
Also diese Bezeichnung von Vater und Schöpfer enthüllt den ganzen Dualimus des christlichen Gottesverständnisses: einerseits geht es um Nähe, Vertrauen, Geborgenheit, Fürsorge – andererseits um unendliche Ferne, um Unnahbarkeit und Unbegreiflichkeit, die sogar die Abwesenheit Gottes nicht ausschließt.
Wenn es so ist, dass ‚alles durch Ihn geworden ist’, wie es im Johannesevangelium heißt, dann ist Gott der Urgrund, der Anfang allen Seins und Seienden. Nichts ist durch Zufall entstanden, alles Sein ist durch ihn gesetzt, von ihm gewollt, durch ihn geordnet: alles atmet seinen Geist, alles Sein ist durchdacht - ist gedachtes Sein, ist Sinn und Logos zugleich, nicht als fertiges Produkt geschaffen, sondern mit der Vorgabe, sich zu entwickeln, zu verändern, Gesetzmäßigkeiten zu überspringen und sogar zu entarten.
Das Sein als Gedachtsein erfährt seine Konkretisierung im Werk der Schöpfung. Sie ist die sichtbare Gestalt des göttlichen Willens, seines Logos: ‚Im Anfang war das Wort …’ (In principio verbum erat …). Aber die von Gott geschaffene Welt ist keine Selbstverwirklichung (er hat es schließlich nicht nötig, seine eigene Größe zu spiegeln und in dem von ihm Gesetzten eine Bestätigung, eine Belohnung zu finden). Alles ist geschehen aus Selbstanschauung heraus, wo die Unmittelbarkeit des Sehens in die Mittelbarkeit des Tuns und Gestaltens übergeht.
Im Anfang war das Wort und nicht die Materie. Die Kirche geht von einem idealistischen Ansatz aus, wobei der ihm zugrunde liegende Begriff der Idee durchaus wörtlich zu nehmen ist: sie macht sich ein bestimmtes ‚Bild’ (eidos /
εἶδος) von der Welt und deutet sie aus dem Glauben heraus. Sie nur unter naturwissenschaftlichen Aspekten zu betrachten, die die Dinge beschreiben wie sie sind, ist ihr zu wenig. Sie will das Ganze in einen höheren, geistigen Zusammenhang stellen. Ausgehend von der Vorstellung, dass es eine alles umgreifende Macht gibt, kommt für sie das Stoffliche, das aus naturwissenschaftlicher Sicht zu Beginn der Zeiten nur als einzig mögliche Seinsform denkbar ist, und das sich angeblich in einem unendlich langen Evolutionsprozess vom Niederen zum Höheren entwickelt hat, als Urmaterial, als Grundbaustein des Universums nicht in Frage. Genauso wird die These verworfen, dass das Geistige nur das Ergebnis, die Eigenschaft hochentwickelter Materie sei.

Auch das Materielle ist nach christlicher Überzeugung durch Gottes Akt hervorgebracht und den Menschen als Lebensgrundlage gegeben worden, wobei kein Zweifel daran besteht, dass alles, was geschaffen wurde, aus dem Bewusstsein absoluter Freiheit heraus geschehen ist. Gott lässt sich nicht vereinnahmen, nicht verbiegen, er ist kein ‚Lobbyist’. Wenn man nach dem Grund für die Entstehung der Welt sucht, wird man ihn in der Freiheit finden, die bestimmt ist durch die Souveränität schöpferischen Denkens.

Und nun noch ein Wort zu seiner Macht. Sie hat mit dem, was wir unter Macht verstehen, gar nichts zu tun: es ist nicht die Macht des Geldes, nicht die Macht der Politik und der Wirtschaft, es ist auch nicht das Streben nach Wohlstand, nach gesellschaftlicher Anerkennung, nach persönlichem Erfolg. Sie orientiert sich nicht an menschlichen Maßstäben, sie lässt sich nicht ‚dingfest’ machen, sondern vollzieht sich im Verborgenen: sie umspannt Raum und Zeit, ist Webstuhl allen Werdens, ist Urgrund alles Seins und Seienden. Vor diesem Hintergrund werden die Größenverhältnisse zurechtgerückt: Gott ist der Allmächtige, der Allherrscher (Pantokrator), er ist der Gott Sabaoth – der Herr aller Mächte und Gewalten (der himmlischen Heerscharen). „Ich bin der Herr, und sonst niemand“, heißt es bei Jesaja. Und weiter: „Vor mir wird jedes Knie sich beugen – alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde (vgl. auch Phil 2,10). Vor Gott ist der Mensch nur ‚das Staubkorn auf der Waage’ (Jesaja) und nicht der Halbgott, der vom Machbarkeitswahn verblendet meint, die Lösung aller Probleme hänge von ihrer erkenntnistheoretischen Durchdringung ab, sei eine Frage des Könnens und des technischen Fortschritts. Und Blaise Pascal – mein Lieblingsphilosoph seit Schülerzeiten – hat es auf den Punkt gebracht, wenn er die Stellung des Menschen in der Natur so beurteilt: „Car enfin qu’est-ce que l’homme dans la nature? Un néant à l’égard de l’infini, un tout à l’égard du néant, un milieu entre rien et tout. Infiniment éloigné de comprendre les extrêmes, la fin des choses et leurs principes sont pour lui invinciblement cachés dans un secret impénétrable, également incapable de voir le néant d’où il est tiré, et l’infini où il est englouti." –
Denn was zum Schluss ist der Mensch in der Natur? Ein Nichts vor dem Unendlichen und ein Alles gegenüber dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und Allem(allem Sein). Unendlich davon entfernt, diese Gegensätze zu begreifen, bleibt ihm auch das Ende der Dinge und die Ursachen, die dazu führen, auf immer verborgen, undurchdringliches Geheimnis; und ebenso sind seinem Verstehen Schranken gesetzt, wenn er das Nichts zu ergründen sucht, das ihn hervorgebracht hat, und auch das Unendliche, das ihn wieder verschlingt.

Aber das Paradoxe ist, dass Gott uns diese seine Macht nicht spüren lässt. Er drängt sich nicht auf, er zwingt uns nicht zu einem Verhalten, das im Widerspruch zu unserem Wollen steht, im Gegenteil: er gesteht uns alle erdenkliche Freiheit zu, die so radikal ausgelebt werden kann, dass sogar die Option auf totale Verleugnung alles Göttlichen besteht. Fast könnte man meinen, er habe sich freiwillig aus der Schöpfung zurückgezogen; der Donner der Zeit ist so laut, so ‚mächtig’ geworden, dass seine Stimme mehr und mehr verstummt, dass es ratsam ist, den Weg in die innere Kündigung anzutreten und ein Leben incognito zu führen, um diskret anderen Göttern das Feld zu überlassen: dem Gott des Mammons, dem Gott des Konsums, dem Gott der Raffgier und dem Gott der Vergnügungssucht.
Hat Gott also ausgedient, ist er ein Ewiggestriger? Nein! Seine Macht basiert nicht auf einer Herrschaft, die bestimmte Verhaltensweisen, im schlimmsten Fall Kadavergehorsam, erzwingen will, sondern sie beweist ihre Größe dadurch, dass sie ihre Stärke in Ohnmacht verwandelt, indem Gott sich nach unten begibt, sich auf Jesus herabsenkt und schließlich sein Leben durch menschliche Gewalt verliert – um es in der Auferstehung für immer wiederzugewinnen.


„Was wär' ein Gott, der nur von außen stieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe?“
, fragt Goethe im Proœmion. Für die Kirche eine Steilvorlage so richtig nach ihrem Geschmack, um darauf eine Antwort in ihrem Sinne zu geben.
In der Tat, was wäre das für ein Gott, der nach der Schöpfung keinen Einfluss mehr auf sie nähme, der sie wie ein aufgezogenes Uhrwerk dem freien Spiel der Eigengesetzlichkeit überließe? Was wäre das für ein Gott, der nur in sich selbst ruhte, gefangen in Selbstschau und Selbstherrlichkeit? Eine einsame Monade, unnahbar und entrückt, erstarrt in der Kälte des unendlichen Universums. Den Gott, den die Christen bekennen, ist kein selbstgefälliger Gott, der nur um sich selbst kreist, sondern ein Gott, der aus sich sein will und nicht wie die ägyptischen Gottheiten über die Menschen hinweg von einer Ewigkeit in die andere schaut, sondern der sich öffnen, sich offenbaren will mit dem Ziel, dem Menschen im Du zu begegnen mit der Kraft, die über sich hinausgeht, die sich verschenkt, der Liebe nämlich.
Wem das Wort Liebe nicht gefällt, kann es ersetzen durch den Begriff der ‚inclinatio’, der von Thomas den Vorzug erhielt und der soviel wie Hinneigung bedeutet. Für mich persönlich ein wunderbarer Ausdruck – verdeutlicht er doch, dass Gott den Menschen nicht einfach seiner ‚Bahn’ (Goethe, Aufsatz über die Natur) überlässt, ihn nicht in seinem Geworfensein auf sich selbst seinem Schicksal ausliefert, sondern ein Gott an seiner Seite, der ihn trägt, sich ihm zuneigt - selbstlos, unaufdringlich und immer ansprechbar, der ihm die Hand entgegenstreckt und sein Gesicht zeigt. Warum? Weil Gott ein Gegenüber braucht, ein Echo, und weil wir die einzigen sind, die über das Sensorium verfügen, seine Ausstrahlung, deren Geheimnis im Sich-Verschenken und Sich-Verausgaben liegt, selbst mit ihren feinsten Vibrationen und leisesten Schwingungen wahrzunehmen, sich ihr reflektierend zu stellen, um sie anschließend nach eingehender Prüfung in eine positive Rückmeldung umzuwandeln.
Wenn Gott dem Menschen im Du begegnen will, dann darf der Mensch auch Du zu ihm sagen. In einer solchen Anrede verliert Gott den Nimbus des Absoluten, des Abstrakten; er wird zur Person, zum Vater, und so wird ein Gespräch mit ihm auf der Ebene von Ich und Du möglich. Er wendet uns sein Angesicht zu, und indem er das tut, wird die unendliche Kluft, die zwischen ihm und uns besteht, überwunden. Nicht nur wir müssen Grenzen überschreiten, wenn wir uns ihm öffnen, sondern umgekehrt muss Gott auch Grenzen überschreiten, indem er sich außerhalb seiner Macht begibt und sich auf die menschliche Stufe herablässt. Darin zeigt sich seine wahre Größe: er ist sich nicht zu schade, sich klein zu machen, sich aus seiner schrankenlosen Totalität auf das ‚Staubkorn’ Mensch herabzubeugen, also vom Höchsten zum Niedrigsten. Dazu passt auch gut jener Leitspruch, den Hölderlin seinem ‚Hyperion’ vorangestellt hat: non coerceri maximo, contineri minimo – divinum est (nicht vom Größten umschlossen, sondern vom Kleinsten ergriffen zu werden – das ist göttlich).

Die Rede von Gott als Person ist so alt wie der Glaube selbst. Undenkbar, die Personalität Gottes zu leugnen oder abzuerkennen und ihn ganz neutral als das ‚Sein-Selbst’ (P. Tillich), als das höchste Wesen bzw. Seiende, als das Letzte und Absolute, als das Unverfügbare und nicht Übersteigbare zu bezeichnen. Damit würde Gott seine Eigenständigkeit, seinen ‚Selbstand’ verlieren und degradiert zu einem gestaltlosen und formlosen „Es“, zu einer sinnentleerten Macht, zu einer unverbindlichen Erscheinung. Von Anfang an hat man im Christentum an den Einen Gott in drei Personen geglaubt und sich dazu bekannt: ein Wesen in drei Personen bzw. der persönliche Gott als dreieiniger, das ist kein Widerspruch in sich. Die Einheit und die Unteilbarkeit Gottes sind seiner ‚Natur’ eigen; nur in der Art und Weise, wie Gott uns begegnet und wie wir ihn wahrnehmen, bestehen Unterschiede: nämlich als Vater, als Sohn und als Heiliger Geist, der beide verbindet mit der Kraft, die das Innerste des göttlichen Wesens ausmacht, und die alles hervorbringt, belebt, bewegt und verwandelt, der Liebe, und in deren Namen ihr Handeln erst Sinn macht.
Der Glaube an den Einen Gott in drei Personen setzt natürlich ein Verständnis von Personalität voraus, das sich der Bewertung nach menschlichen Maßstäben entzieht. Gott ist kein Individuum im herkömmlichen Sinn, in der Begegnung mit ihm erfährt der Mensch ihn zwar als Gegenüber, als „Du“, aber als solcher bleibt er transzendent - ungreifbar, unverfügbar, unsichtbar; das Ganze ist dennoch kein Dialog nur in eine Richtung, ist keine Einbahnstraße, es gibt auch eine gegenläufige Bewegung, die im Ergriffensein auf das Innerste des menschlichen Wesens, auf sein „Ich“ zielt und letztlich eine "Kehre" (Heidegger), d. h. eine Ver-wandlung seiner Existenz zur Folge hat.
Vielleicht sollte man überlegen, ob man den Begriff der Person erweitert durch den der personalen Macht, um dadurch stärker die Über-Personalität Gottes, seine Totalität zu hervorzuheben, die alles Sein und Seiende trägt und umschließt, und die mit ihrer Kraft – ihrer dynamis (
dunamiV) bzw. energeia (energeia) – Raum und Zeit, Anfang und Ende, alles Werden und Vergehen durchströmt und durchwebt und so den Takt im 'circle of life' (Elton John) vorgibt und bestimmt.



Die Mitte des Trinitätsgeheimnisses - die Zweiheit von Vater und Sohn

Wir können nicht vom Vater sprechen, ohne auf den Sohn zu schauen.

[Credo …] - [Ich glaube …]
(Et) in unum Dominum Jesum Christum, - (Und) an den einen Herrn Jesus Christus,
Filium Dei unigenitum. - Gottes eingeborenen Sohn.
… Deum de Deo, lumen de lumine, Deum verum de Deo vero. - … Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott.
Genitum, non factum, - Gezeugt, nicht geschaffen
consubstantialem Patri: - eines Wesens mit dem Vater:
per quem omnia facta sunt. - durch Ihn ist alles geschaffen.




Unvermittelt sind wir im Zentrum des Trinitätsgeheimnisses angelangt, das sich als Zweiheit von Vater und Sohn darstellt, aber in Wirklichkeit eine unauflösliche Verbundenheit meint. Gott und Vater unterscheiden sich nicht voneinander wie zwei verschiedene Wesen, sondern nur durch ihre Beziehung, ihre Relation zueinander: sie bleiben eine unzertrennliche Einheit (Ich und der Vater sind eins – Joh 10,30), sie sind wesensgleich (consubstantialem Patri – Glaubensbekenntnis von Nicäa).
Die Theologie wäre nicht Theologie, würde sie ihre Spekulation nicht zum Äußersten treiben und den Vater als den „Erkennenden“ und den Sohn als den „Erkannten“ bezeichnen bzw. im Sohn das Abbild der Selbstschau des Vaters sehen (siehe Hebr 1,3: Er, der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Vaters …); wobei der Dritte im Bunde, der Heilige Geist, ‚der vom Vater und vom Sohne ausgeht’, als Ausdruck ihrer wechselseitigen Liebe betrachtet wird.
Liebe – das mag eine abgegriffene Vokabel sein, eine Leerformel ohne jede Bedeutung, zumal heute, wo wir eine Eiszeit der Gefühle erleben, eine Flucht in die Vereinzelung, wo niemand sich mal Zeit nimmt für den anderen, sondern jeder mit seinem Ego beschäftigt ist und nur an Karriere und Selbstverwirklichung denkt, und wo das Single-Dasein als die Lebensform propagiert wird, in der sich die Vorstellungen von Unabhängigkeit und persönlicher Freiheit am ehesten umsetzen lassen. Wenn es im Ersten Johannesbrief heißt: „Gott ist die Liebe“ – 1 Joh 4,16), dann ist damit der unaufhörlich fließende Golfstrom des Sich-Verschenkens gemeint, sozusagen das Lebensprinzip, das das Innerste des göttlichen Wesens ausmacht, es ‚zusammenhält’ wie Goethe es nennen würde, gleichsam die Atmosphäre, die Vater und Sohn umgibt und in der sie leben. Und in diesen Golfstrom möchte Gott auch uns hineinnehmen, er will uns befreien aus dem Gefängnis unserer Vereinsamung und Selbstbezogenheit, aus den Fesseln unserer Verblendungen und Eitelkeiten, aus der Krise unserer Existenz, die Faust schon zu der Frage veranlasste: "Bin ich der Flüchtling nicht? der Unbehauste? Der Unmensch ohne Zweck und Ruh'?" Kurzum, er will uns von alldem befreien und uns teilhaben lassen an der überbordenden Fülle seines Lebens.

Steigen wir von den Höhen der Spekulation herab, und jeder möge sich fragen, wie er Gott in seinem Alltag begegnet (und ob er überhaupt einen Zugang zu ihm gefunden hat). In meinem Glauben spielt die oben ausgeführte Wortakrobatik keine Rolle. Für mich bleibt Gott der geheimnisvolle Urgrund allen Lebens – ein Gegenüber, das mir bei aller Distanz nie ganz fremd, manchmal sogar sehr vertraut vorkommt, und dessen Nähe ich spüre, geradezu wie auf Fittichen getragen, wenn ich in der Schrift auf Stellen stoße, die mich als Person betroffen machen und ganz tief berühren.
Bei der Beschäftigung mit diesen, bis auf den Grund der Existenz reichenden Fragen, werden mir schnell Grenzen aufgezeigt; ich weiß, wo ich als Mensch stehe, und ich kann letztlich nur Worte des Erstaunens finden vor dem unfassbaren göttlichen Geheimnis. Manchmal denke ich, kann Nichtwissen mehr sein als Wissen.
 
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Die 'disputà del sacramento' - vierter Teil


Der historische Jesus (kurzer Abriss)

Es ist und bleibt für mich ein Phänomen, dass auch heute noch nach 2000 Jahren ein ungebrochenes Interesse besteht an dem Mann, der in Palästina, einer entlegenen und kaum beachteten Provinz am östlichen Rand des Imperium Romanum, die Bühne der Weltgeschichte betrat und von dem sich nur wenige historisch gesicherte Spuren nachweisen lassen.
Nach christlicher Tradition gilt Bethlehem (bet-laham=Haus des Brotes) als Geburtsort Jesu – nicht nur, weil er aus dem Hause Davids stammte, sondern weil Josef hier auch Besitz hatte bzw. Anteil am Familienbesitz besaß. Dies geschah unter der Herrschaft des Augustus, mit dessen Namen die lange Friedenszeit der pax romana verknüpft ist, die ohne eine straff geführte Administration nie zustande gekommen wäre, und die das riesige Staatsgefüge zusammengehalten hatte. In den ‚res gestae’, den Taten des Augustus, die uns im berühmten Monumentum Ancyranum erhalten geblieben sind, ist von drei Volkszählungen (census) die Rede – Aktionen, die Augustus energisch betrieben haben soll, weil die Besteuerung der Provinzen die Haupteinnahmequelle des Staates war. So ist der Bericht des Lukas keine Legendenbildung, sondern seine Angaben stehen im Einklang mit den kaiserlichen Anordnungen.
Um das Jahr 28 (n. Chr.) – ‚im 15. Jahr des Kaisers Tiberius’ – begann Jesus, der bis dahin seinem Beruf als Handwerker nachgegangen war und im Kreise der Familie und seiner Verwandten gelebt hatte, mit seiner Lehrtätigkeit in der Öffentlichkeit. Es war der Anfang der Zeitenwende, einer weltverändernden Stunde, und wäre Goethe damals schon Zeuge gewesen, er hätte die gleichen Worte gefunden, die er als Beobachter der Schlacht von Valmy (1792) notierte: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus.“
Gleich der erste öffentliche Auftritt Jesu war von einem Paukenschlag begleitet; auf der Hochzeit zu Kana verwandelte er Wasser in Wein. Diesem Wunder sollten noch weitere folgen (Krankenheilungen / Brotvermehrung / Totenerweckungen usw.). Man muss sich allerdings davor hüten, die Wunder isoliert zu betrachten als Ereignisse, die sich weder mit den Gesetzen der Logik noch mit den Naturgesetzen erklären lassen. Sie wollen keine Laborversuche sein oder experimentelle Inszenierungen, um den Nachweis zu erbringen, dass Wunder das Werk einer höheren, göttlichen Macht sind. Die Absicht des NT ist es, eine bestimmte Botschaft zu transportieren: Jesus ist der wahre Weinstock, ist das Brot des Lebens, ja er ist das Leben, der Sinn allen Seins: gleichzeitig Logos, Wahrheit, Liebe – und alles in einem. Ihm dürfen wir uns anvertrauen mit unserem Denken und Fühlen, mit unseren Fehlern und Schwächen, mit unseren Ängsten und Sorgen, mit unseren Unzulänglichkeiten und Defiziten, mit unseren Leidenschaften und Emotionen. Er macht die Herzen weit und öffnet neue Horizonte, in seine Arme können wir uns fallen lassen, denn er ist der Garant, dass wir nicht in Leere oder ins Nichts versinken.

Die Wahrheit gebietet es, eine ergänzende Korrektur hinzuzufügen: es war nicht die Hochzeit von Kana, die den eigentlichen Beginn seines Eintritts in die Öffentlichkeit markiert, sondern diesem Ereignis ging noch ein anderes voraus, nämlich die Taufe am Jordan. Aber diese Hochzeit zeigte Wirkung: die Nachricht davon verbreitete sich wie ein Lauffeuer, überall wo Jesus jetzt auftrat, stand er im Focus des öffentlichen Interesses. Obwohl die Evangelien keine Biographie oder Sammlung historischer Begebenheiten sein wollen, lässt sich doch ein Grundschema erkennen, sowohl was die räumliche als auch was die zeitliche Abfolge betrifft. Denn ohne die geschichtliche Wirklichkeit bestünde die Gefahr, Jesus zu einem Mythos zu verklären.
Drei Räume sind es, denen Markus (später auch Matthäus und Lukas, die sich im wesentlichen an Markus orientierten) die Taten und Worte Jesu zuordnet: Galiläa, der Hauptschauplatz seines Wirkens mit dem See Genezareth und den an seinem Ufer gelegenen Orten Tiberias, Magdala, Kafarnaum, Betsaida, Gergesa - die zahlreichen Wanderungen und schließlich Jerusalem, der Ort seines Leidens und Sterbens und seiner Auferstehung.
Die größten Triumphe erlebte Jesus in Galiläa („Frühling in Galiläa“): Jubel und Begeisterung der Bevölkerung kannten keine Grenzen, der Zustrom war riesig. Aber wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten. An ihm sollten sich schon bald die Geister scheiden. Denn in den einflussreichen Gruppen der Sadduzäer (führende Schicht der Priesterschaft) und der Pharisäer (die ‚Frommen’, später die Abgesonderten: sie setzten sich für das ‚wahre’ Israel ein / hielten buchstabengetreu an der Thora fest / mieden den Kontakt mit Nichtjuden, Heiden, Gesetzlosen usw. / wehrten sich gegen alles, was von außen an fremder Kunst, Kultur und Religion eindrang) und schließlich der Schriftgelehrten (als Verwalter und Interpreten des Gesetzes waren sie absolute Autoritäten und beim Volk sehr geachtet) formierte sich heftiger Widerstand gegen Jesus, der im Laufe der Zeit mehr und mehr zunahm und in der Forderung gipfelte, den ‚falschen Propheten aus Nazareth’ hinzurichten.
Die Kritik an den Zuständen auf dem Tempelberg und am religiösen Übereifer der Pharisäer, die es nur darauf anlegten, dem Buchstaben der Thora zu genügen und eine auf Äußerlichkeiten und allgemeine Bewunderung bedachte Frömmigkeit zur Schau zu stellen, hatte die Kluft zwischen Jesus und seinen Gegnern unüberbrückbar und den Widerstand unüberwindbar werden lassen. Damit die Spannungen nicht in offene Gewalt gegen ihn umschlugen, war es ein Gebot der Notwendigkeit, die Auseinandersetzungen mit ihnen nicht auf die Spitze zu treiben, sondern sich in Gebiete oder an Orte zurückzuziehen, die ihm und seinen Jüngern Schutz und Sicherheit boten.
In der Nähe von Caesarea Philippi stellte er die entscheidende Frage nach seiner Person und forderte die Jünger zu einem klaren Bekenntnis heraus. Interessanterweise sprach er von sich in der dritten Person und bezeichnete sich selbst als ‚Menschensohn’ - eine Art Deckname, hinter dem sich der Anspruch seiner Messiaswürde und seiner göttlichen Auftrages verbergen sollte. „Für wen halten die Leute den Menschensohn?“ (Mt 16,13) Und wenig später ganz eindringlich: „Ihr aber, für wen haltet Ihr mich?“ (Mt 16,15) Und Petrus gelang es, seine Antwort in die kürzeste aller Glaubensformeln zu fassen: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes.“ (Mt 16,16)

Den Anlass zu seiner Festnahme gab Jesus selbst mit einem Ereignis, das bei Johannes höchste Beachtung findet, und über das er in aller Ausführlichkeit berichtet: es ist die Auferweckung des Lazarus aus Betanien (einer Ortschaft am Abhang des Ölbergs). Was jenem das Leben zurückgab, sollte ihm den Tod bringen. Diese Erzählung über das letzte große Wunder Jesu gehört zum Ergreifendsten und Menschlichsten des ganzen NT, vor allem der Dialog zwischen Jesus und Marta, an dessen Ende sie sich zu ihm als dem Sohn Gottes bekennt: „Ja, Herr, ich glaube, dass du der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll.“ (Jo 11,27) Sie hatte erkannt, dass Jesus der Christus ist, dass er der Logos, der Sinn allen Seins ist, dass in ihm die Ewigkeit Gottes zeitlich, greifbar, unendlich nah, ja geradezu angehalten wurde, was die Bibel in der ihr eigenen Sprache so ausdrückt: „Und das Wort ist Fleisch(sarx -
sarx) geworden und hat unter uns gewohnt.“ (Jo 1,14)
Dieses Gespräch ist die Essenz dessen, was glauben meint, nämlich zu einer Entscheidung stehen, die geboren wird in der Tiefe unserer Existenz, unserer Seele – abseits vom Alltagslärm und marktschreierischen Brimborium der Werbung. Glauben, das heißt die Gesetze der Schwerkraft überwinden, alte Gewohnheiten und Denkmuster aufgeben, den Panzer der Selbstgefälligkeit und Selbstbezogenheit durchstoßen und das Paradoxe riskieren: sich öffnen für das Unsichtbare, das Verborgene, das Unfassbare, das über uns Hinausweisende, also für einen Raum, der außerhalb unseres Blickfeldes, unseres Erfahrungshorizontes liegt, jenseits unseres Verstehens und Begreifens, der aber nicht unwirklich ist, sondern die eigentliche Wirklichkeit, sozusagen der Humus des Seins, der alles trägt und alles Leben hervorbringt und für immer bewahrt.
Wer diesen Sprung wagt, hat die Gewissheit, dass es im Glauben keine Grenzen mehr gibt, dass alles Unzulängliche aufgebrochen und entschränkt wird; alles wird ver-wandelt, selbst der Tod verliert seine Endgültigkeit und wird zum Leben: „Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben.“ (Jo 11,26)

Die Nachricht von der Auferweckung des Lazarus verbreitete sich in Windeseile. Jesus war ‚Kult’, und seine Handlungen offenbarten mehr und mehr messianische Züge, obwohl Jesus in der Öffentlichkeit nie von sich als dem Messias sprach. Seine Mission war nicht politisch motiviert: er sah sich weder als Befreier, der die römischen Besatzer aus Israel vertreiben wollte, noch als Erneuerer der Königsherrschaft. Er war Jesus der Christus, die Inkarnation göttlicher Selbstoffenbarung, die Inkarnation absoluter Wahrheit, die Inkarnation des ewigen Logos, die Inkarnation einer selbstlosen, nie enden wollenden und alles verzeihenden Hinneigung / Zugewandtheit (inclinatio) zu uns Menschen.

Die Römer beobachteten mit Argwohn jede messianische Umtriebigkeit, und im Falle eines Aufstandes hätten sie keinen Augenblick gezögert, ihn gewaltsam niederzuschlagen, um den Juden auch noch den letzten Rest an Freiheit zu nehmen. Auch die führenden religiösen Kreise, allen voran die Pharisäer und Hohenpriester, waren beunruhigt: sollte sich der Messiasanspruch des ‚Propheten aus Galiläa’ bewahrheiten, dann hätte der Hohepriester sein Amt und damit seine Macht verloren, und auch der Tempeldienst mit seinen Vorschriften und Ritualen wäre eingestellt worden. Als erster hatte das Kaiphas, der damals amtierende Hohepriester, begriffen. Auf der extra wegen Jesus einberufenen Sondersitzung des Hohen Rates appellierte er an die Entschlossenheit der hier versammelten Mitglieder: „… es ist besser für euch, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht.“ (Jo 11,50) „Von diesem Tag an“, so lesen wir einige Zeilen weiter, „waren sie entschlossen, ihn zu töten.“ (Jo 11,53)
Der rechtmäßigen Verurteilung zum Tode ging zunächst einmal seine Festnahme durch das schwer bewaffnete Verhaftungskomitee unter der Führung des Judas voraus. Sie fand statt zur nächtlichen Stunde im Garten Getsemani, der am Fuße des Ölbergs lag, und von dem sich aus ein wundervolles Panorama vor den Augen des staunenden Betrachters ausbreitete auf das riesige, rechteckig geformte Plateau des Tempelplatzes mit dem goldüberzogenen Heiligtum, das bei Sonnenaufgang ‚im hellsten Feuerglanz schimmerte’ (Josephus Flavius), und auf die zahlreichen Höfe, die das hoch aufragende Tempelgebäude umgaben. Es war aber auch die Stätte seiner Todesangst (… und sein Schweiß war wie Blut, das auf die Erde tropfte – Lk 22,44) und seines verzweifelten Gebetsrufs: „Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber.“ - Pater mi, si possibile est, transeat a me calix iste. / Mt 26,39)
Anders als erwartet ließ sich Jesus widerstandslos festnehmen, und gefesselt brachte man ihn zu Hannas, dem Vorgänger des Kaiphas im Amt des Hohenpriesters. Er war der eigentliche Gegenspieler Jesu: er fühlte sich in seiner Existenz und Macht bedroht, denn sein Anspruch, der einzig wahre Sachwalter göttlicher Vollmacht zu sein, war mit dem Sendungsanspruch Jesu und seiner Kritik an der Glaubensauslegung der Pharisäer und Schriftgelehrten nicht in Einklang zu bringen.
Während das Vorverhör durch ihn eher im privaten Rahmen ablief, war der Prozess vor dem Hohen Rat (Synedrium) unter der Leitung des Kaiphas von ganz anderem Zuschnitt: ihm kam es darauf an, einen ‚rechtlichen’ Weg zu finden, um das Todesurteil, das im Grunde genommen schon vor der Verhandlung feststand, zu bestätigen. Als das Verfahren jedoch in Stocken geriet, stellte Kaiphas auch in seiner Funktion als oberster Untersuchungsrichter die alles entscheidende Frage: „Bist du der Messias, der Sohn Gottes?“ (Mk 14,61) Die Antwort, die Jesus vor allen Zeugen gab, fiel unmissverständlich aus: „Ja, ich bin es.“ (Mk 14,62) Kaiphas hatte sein Ziel erreicht. „Wozu brauchen wir noch Zeugen? Ihr habt die Gotteslästerung gehört.“ (Mk 14,63 – 64). Nach jüdischem Recht musste in einem solchen Fall die Todesstrafe verhängt werden. Der Paragraph, der das verlangte, lautete so: „Wer sich göttliche Ehren anmaßt, ist ein Gotteslästerer. Er muss mit dem Tode bestraft werden.“
Für die Vollstreckung dieses Urteils war aber nicht der Hohe Rat zuständig, sondern die römische Verwaltungsbehörde, vertreten durch ihren obersten Beamten, den Statthalter Pontius Pilatus. Unter dem Druck der Straße willigte er schließlich in das Urteil ein: „Ibis ad crucem – Du wirst das Kreuz besteigen“. Dies geschah – nach allem, was wir heute wissen – an einem Freitagnachmittag, vermutlich am 7. April des Jahres 30 auf dem Golgotahügel, auch Kalvarienberg genannt. „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“, sollen die letzten Worte Jesu gewesen sein. Es sind die selben Worte, die uns im Psalm 31 begegnen; diesen Psalm haben damals zeitgleich Tausende von Pilgern laut auf dem Tempelplatz als Abendgebet gesprochen, und es ist sicher anzunehmen, dass Jesus – obschon in der letzten Phase seines Todeskampfes, seiner agonia – noch die Stimmen seines Volkes wahrgenommen hat.
 
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Die 'disputà del sacramento' - fünfter Teil


Jesus der Christus, der Logos allen Seins und Seienden




Wichtiger als der ‚historische Jesus’ ist Jesus der Christus – der Gesalbte oder Messias. Das hat auch Raffael in seinem Bild zum Ausdruck bringen wollen: vor einer riesigen, goldschimmernden Sonnenscheibe, deren Strahlen nach allen Seiten hin ausgreifen, erscheint der auferstandene Christus mit entblößtem Oberkörper und zum Gebet erhobenen Händen. Er hat ihm geradezu appollinische Züge verliehen, um dadurch unmissverständlich eine bestimmte Botschaft zu transportieren: Christus ist der Appoll des wahren und ewigen Lichts, sein Leben ist nicht in der Dunkelheit des Todes geblieben, sondern strahlt auf im Glanz des unvergänglichen Lichts, das mit seiner Kraft das ganze All durchflutet und alles, was darin lebt und atmet, und das bis in unsere Herzen hineinwirkt, wenn wir uns diesem Licht öffnen. „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen“, so hat es der Apostel Paulus in seinem Römerbrief (Röm 5,5) formuliert.
Durch Christus ergibt sich für uns ein ganz neues Gottesbild: der Gott unseres Glaubens hat nichts gemein mit den monumentalen Statuen ägyptischer Gottheiten, die selbst noch in sitzender Pose erhaben-majestätisch wirken und die den Abstand zu den Menschen unendlich groß erscheinen lassen, und er hat nichts gemein mit dem Gott der Philosophen – also kein Objekt tiefgründiger Spekulation, sondern er ist Subjekt alles Geschaffenen, der nicht eines anderen bedarf, sondern in vollkommener Freiheit handelt und entscheidet. So hat er auch den Zeitpunkt seiner Entschränkung, seiner ‚Entäußerung’ bestimmt und damit ein Ereignis herbeigeführt, so ungeheuerlich, dass es all unsere Vorstellungskraft sprengt und nur noch glaubend verstanden werden kann. Er hat den Gegensatz von oben und unten, von Distanz und Nähe aufgehoben; durch ihn hat sich das Zeitlose ins Zeitliche, das Unendliche ins Endliche gewandelt, mehr noch: er hat seine göttliche Existenz eingegossen, je eingeschmolzen in die menschliche Existenz Jesu, in die Unzertrennbarkeit von Vater und Sohn, in das Einswerden des Logos mit der Welt. Gott, der das Wort, der Logos (
LogoV) ist – Sinn, Grund und Ursprung allen Seins und Werdens – ist selbst zum Wort geworden, er hat sich in das Wort hineinbegeben, um so deutlich zu machen, dass Person und Botschaft, Sagen und Handeln unauflösbar miteinander verbunden sind und es immer bleiben: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.“ (Mk 13,31)

Folgt man der Schultheologie, dann ist die Selbstoffenbarung Gottes mit Christus abgeschlossen: in ihm treffen Gottsein und Menschsein aufeinander, um im Einssein die Wesensgleichheit des Vaters mit dem Sohn aufscheinen zu lassen. Aber die ‚Sache’ mit Christus geht noch weiter: er ist zum Hoffnungsträger für alle Generationen nach ihm geworden, eigentlich für die gesamte Menschheit, gemessen an der Verbreitung seiner Botschaft rund um den Globus. An Christus glauben heißt an eine Zukunft glauben, die - weit entfernt von den realen Utopien des ägyptischen Totenkults - auf einer höheren Ebene zu suchen ist: es ist die Einkehr in die unsichtbare und für uns nie zu begreifende Wirklichkeit Gottes, die wir nur in der Unmittelbarkeit des Schauens und sicher auch des Staunens erfahren dürfen, sozusagen im Ursprung eines unvergänglichen Lichts und einer absoluten Freiheit, im Innern unseres Schöpfers – des Pantokrators – selbst, an dessen Sein wir teilhaben und von dessen Sein wir Teil sein werden.
Für uns Christen ist das keine Fatamorgana, sondern Fakt, denn seit Christus wissen wir, dass Gott sich nicht hinter seiner Macht verschanzen, sondern aus ihr heraustreten will; er will aus sich sein, und zwar so radikal, dass er sich selbst der Ohnmacht am Kreuz ausgeliefert hat. "Er ward verschmäht und verachtet, von allen verschmäht, ein Mann der Schmerzen und umgeben von Qual - È stato disprezzato e reietto dagli uomini, uomo dei dolori che ben conosce il patire." (Jes. 53,3) Ein beispielloser Vorgang, geradezu ein Skandalon, so unglaublich, dass man fast vermuten könnte, dahinter stecke eine abstruse theologische Idee. Für den Gläubigen aber ist es der sichtbare Beweis, dass Christus sein Leben, seine Existenz weggegeben hat für uns, dass er sich an uns verloren hat, damit wir leben! Er hat sich für uns ‚gedemütigt’ – ich weiß, ein verstaubter, altmodischer Begriff, wenig alltagstauglich und eigentlich nur noch im kirchlichen Raum gebräuchlich; wenn man aber von seiner lateinischen Bedeutung der ‚humilitas’ ausgeht – abgeleitet von humus = Erde, Boden; auch das Niedrige, Staub – dann wird schnell klar, was gemeint ist: von Gott geht eine Bewegung aus zu uns hinunter, er will sich hinneigen zu uns, er will sich klein machen für uns, er will sich ‚erniedrigen’, er will sich hineinbegeben in das Elend, den Staub der Welt. Wir sind ihm nicht gleichgültig, wir sind für ihn keine Massenware der Natur - ex und hopp! – , wir sind für ihn keine Nummer, die im Einerlei der Zahlen verschwindet: er hat jeden von uns bei seinem Namen gerufen, wie uns der Prophet Jesaja versichert: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich errettet! Ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst zu mir! (Jes 43,1)
Und kann man einem Gott die Gefolgschaft verweigern, der uns entgegenkommt mit der Kraft, die aus der Mitte seines Seins nach allen Seiten hin ausstrahlt und von uns als das Eigentliche seines Wesens wahrgenommen wird, die über sich hinausgeht, die alles versteht und verzeiht, oder wie Paulus sagt, „die alles erträgt, alles glaubt, alles hofft, allem standhält“ (1 Kor 13,7) – mit der Liebe nämlich, und dem wir immer in der Intimität des Du begegnen dürfen?



Geist und Person, passt das zusammen?

[Credo …] - [Ich glaube …]
(Et) in Spiritum Sanctum - (Und) an den Heiligen Geist
Dominum et vivificantem: - den Herrn und Lebensspender:
qui ex Patre Filioque procedit: - der vom Vater und vom Sohne ausgeht.
Qui cum Patre et Filio simul - Der mit dem Vater und dem Sohne zugleich
adoratur et conglorificatur: - angebetet und verherrlicht wird:
qui locutus est per Prophetas. - der durch die Propheten gesprochen hat.




Dieser Artikel, der sich mit dem Heiligen Geist als der dritten Person der göttlichen Trinität befasst, gibt mir nach wie vor Rätsel auf: Geist und Person, wie passt das zusammen? Ist es nicht so, dass wir Geist immer in Zusammenhang bringen mit der Welt der Ideen, die wir mit unserem Denken analytisch zu durchdringen suchen, die wir im Sinne Kants der ‚Kritik der reinen Vernunft’ unterwerfen, um zum Apriori, dem ‚Ding an sich’, zu gelangen – zu Erkenntnissen also, die frei sind von sinnlichen Erfahrungen und Eindrücken (vor aller Erfahrung!), und die sich uns als reine Denkform unseres Verstandes auftun?
Auch im Bildwerk Raffaels erscheint der Heilige Geist nicht als Person, sondern im Symbol einer weißen Taube, die geradewegs herabschwebt, und deren Konturen sich scharf abheben vor einem Medaillon, das vor uns in hell leuchtendem Gold aufstrahlt. In meinem Gedächtnis stelle ich mir die Szene am Jordan vor, wo Johannes d. T. dabei ist, an Jesus die Taufe zu vollziehen. „Und als er aus dem Wasser stieg“, so lesen wir bei Markus, „sah er, dass der Himmel sich öffnete und der Geist wie eine Taube auf ihn herabkam. Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden.“ (Mk 9,10 - 11)
Der Geist, von dem hier die Rede ist, ist der gleiche Geist aus der Schöpfungsgeschichte des AT: der am Beginn der Zeiten über dem Wasser schwebte und dem Chaos Gestalt und Ordnung gab durch die Macht seines Wortes. Es ist der gleiche Geist, der von Ewigkeiten an herrscht, unabänderlich und unvergänglich; so lange schon, dass man meinen könne, die Zeit sei über ihn hinweggegangen oder er sei in ihr eingesperrt. Aber machen wir uns nichts vor: diese Ewigkeit kennt kein „Davor“ und kein „Danach“, sie kennt nur das Heute. Die Gegenwart ist die immerwährende Zeit Gottes und die Stätte seines Wirkens. Und dieser Geist ist nicht Menschengeist: er lässt sich nicht kalkulieren, nicht manipulieren und auch nicht für bestimmte Zwecke instrumentalisieren. „Der Geist Gottes weht, wo er will“ – dieser Gedanke, niedergeschrieben im Johannesevangelium, ist schon fast zu einem geflügelten Wort geworden; er will besagen, dass der Geist da wirkt, wo man ihn nicht erwartet, wo er in unserem Plan nicht vorgesehen ist. Freiheit, nicht Willkür ist sein Markenzeichen. Wer einmal angerührt ist von seiner ‚lebensspendenden’, alles verwandelnden Kraft, der kommt nicht mehr von ihm los, der ist ein Leben lang von ihm geprägt und nimmt ihn als seinen ständigen Begleiter wahr.
Auch im Bild der heranschwebenden Taube findet sich diese Gedankenlinie wieder: vom Geist geht eine Bewegung aus – in vertikaler Richtung; von oben nach unten senkt er sich auf Jesus herab, den Sohn Gottes. Er wird, um es in der wunderschönen Sprache der Bibel auszudrücken, von ‚der Kraft des Höchsten überschattet’ (Lk 1,35). Wie der Gott des AT in der Schöpfung, in der Erschaffung der Welt aus dem Nichts, seine Macht des Seins grundgelegt hat, so hat er durch die Einwirkung des Geistes, durch dessen Charisma, das neue Sein in Jesus (Christus) begründet; und zwar in der Weise, dass der Logos – dieser universale, in allem angelegte Sinn – in der menschlichen Existenz Jesu konkrete Gestalt angenommen hat, oder wie Tillich es formulierte, „in einem individuellen Selbst Wirklichkeit geworden ist“.
Mit Blick auf das bevorstehende Weihnachtsfest ist daher festzuhalten, dass die Geburt Jesu, seine Menschwerdung, kein biologischer Vorgang ist; und Jesus als homunculus abstruser religiöser Phantasien zu bezeichnen, damit läge man auch daneben; was in Jesus geschehen ist, kann nur als besondere Erscheinungsform seiner Selbsterschaffung, als Ergebnis des innergöttlichen Dialogs zwischen Vater und Sohn gedeutet werden; Goethe hätte vielleicht gesagt, das Ungeheuerliche, das Unbegreifliche – hier wird’s Ereignis, nämlich die Neuschöpfung Gottes im Kind von Bethlehem. Dieses Geschehen kann man eigentlich nur ontologisch fassen: er war, ist und wird immer sein Gott, Sohn und Geist, unteilbar und wesensgleich. Oder anders ausgedrückt: in Jesus ist der Mensch geworden, der von Ewigkeit an zur Dreipersonalität Gottes gehörte.



Cur Deus homo - Warum ist Gott Mensch geworden?

Aber wozu? Ich greife damit die gleiche Frage auf, die sich auch Anselm von Canterbury gestellt hat, indem er wissen wollte: Cur Deus homo? (Warum ist Gott Mensch geworden?)
Die wichtigste Spur zur Beantwortung dieser Frage führt uns zur Stimme (Gottes) aus dem Himmel: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden.“ In der Liebe also und im Wohlgefallen ist das Motiv seines Handelns zu suchen. Für uns, die wir gewohnt sind, in den Kategorien von Leistung und Effizienz zu denken und die Maßstäbe unseres Tuns von Machbarkeits- und Nützlichkeitserwägungen bestimmen zu lassen, die wir Gottes Abwesenheit und die sich daraus erwachsende Entfremdung zu ihm als normal, als typisch für die heutige Zeit erachten, ist dieses Motiv nicht nachvollziehbar, weil ‚irrational’ und mit einer gehörigen Portion ‚Dummheit’ behaftet.
Aus Liebe, aus Wohlwollen hat er's getan: er ist in seinem Sohn auf uns zugegangen, indem er sich verschenkte, sich weggab, ja sich verschwendete – selbstlos und uneigennützig! Er verströmte sich mit der Kraft, die das Lebensprinzip des göttlichen Seins und das Eigentliche seiner göttlichen Macht bildet, der Liebe nämlich. Sein Entgegenkommen hatte nichts mit einer ‚Goodwill-Tour’ zu tun: er wollte sich nicht bewundern lassen wie ein Popstar, der sich im Bad der Menge vom Applaus und Jubel der Massen berauschen lässt. Wie ernst er es mit der Liebe meinte, erkennen wir, wenn wir zum Kreuz hinüberschauen: seine Liebe hat selbst vor dem Tod, der Verspottung und Erniedrigung durch die Menschen, ja vor dem Dreck der Welt nicht Halt gemacht, ist nicht eingebrochen. Ist das nicht absurd, grenzt das nicht an Dummheit und Torheit? Der Apostel Paulus, dessen Gedankengänge bei mir oft große Ratlosigkeit hinterlassen, hat es in diesem Fall auf den Punkt gebracht; in seinem zweiten Brief an die Korinther schreibt er: „Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat“. (2 Kor 5,19)
Donnerwetter, was für eine Aussage! Sie ist so unerhört, dass man es kaum glauben kann: Gott kommt uns entgegen, um sich mit uns zu versöhnen; nicht umgekehrt: er wartet nicht, bis wir auf ihn zugehen, er tut den entscheidenden Schritt, um die Trennung, die Entfremdung zwischen ihm und uns aufzuheben, um uns aus unserer Abgeschiedenheit und Vereinzelung herauszuholen und um uns vor der Sinnlosigkeit unserer Existenz zu bewahren.
Sollte uns die Geste seiner törichten, schrankenlosen Liebe nicht beschämen, vor allem diejenigen unter uns, denen das gelbe M von MacDonald’s wichtiger ist als das Kreuz auf dem Altar? Sollte uns diese Geste nicht beschämen, weil wir nicht (oder immer noch nicht) bemerkt haben, wie wir uns zu einem zoon apolaustikon
(ζῷον απολαυστικόν - Genussmensch) mutiert haben, das sich eingerichtet hat und es sich gut gehen lässt im Ramsch des täglichen Wahnsinns und sein Heil sucht in der Vergnügungssucht und im Ausleben sexueller Phantasien? Und so haben sie wie Nietzsche mit einem leichten Unterton von Ironie bemerkt "ihr Lüstchen am Tag und ihr Lüstchen in der Nacht".

Es wäre gut, wenn uns der Heilige Geist, der Geist Gottes, daran erinnern könnte, dass das Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung, nach Wohlstand, dass die Gier nach materiellen Gütern, nach Luxus, und dass das bloße Funktionieren im System nicht der Sinn des Lebens sein kann, sondern dass wir geistige Wesen sind, die ihren Ursprung in und aus Gott haben, und die somit immer auf ihn bezogen bleiben.
„Nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu“ („Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war“. Auf den kleinsten Nenner gebracht, könnte es auch so lauten: "Kein Erkennen ohne Erleben") Dieser Satz aus der Feder des englischen Philososphen John Locke kommt meinem Verständnis von Glaube und Religion sehr entgegen. Religion kann nicht ein Nebenschauplatz in unserem Leben sein, denn es geht immer ums Ganze: um unsere Stellung in der Welt und vor Gott; ohne die letzten Fragen gestellt zu haben, heißt eigentlich, den Sinn des Lebens verpasst zu haben. Da nach Tillich die Religion „die menschlichste aller Erfahrungen ist“, muss sie auch den gesamten Menschen erfassen, intellektuell wie emotional. Eine Religion, die nur auf die intellektuelle ‚Schiene’ setzt, bleibt blutlos, leer und ohne Vitalität. Bezogen auf die Liebe Gottes muss man daher rückschließend folgern, dass sie erfahren, zu einem sinnlichen Erleben werden muss, um sie sich dann auf der geistigen Ebene mit Hilfe des Verstandes bewusst zu machen bzw. zu denken.
Dazu sind wir imstande, denn ich glaube fest daran, dass in uns das ‚Ewige’, Geist und Seele, angelegt ist, und dass wir in der Seele das Ebenbild Gottes erkennen können, weil sie Spiegel seiner Selbst ist. Von daher gesehen kann ich dem Gedanken von Meister Eckehart viel Sympathie abgewinnen, wenn er schreibt: „Gott wird durch Gott erkannt in der Seele“. Ja, man könnte es auch noch anders ausdrücken: „Gott wird durch Gott geliebt in der Seele“.
Meine Überlegungen möchte ich wiederum abschließen mit einem Goethe-Zitat, das diesmal aus den ‚Zahmen Xenien’ stammt (Und dass ich so eine große Vorliebe für Goethe habe, hängt damit zusammen, dass ich noch zu einer Generation gehöre, die für klassische Literatur zu begeistern war, und die Gottseidank vor einer Überfrachtung durch Trivialliteratur verschont geblieben ist):

Wär nicht das Auge sonnenhaft,
Die Sonne könnt’ es nie erblicken,
Lebt’ nicht in uns des Gottes eigene Kraft,
Wie könnt’ uns Göttliches entzücken?



Der Heilige Geist als Person

Bis jetzt habe ich mich eigentlich nur mit der unpersönlichen Seite des Heiligen Geistes befasst; also mit der Wirkung, die von ihm ausgeht, hervorgerufen durch die Kraft Gottes, die schafft und erschafft, die verwandelt und verändert, die anrührt und versöhnt, die alles umfängt und durchströmt.
Schwieriger ist es, den Heiligen Geist als Person darzustellen; selbst in der Theologie wird er nur als ‚Stiefkind’ behandelt. Es gibt im NT nur wenige konkrete Angaben, die ihn als eigenständige Persönlichkeit bezeugen. Dazu gehört als klassische Formel der Trinitätslehre der Taufbefehl in Mt 28,19 – 20: „Darum geht zu allen Völkern, und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“
Dazu zählen die bekannten Schriftstellen aus der Abschiedsrede Jesu: „Und ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Beistand geben, der für immer bei euch bleiben soll. Es ist der Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt.“ (Jo 14,16 – 17). Und einige Zeilen später lesen wir: „Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.“ (Jo 14,26)
Hinzufügen möchte ich noch die Perikope von der Sünde gegen den Heiligen Geist, der hier in Parallele steht zum Menschensohn: „Jedem, der etwas gegen den Menschensohn sagt, wird vergeben werden; wer aber den Heiligen Geist lästert, dem wird nicht vergeben.“ (Lk 12,10)
Und meine Auswahl an Zitaten möchte ich abschließen mit dem Segenswunsch des Apostels Paulus in 2 Kor 13,13: „Die Gnade Jesu Christi, des Herrn, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!“
Ich bin mir natürlich bewusst, dass die hier angeführten Schriftstellen keine tragfähige ‚Decke’ bilden können, um den Heiligen Geist definitiv als Person zu beweisen, ohne dass die Gefahr besteht, ins Spekulative abzugleiten. Absichtlich habe ich die zahlreichen Belege außer acht gelassen, in denen das Verhältnis zwischen (erhöhtem) Christus und Heiligem Geist in paralleler Abhängigkeit gesehen wird: „… wie Christus in uns wohnt, so auch der Heilige Geist.“ (Röm 8,9ff) Und erst recht nicht erwähnt habe ich die zahlreichen Schriften der sogen. Kirchenväter, die darin den Doppelbeweis von der Gottheit und Persönlichkeit des Heiligen Geistes führen.
Tatsache jedenfalls ist, dass die kirchliche Lehrsprache über das Dogma des Heiligen Geistes das Bemühen widerspiegelt, die aus den Zeugnissen der Schrift und der Tradition gewonnenen Erkenntnisse in eine für alle verbindliche Glaubensformel einfließen zu lassen.


Großen Anteil daran hatte damals der noch junge Diakon Athanasius aus Alexandrien, der mit seinen scharfsinnigen Analysen im Gott-Logos-Streit die Wesensgleichheit (homooúsios / consubstantialis) des Sohnes mit dem Vater als den wahren Glauben verteidigte gegenüber der (falschen) Lehre des Arius, der behauptete, Christus sei ein Geschöpf/Wesen, das seine Existenz dem Willen Gottes verdanke, und das ‚per adoptionem’ von ihm als Sohn angenommen wurde.
Aber auch die Lehre vom Heiligen Geist hat er mit seinen theologischen Überlegungen maßgeblich beeinflusst; er hat sie uns hinterlassen in vier Briefen an den Bischof Serapion von Thmuis. Über den ‚Ausgang’ des Heiligen Geistes (processio immanens = der Ursprung des einen aus dem anderen) schreibt er: „Wie der Sohn aus der Wesenheit des Vaters, so muss auch der Geist, der, wie gesagt, aus Gott ist, dem Wesen nach dem Sohne eigen sein.“
Folgerichtig hatte die Synode zu Konstantinopel (381) seine Ideen aufgegriffen und grundgelegt im Bekenntnis zum Heiligen Geist: „Ich glaube an den Heiligen Geist, den Herrn und Lebensspender, der vom Vater (und vom Sohn) ausgeht. Er wird mit dem Vater und dem Sohne zugleich angebetet und verherrlicht; er hat gesprochen durch die Propheten.“

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus? Was bleibt davon im eigenen Glauben haften?
Nach dem Dogma über die Trinität entfaltet sich das Personsein Gottes in dreifacher Weise: er begegnet uns in der Person des Vaters, in der Person des Sohnes und in der Person des Heiligen Geistes; dabei ist der dreipersonale Gott vom Wesen her einer, der Person nach drei – was aber nicht so zu verstehen ist, als sei Gott eine ‚Komposition’ aus Wesenheit und Persönlichkeit. Wäre dem so, dann könnte Gott nicht der sein, der in seiner Totalität alles Sein und Seiende hervorbringt und Raum und Zeit umspannt.
Es ist schon erstaunlich, dass auch der Heilige Geist den beiden anderen Personen gleichgestellt wird, dass er ihnen gleichrangig zur Seite steht: „Er wird mit dem Vater und dem Sohne zugleich angebetet und verherrlicht“, heißt es ausdrücklich im Glaubensbekenntnis. Damit wird jeder spekulative Versuch hinfällig, ihn als bloßes Anhängsel der beiden innergöttlichen Personen oder ihn als eine Art Fluidum zu betrachten, in dem sich seine Persönlichkeit scheinbar wie von selbst auflöst.
Dass der Heilige Geist als Person geglaubt wird, ist um so erstaunlicher, da in ihm doch nur das Grundprinzip des göttlichen Seins aufleuchtet, nämlich die Kraft, die das Handeln Gottes erst ermöglicht und sich zu allen Zeiten in immer neuen Variationen des Lebens zu erkennen gibt. Ich meine die Liebe, deren Band nicht nur den Vater mit dem Sohn verbindet, sondern von dem auch wir umschlossen werden sollen. Für mich ist die Liebe die eigentliche Wirklichkeit Gottes; man kann sie nicht wie das Christkind nach den Feiertagen in Holzwolle packen und irgendwo ablegen, sie ist immer gegenwärtig und öffnet sich dem, der sich auf die Spurensuche Gottes und auf die Suche nach der einen, alle Zeiten überdauernden Wahrheit begibt.
 
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Die 'disputà del sacramento' - sechster Teil

Die Welt des Glaubens - der Weg zur Schau


Während ich mich bisher ausschließlich mit der oberen Bildhälfte, der Welt der himmlischen Anbetung und der visio beatifica (der seligen Schau) der göttlichen Dreifaltigkeit befasst habe, will ich mich jetzt der unteren Bildhälfte zuwenden: es ist die irdische Zone des Glaubens (credere), des Denkens (cogitare) und des Erkennens (intelligere) – noch kein Schauen, sondern erst der Weg zur Schau.


- Der Heilige Athanasius:


Mit erhobenem Arm und mit der Leidenschaft eines charismatisch begabten Propheten ruft Athanasius, der große Lehrmeister der Alten Kirche, die hier versammelte Elite, vertreten durch ihre besten Theologen, durch die Päpste Innozenz III und Sixtus IV und durch Dante, den vielleicht bedeutendsten Dichter Italiens, zur Rechtgläubigkeit auf. Mit beschwörenden Gesten und überzeugt von der suggestiven Kraft seiner Worte widerspricht er der falschen Lehre des Arius und verteidigt sein Credo, um die Einheit des Glaubens zu wahren: Christus ist nicht ein ‚Mittelwesen’ zwischen Gott und den Menschen, sondern „wahrer Gott“, der Mensch gewordene Logos, der Sohn, der eines Wesens ist mit dem Vater und ihm nicht nur wesens-ähnlich.


- Der Heilige Ambrosius:


In Ambrosius, dem großen Bischof aus Mailand – im prächtigen Ornat vor ihm sitzend - hat er sogleich einen geistigen Verbündeten gefunden. Mit der lebhaften Bewegung seiner geöffneten Arme, sein Gegenüber fest im Blick und den Kopf nach hinten gestreckt, lässt er keinen Zweifel daran aufkommen, dass er die unbeugsame Haltung des Athanasius teilt und gemeinsam mit ihm den Kampf gegen den Arianismus bestreiten will, in dem er das ‚Gift’ aller Häresien vereinigt sah. Auch er wollte die zermürbenden Glaubensstreitigkeiten, an denen die Kirche zu zerbrechen drohte, beenden und den wieder in den Mittelpunkt des Glaubens rücken, der für ihn alles im Leben war, Christus nämlich: omnia Christus est nobis!



- Der Heilige Augustinus:


„Nimm und lies!“ - Tolle et legge: dies ist der Ruf eines Kindes, der bei einem anderen genialen Denker, den ich für den größten Theologen des Altertums halte, zur entscheidenen Wende im Leben führte und ihn wie eine Erleuchtung traf: gemeint ist der Heilige Augustinus, ebenfalls in den liturgischen Gewändern eines Bischofs an der linken Seite des Ambrosius, der ihn während seines Aufenthaltes in Mailand mit seiner Eloquenz und seinen Predigten tief beeindruckt hatte. Die Stelle, die ihn dazu brachte, sich für immer in den Dienst der Kirche zu stellen, fand er im 13. Kapitel des Römerbriefes, wo es sinngemäß heißt, dass maßloses Essen und Trinken, zügellose Sexualität, Streit und Eifersucht keine tragfähige Lebensbasis bilden können, sondern allein Jesus Christus, den man wie ein neues Kleidungsstück ‚anziehen’ solle.

Wie kaum einem anderen Gottsuchenden ist es Augustinus gelungen, eine Synthese zwischen Glauben und Erkennen, zwischen Denken und Frömmigkeit, zwischen psychologischem Scharfsinn und theologischer Gedankentiefe herzustellen. Das Vermächtnis seiner Bücher und Abhandlungen zeichnet sich aus durch Vielfalt und Ideenreichtum. Fast 20 Jahre hat er gebraucht, um das 15-bändige Werk ‚De Trinitate’ zu vollenden, das einige Fachleute sogar für die summa der christlichen Theologie halten. Die Fragen, mit denen er sich auseinandergesetzt hat, zogen sich wie eine Konstante durch sein Leben, und es sind dieselben Fragen, die auch uns heute noch beschäftigen: War Gott der Eine gleichzeitig der menschgewordene Logos? Ein göttliches Wesen und doch drei Personen, wie passt das zusammen? Wie kann das In-Sich-Sein Gottes, diese seit Ewigkeit bestehende Unabänderlichkeit, sich umwandeln ins Aus-Sich-Sein, in eine Bewegung also, die sich von oben herabsenkt, und die wir mit dem Begriff ‚Zeugung’ in Verbindung bringen? Und wie ist es zu verstehen, dass sich Gott in Christus mit uns versöhnt hat (vgl. 2 Kor 5,19) durch ein Opfer, das Jesus unter den Gestalten von Brot und Wein dem Vater ‚dargebracht’ hat, wobei er – Jesus – selbst das Opfer ist?
Vielleicht sind es diese Gedanken, die Augustinus dem jugendlichen Schreiber diktiert, der sich auf der obersten Stufe einer für repräsentative Auftritte großzügig bemessenen und bühnenartig gestalteten Freitreppe niedergehockt hat in unmittelbarer Nähe zu seinem großen Lehrmeister, dem ‚Doctor gratiae’, der - ihm zugewandt - mit prüfendem Blick den noch frischen Text begutachtet.
Vielleicht ist er auch gerade dabei zu erklären, dass sich das Geheimnis der Trinität am ehesten erschließt, wenn wir auf uns selbst, auf unseren Geist (mens) schauen, der für ihn das Höchste im Menschen darstellt und als ‚imago Dei’ (als Bild Gottes) die Dreieinigkeit abbildet in der Dreiheit von Gedächtnis (memoria), Verstand / Einsicht (intelligentia) und Wille (voluntas); obwohl er einräumen muss, dass diesem Vergleich ein Denkfehler zugrunde liegt, insofern, als man sich die Trinität nicht als Zusammensetzung dreier Einzelwesen vorstellen darf, sondern dass sie Gott selbst ist, während Gedächtnis, Verstand und Wille Teile (pars) der Seele sind, und nicht die ganze Seele.


- Thomas von Aquin und Innozenz III:


Hinter den beiden Magistern der Alten Kirche erkennen wir – aufrecht stehend, einen faltenreichen dunklen Umhang mit hoch um den Hals geschlungenem Schal über seinem weißen Habit tragend und von den anderen hochrangigen Persönlichkeiten aus der Mitte des kirchlichen Lebens halb verdeckt – den Großmeister der Scholastik: Thomas von Aquin. Konzentriert und mit ernstem Blick schaut er auf Innozenz III in weißem Talar, darüber eine aufwendig und kunstvoll gearbeitete Stola aus Goldfäden mit den aufgestickten Bildnissen bedeutender Kirchenfürsten und mit dem Symbol päpstlicher Macht, der Tiara mit dem dreifachen Kronreif. Ein grauer, leicht gekräuselter Bart ziert das Gesicht eines Mannes, der das Papsttum auf den Gipfel der geistigen und weltlichen Macht im Abendland geführt hatte. Erst 37 Jahre zählte Graf von Segni, als ihn das Konklave zum Papst wählte. „O weh, der Papst ist zu jung! Hilf, Herre, Deiner Christenheit!“, soll Walther von der Vogelweide ausgerufen haben. Was er nicht wusste, war, dass mit Innozenz eine der mächtigsten Herrschernaturen den Stuhl Petri bestiegen hatte, der für sich als erster Oberhirte der Kirche den Titel ‚vicarius Christi’ (Stellvertreter Christi) reklamierte und daraus die Idee eines monarchischen Papsttums entwickelte ganz im alttestamentlichen Geiste eines Melchisedechs, der immer schon als das Urbild eines Priester-Königs galt. Aus diesem Bewusstsein heraus verstand er sich selbst als der wahre Pontifex seiner Zeit und als weltlicher Herrscher unumschränkter Macht, von dessen Autorität der gesamte Erdkreis – der orbis terrae – profitieren sollte.
Seinen Anspruch auf Weltherrschaft hat er in einem großartigen Bild verdeutlicht: ebenso wie Gott am Firmament des Himmels ein größeres Licht für den Tag und ein kleineres für die Nacht geschaffen habe, so habe er an das Firmament der Kirche zwei Ämter gesetzt: ein größeres – der Sonne ähnlich – solle den Seelen vorstehen, und ein kleineres, dem Mond entsprechend, solle den Körpern vorgesetzt werden – die bischöfliche(=päpstliche) auctoritas (Macht) und die königliche(=kaiserliche) potestas (Herrschaft/Gewalt). So wie der Mond sein Licht von der Sonne empfange, so erhalte die kaiserliche Gewalt ‚den Glanz ihrer Würde’ von der päpstlichen Autorität.

Absoluter Höhepunkt seines Pontifikats war die wohl glanzvollste Versammlung, die die katholische Kirche je erlebte, das 4. Laterankonzil von 1215, auf dem unter anderem die Transsubstantiation, also die Realpräsenz Christi durch die substantielle Umwandlung von Brot und Wein in seinen Leib und in sein Blut, beschlossen wurde. Damit war der Weg frei für das noch neu zu schaffende Fronleichnamsfest, das aus katholischer Sicht zu den schönsten Festen zählt, aus protestantischer Sicht jedoch einer der umstrittensten Feiertage ist und wahrscheinlich noch lange bleiben wird.


Was wäre das Fronleichnamsfest – das Festum Sanctissimi Corporis Christi – ohne die großartigen Hymnen des Thomas von Aquin? Wer kennt sie nicht, diese wunderbaren Sequenzen ‚Tantum ergo, Genitori Genitoque, Ecce panis Angelorum’ – geschrieben zum Lobpreis der Eucharistie und zur Anbetung des Allerhöchsten? Bis heute sind sie unerreicht in ihrer sprachlichen Brillanz und gedanklichen Tiefe, unglaublich schwierig, sie adäquat ins Deutsche zu übersetzen: eine Erfahrung, die ich nach mehreren Anläufen, beruhend auf dem Prinzip von Versuch und Irrtum, bestätigen kann; bei all meinem Experimentieren sind letztlich nicht so wirklich überzeugende Ergebnisse zustande gekommen.
Wer weiß, zu welchen abstrakten Höhen sich der Geist eines Thomas von Aquin aufschwingen kann, dem fällt es schwer, sich ihn auch als wahren Meister lateinischer Dichtkunst vorstellen, die einzig und allein dem Zweck dienen sollte, die Liturgie des Fronleichnamsfestes zu bereichern. Aber es ist ein und derselbe Thomas, in dessen Person sich tiefer Glaube, eine grenzenlose Sehnsucht nach Gott verband mit einer Gedankenhelle, die sich in einer strengen Begrifflichkeit und systematischen Aufarbeitung und Durchdringung metaphysischer Fragen äußerte. Sein großes Verdienst ist es, arabisch-jüdische Denkströmungen und die griechische Philosophie, vor allem die des Aristoteles, in die christliche Weltdeutung zu integrieren. So ist für ihn Gott die Ursache (causa) allen Seins (esse) und Seienden (ens), wobei er Gott als actus purus, als reine Wirklichkeit, bezeichnet – ohne jede Hinzufügung (additio) oder Beimengung (permixtio) von Möglichkeit (potentia); woraus er schließt, dass Gott bzw. was wir mit seinem Wesen (essentia) verbinden, sein Sein selbst ist (Deus cuius essentia est ipsum suum esse) und damit das Vollkommene schlechthin (immo habet omnes perfectiones). Nach Thomas ist die Wirklichkeit Gottes auch keine Selbst-Verwirklichung, sondern Selbstmächtigkeit, und das Erschaffen (creare) der Welt eine Tätigkeit, die aus sich selbst heraus entspringt, als Bewegung, als Hervorbringung aus Gott heraus (ohne irgendein Zutun von außen), deren Ergebnis die Setzung eines Seins ist, das allen Geschöpfen als Seienden durch Teilhabe (per participationem) für eine begrenzte Zeit zur Verfügung steht.
Wir wollen es bei diesem kleinen Beispiel scholastischer Denkweise bewenden lassen; es ist hier nicht meine Absicht, die Scholastik zu neuem Leben zu erwecken, aber ich muss doch dem Vorwurf widersprechen, die Scholastik sei eine elitäre Form des Denkens bzw. ein System reiner Spekulation, deren Ziel es ist, eine Synthese zwischen Philosophie und Theologie, zwischen intellectus (Vernunft/Verstand) und fides (Glaube) herzustellen. Für mich ist sie ein Verfahren, mit den Mitteln der Dialektik – den Mitteln der disputata – und den Methoden der Vernunft den Glauben zu durchdringen und die in ihm grundgelegte Wahrheit zum Leuchten zu bringen. Glanzstück der Scholastik ist die Klarheit ihrer Sprache und ihre unglaublich systematische Vorgehensweise, Sachverhalte zu analysieren und Lösungen anzustreben.
Manchmal wünschte ich mir, wir könnten ein wenig von diesem scholastischen Geist für unsere heutige Zeit wiederentdecken, in der ich zu meinem Erschrecken eine zunehmende geistige Verwahrlosung verbunden mit einem Verlust an sprachlicher Präzision und Ausdrucksfähigkeit beobachte, während gleichzeitig weiteres Unheil droht, sollte sich der ätzende Jargon eines Manfred Lehmann oder schlimmer noch eines Mario Barth in Sachen Sprachkultur durchsetzen, die uns ungefragt mit ihren aufdringlichen und schrillen Werbesprüchen jeweils vor den Nachrichtensendungen zudröhnen.


- Bonaventura - der Doctor Seraphicus:


Flankiert von den beiden Päpsten Innozenz III und Sixtus IV erkennen wir einen weiteren Großmeister spiritueller Theologie, einen tiefgründigen Denker vom Format eines Thomas von Aquin und einen großen Mystiker, den Heiligen Bonaventura in der Kutte seines Ordens, der Franziskaner (OFM); darüber trägt er eine scharlachrote Mozetta und als Zeichen seiner Kardinalswürde den auffälligen Hut mit der ausladenden Krempe.
Den Kopf nach unten geneigt und ganz in Gedanken hat er sich in den Text eines aufgeschlagenen Folianten vertieft, um vielleicht neue Kraft zu schöpfen aus seinem wohl wichtigsten Werk, dem ‚Itinerarium mentis in Deum’ – dem (Stufen)weg des Geistes zu Gott. Inspiriert vom Geist eines Augustinus ist er wie dieser davon überzeugt, dass Gott nur mit dem Herzen (… und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir - … et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te), nicht mit dem Verstand gefühlt werden kann. Aus dieser Glut des Herzens heraus macht er sich auf, Gott – das Summum Bonum, das Höchste Gut – zu entdecken. Es ist ein ganz persönlicher, ja geradezu ein mystischer Weg, dessen Ziel nach einer gestuften Aufwärtsbewegung erreicht wird. Dieser Stufenweg zu Gott ist gleichzeitig ein Weg der Selbsterkenntnis und Selbsteinkehr. „Kehre also bei dir ein!“, fordert Bonaventura, „und siehe, dass dein Geist sich selbst ganz glühend liebt.“
Für ihn beginnt der Weg zunächst mit der Betrachtung der Welt ‚draußen’, der Welt des Kreatürlichen, die als imago Dei, als Abbild/Abglanz Gottes, die Spuren seines Schöpfers spiegeln. Danach wechselt er die Perspektive, indem er seine Aufmerksamkeit ganz nach innen richtet: die äußere Betrachtung wandelt sich zu einem geistigen, seelischen Prozess des Erkennens, weil über die Sinne als Pforten der Wahrnehmung der ganze ‚Kosmos’ von außen in die Seele gelangt. Jetzt setzt sich der Weg fort mit einer Phase der Reflexion und Kontemplation: je mehr er sich dabei in den Blick nimmt, je mehr er sich in seinem Innern umschaut und je mehr er über sich selbst erfährt, desto mehr kommt er Gott auf die Spur, desto mehr ahnt er von der Nähe seiner Gegenwart, bis er schließlich ganz von ihm ergriffen wird. Damit ist Bonaventura am Ende seines Itinerariums angelangt und seine Spekulation an ihrem Höhepunkt: dieses Ergriffensein ist das Überschreiten (transcensus) einer Grenze, von der „keiner weiß, wenn er sie nicht erfährt“, ist das Eintreten in die 'fruitio Dei' nach der Vorstellung des Augustinus, also das Eintreten in den 'Genuss Gottes', das Ziel aller menschlichen Sehnsucht und allen menschlichen Bemühens; es ist das Hinübergleiten in einen „Frieden, der alles Denken überragt“ – ja mehr noch, in dem das Denken angehalten und das Bewusstsein ‚leergemacht’ wird, wie es bei Meister Eckehart heißt. Und bei diesem Übergang ist Christus zugleich Tür und Weg.


- Sixtus IV, der erste Renaissancepapst:


Auf der untersten Stufe der gewaltigen Freitreppe erscheint in aufrechter Haltung die majestätische Figur des Papstes, mit der die Hochzeit der Renaissancekunst, aber auch gleichzeitig die Verweltlichung der Kirche, die vielleicht dunkelste Epoche des Papsttums begann: es ist Sixtus IV, in festlichem Pontifikalgewand, dessen golddurchwirkter Stoff mit den ganzfigurigen Heiligenportraits in senkrechter Anordnung auf den zu öffnenden Seiten seines Paraments bis auf den Boden herabfällt. Auch er trägt ‚seine Krone’, eine aus Edelsteinen und reichlich Gold bestehende Tiara. Der Blick dieses machtbewussten und von sich überzeugten Papstes ist nach vorne gerichtet auf die Mitte der Monstranz und auf die darin für alle sichtbar eingeschlossene Hostie. Die Linke hat er zum Segen erhoben, während seine Rechte auf dem roten Futteral vermutlich eines Degens ruht. Eine bärtige Figur mit üppiger Haarpracht ganz vorne an einer Brüstung stehend, in dunkelblauem, faltenreichem Überwurf – eine Hälfte locker um die linke Schulter gelegt, die andere zu zwei voluminösen Bäuschen zusammengerafft und von seiner freien Hand aufgefangen, so dass die orangefarbene Tunica aus leichtem Material und mit einer Spange an der rechten Schulter zum Vorschein kommt – weist demonstrativ mit seinem entblößten rechten Arm auf den ‚Papst-König’ hin. Vornübergebeugt und sich auf der figurengeschmückten Brüstung abstützend folgt der jugendliche Begleiter neben ihm gespannt der Bewegung des ausgestreckten Arms.
Sixtus IV ist der Onkel des damals regierenden Papstes Julius II, von dem Raffael den Auftrag erhalten hatte, sein Arbeitszimmer mit diesen herrlichen und auch heute noch in Erstaunen versetzenden Fresken zu überziehen, und der über seinen päpstlichen Onkel gesagt haben soll, nachdem er ihn zum Kardinal ernannt hatte, von diesem habe er nur das Gewand und den Namen.
Die Persönlichkeit Sixtus IV ist recht kompliziert: aus kleinsten Verhältnissen stammend, als Kind kränklich, aber von auffallender Intelligenz, mit neun Jahren in ein Franziskanerkloster geschickt und von seinem Orden gefördert, entfaltete sich rasch sein Talent, und er legte eine beispiellose Karriere hin. An verschiedenen Universitäten Italiens absolvierte er seine philosophischen und theologischen Studien, wurde Professor und entwickelte eine so erfolgreiche Lehrtätigkeit, daß er eine ganze Generation von Intellektuellen ausbildete. Mit fünfzig Jahren übernahm er als General die Leitung des Ordens, und vier Jahre später bestieg Francesco della Rovere (‚von der Eiche’) als Papst Sixtus IV den Stuhl Petri, in seinem Wappen einen stämmigen Eichenbaum mit einer ausladenden Krone führend.
Frömmigkeit – er galt als glühender Verehrer der Jungfrau Maria – und Gutmütigkeit einerseits, aber Misstrauen und überzogenes Machtdenken andererseits zählten zu den vorstechenden Eigenschaften dieses Parvenus in der Hierarchie der Kirche. Unter dem Deckmantel päpstlicher Autorität entwickelte sich ein Pontifikat, das die Idee des Papsttums als geistliche Idee aufgab und damit die Verweltlichung der Kirche in bisher nicht gekannter Weise vorantrieb. Für die Kunst und Wissenschaft dagegen ist er eine unsterbliche Größe: den Gelehrten seiner Zeit gestattete er den Zugang zur Vatikanischen Bibliothek, und er verpflichtete die besten Maler Italiens, die Wände der ‚Sistina’, die für immer mit seinem Namen verbunden bleibt, mit den Fresken zu schmücken, die uns heute noch entgegenstrahlen, die aber vor der Kunst Michelangelos, diesem Übermaß an visionärer Eingebung, fast ein Schattendasein führen.
Schon seine Inthronisation stand unter einem unglücklichen Stern. Während des Krönungsumzuges kam es zu einem Aufruhr; die Leute waren so aufgebracht, dass sie seine Sänfte mit Steinen bewarfen – ein Vorgang, den er dem popolo romano nie verziehen hatte. Das bestätigte auch Stefano Infessura, ein Zeitgenosse Sixtus IV, der mit seinem kritischen Urteil die öffentliche Meinung maßgeblich beeinflusste. In seinem Tagebuch notierte er, dass ‚keine Liebe zu seinem Volk gewesen sei, nur Wollust, Geiz, Prunksucht, Eitelkeit’.
Innenpolitisch wie außenpolitisch war das Pontifikat Sixtus IV ein Fiasko: Machtgier bis zur Rücksichtslosigkeit, hemmungslose Prunk- und Verschwendungssucht, dazu Mord und Totschlag, Bestechungen und Verschwörungen und schließlich der unheilvolle Protektionismus seiner Familie warfen dunkle Schatten über den Vatikan und leiteten eine Epoche des Niedergangs für das Papsttum ein. Vor allem gegenüber den Feudalfamilien des Kirchenstaates scheiterte seine Politik: er löste Rebellionen aus, führte Kriege, beteiligte sich an Feldzügen und verschlimmerte das ganze Desaster durch wahllose Bannflüche, gerade so wie es ihm bei den damals politischen Konstellationen geboten schien. Kurzum: er zog fast ganz Italien in den Strudel seiner Kriegsabenteuer, ohne dass es ihm gelang, diesem sinnlosen Morden Einhalt zu gebieten.
Seine Machtpolitik verschlang Unsummen an Geld, ständig musste er sich neue ‚Einnahmequellen’ erschließen: überall in Rom entstanden Lupanare (Freudenhäuser) – ein äußerst lukratives Geschäft, dessen ‚schmutzige’ Dukaten angeblich auch in den Bau der ‚Sistina’ geflossen sein sollen. Er erhöhte die Zahl der käuflichen Ämter, er trieb die Steuern hoch, verkaufte überflüssige Titel, verschärfte den Ablasshandel. „Alles ist käuflich, sogar der Himmel und auch Gott“, so fiel das vernichtende Urteil eines Mönchs über eine Epoche aus, in der das Papsttum einem unvermeidlichen Absturz entgegentaumelte.
Die Familie, besser gesagt seine Neffen, waren die einzigen Personen, denen sich dieser misstrauische Papst in blinder Liebe anvertraute. Er überschüttete sie geradezu mit Wohltaten und Privilegien. Zwei von ihnen wurden sofort zum Purpur er hoben: der 27 jährige temperamentvolle, ehrgeizige, gebildete Giuliano della Rovere (der spätere Julius II) mit einem ausgeprägten Sinn für die Kunst, aber auch den sinnlichen Freuden des Lebens nicht abgeneigt, und der 25 jährige Pietro Riario, dessen Luxus und rauschende Feste an die Verfallszeit der Caesaren erinnerten. Aber schon bald forderte dieses ausschweifende Leben seinen Tribut; mit 28 Jahren erlag dieser vom Papst protegierte Günstling seinen Lastern: ‚er hatte sich buchstäblich zu Tode koitiert’ (Deschner).



Darüber nachdenkend, was ich persönlich mit Sixtus IV verbinde, so steigen in meiner Erinnerung zwei Bilder empor: das erste ist die Brücke, die heute noch als Fußgängerüberweg das ‚jenseitige Stadtviertel’ (Trastevere) mit dem Ghettoviertel bzw. dem Rione S. Angelo verbindet, und die wir nach unserem abendlichen Essen in Trastevere mehrmals passiert hatten: der ponte Sisto, benannt nach eben diesem Papst, der mit seinen vier Bögen in harmonischem Rhythmus den Tiber überspannt und von beiden Seiten zur Mitte hin leicht ansteigt, und der als ein wirklich gelungenes Beispiel von Stadtarchitektur aus der Frühzeit der Renaissance betrachtet werden darf.
Vom Brückenkopf führt links und rechts eine Treppenanlage nach unten auf die breite, gepflasterte Uferzone, und hier lag auch für mich der Einstieg, wenn ich morgens den Tag mit meinem Lauftraining begann. Der Auf- und Abstieg kostete mich jedes Mal Überwindung, und ich versuchte mit wenigen Atemzügen die Distanz von oben nach unten und umgekehrt zu schaffen. Auch jetzt noch, wo ich mit der Abfassung dieses Berichtes beschäftigt bin, steigt mir der bestialisch-stinkende, stechend-beizende Geruch von Urin und Ammoniak in die Nase. Diese scalita war wahrhaftig keine Scala Santa, sondern eine Latrine übelster Art!
Frühmorgens hatte ich diese Brücke fast allein für mich; ohne die vielen Menschen, die man hier allabendlich antrifft, schien sie mir geradezu verwaist; nur vereinzelt begegnete mir eine einsame Gestalt, die eiligen Schrittes die Seiten wechselte.
Angestrahlt vom gleißenden Licht der starken Scheinwerfer entfaltete das alte Bauwerk einen Glanz zeitloser Schönheit und einen Frieden, dessen Zauber man in diesem stillen Winkel Roms förmlich spüren konnte. Und die dunklen Wölbungen der steinernen Bögen spiegelten sich auf der glatten Oberfläche des gemächlich dahinfließenden Tiber – eine Stimmung, die ich wohl nie vergessen werde.
In den späten Abendstunden herrschte auf dem ponte Sisto ein reges Treiben, ein Kommen und Gehen, viele Stimmen und dazwischen immer wieder Lachen. Die Brücke wurde zum catwalk für die Nachtschwärmer und zum Szene-Treff für das jugendliche Publikum, darunter auffallend viele Migranten aus Afrika. Sie alle hatten den gleichen Blick wie 150 Jahre zuvor C. F. Meyer, den der ponte Sisto zu einigen schönen Versen angeregt hatte: unten die von unzähligen Lampen romantisch illuminierte Umfassungsmauer des Tiber und in der Ferne die magisch ausgeleuchtete Kuppel von Sankt Peter in majestätischer Erhabenheit.

Auf Ponte Sisto
Süß ist das Dunkel nach Gluten des Tags! Auf dämmernder Brücke
Schau ich die Ufer entlang dieser unsterblichen Stadt.
Burgen und Tempel verwachsen zu einer gewaltigen Sage!
Unter mir hütet der Strom manchen verschollenen Hort.
…. (C. F. Meyer)



Das zweite Bild, das in meinem Bewusstsein präsent wird und dessen Konturen ich deutlich vor mir sehe, ist die bronzene Figur des toten Papstes auf seinem Prunkbett. Der Künstler Antonio Pollaiuolo aus Florenz hat zehn Jahre an diesem Grabmal gearbeitet, das zu den eindrucksvollsten Zeugnissen der Schmiedekunst gehört, und das seit dem 1. Dez. 2009 nach zweijähriger Restaurierungsarbeit wieder für die Öffentlichkeit zugänglich ist und im alten Glanz eines braun-grünlich schimmernden Farbtons erstrahlt. Deshalb sollte für alle Forumsmitglieder die Besichtigung dieses einzigartigen Monuments – des monumento di Sisto IV – beim nächsten Rombesuch höchste Priorität haben. Aufgestellt ist der Sarkophag in der Schatzkammer von St. Peter (Öffnungszeiten: 9.00 – 17.30 Uhr; Eintritt: 6 €)
Man muss sich das Bronzegrab Sixtus’ IV vorstellen als eine Art niedriger Pyramidenstumpf, so dass zwei Etagen entstehen – oben die kleinere, unten die größere. Beide sind eingeteilt in rechteckige Felder mit allegorischen Figuren, allesamt weiblich, deren gewagte Freizügigkeit den Besucher auch heute noch überrascht. Die obere Plattform wird ausgefüllt von der liegenden Gestalt des Papstes, von den Feldern der ‚Theologie’ und der ‚Kardinaltugenden’ sowie von seinen Insignien.
Da liegt er nun vor uns, dieser vom popolo romano verschmähte und für den beginnenden Verfall des Papsttums verantwortliche Pontifex der römisch-katholischen Kirche, dessen eigener körperlicher Verfall unter dem Gewicht der liturgischen Gewänder schon begonnen hat, oder wie R. Raffalt es in unnachahmlicher Weise beschreibt, dass ‚das unter schweren Paramenten ruhende Fleisch des kleinen und zierlichen Körpers schon auf das Knochengerüst zurückgesunken ist’. Um die Umrisse seines Gesichts noch deutlicher hervorzuheben, ruht sein Kopf mit der mächtigen Tiara auf zwei Kissen. Anders als auf dem Fresko des Raffael ist hier nichts mehr von der Entzückung übrig geblieben, die ihn noch beim Anblick des Allerheiligsten Altarssakraments ergriffen hatte; vor uns sehen wir das von den Strapazen, von der Zerrissenheit des Lebens gezeichnete Gesicht, das selbst im Tod noch nicht zur Ruhe gekommen ist: es ist durchbebt von innerer Anspannung und der Unruhe seines Geistes. Deutlich im Profil zu erkennen die langgezogene, leicht gewölbte Nase, deren Ansatz hoch oben in der Stirn entspringt und und sich an der Spitze zu einem markanten Flügelpaar auswächst, das den Willen eines machtbewussten, zum politischen Risiko neigenden Potentaten verdeutlicht, aber auch dessen Intelligenz, die einen Pakt mit den diabolischen Mächten geschlossen zu haben scheint. Auffallend auch die hochgezogenen Brauen, als ob es noch jede Menge unerledigter Probleme gäbe, darunter die tiefliegenden Augenhöhlen und die geschlossenen Lider, die sich gegen die pulsierende Bewegung der flackernden Augen wehren und es nur mit Mühe schaffen, in ihrem Zustand zu verharren, und schließlich der eingefallene Mund, der das Kinn weit vorstehen lässt – Zeichen dafür, dass der Zerfallsprozess des Todes schon längst eingesetzt hat.


- Dante Alighieri, der Verfasser der Divina Commedia:


Zwischen Sixtus und den beiden vorderen Figuren am rechten Bildrand entdecken wir Dante, den größten Theologen unter den Dichtern – im roten Gewand, lorbeerbekränzt, mit hypnotisierendem Blick und dem asketischen, maskenhaft wirkenden Gesichtsausdruck ohne ein Zeichen von Regung oder Emotion. Mit seinem literarischen Werk der Divina Commedia (der Göttlichen Komödie) hat er sich unsterblichen Ruhm erworben und der europäischen Kulturgeschichte ein Vermächtnis von unschätzbarem Wert hinterlassen.
Die Göttliche Komödie ist eine visionäre Zeitreise mit persönlichen Begegnungen und Erlebnissen durch drei Räume: durch die Hölle (inferno) – durch den Ort der Reinigung bzw. Läuterung (purgatorio), der in Wirklichkeit ein Berg ist und auf der südlichen Halbkugel als einzige Landmasse aus dem Wasser ragt – und durch das Paradies (paradiso). Das Ziel ist erreicht, als er, begleitet und geführt von Beatrice, seiner verstorbenen Geliebten, nach einem Flug durch neun lichtdurchflutete himmlische Sphären den Feuerhimmel, das Empyreum erblickt, die Welt des reinen Lichts (pura luce), die Dante als transzendente und gigantische Lichtschau erlebt: Funken sprühen in einem Meer von Licht, und unzählige Lichtströme – betörende Düfte verbreitend – ergießen sich in die unermessliche Weite des Feuerhimmels. Die fantasia Dantes gerät ins Taumeln, als er Bilder vor sich sieht, die vor ihm noch nie ein Lebender gesehen hat, wie die Himmelsrose, deren Blätter sich gebildet haben aus ‚der heiligen Schar der erlösten Seligen’, also der Heiligen, und deren innere Struktur eine Arena bzw. ein Amphitheater beschreibt mit einer strengen hierarchischen Ordnung, in der die Gottesmutter Maria den ersten Rang einnimmt, und darüber ‚gleich einem Bienenschwarm’ die Engel mit ihren goldenen Flügeln und schneeweißen Gewändern, die im Blütenkelch auf- und niederschweben.
Die Lichterlebnisse Dantes erfahren ihren allerletzten Höhepunkt in der Gottesschau, in der Erscheinung des ‚ewigen Lichts’ von solcher Intensität, dass seine Phantasie nicht ausreicht, es zu beschreiben und in dem ihm das Geheimnis der Trinität offenbar wird in Gestalt dreier farbiger Lichtkreise (‚wie ein Regenbogen’); sie ist der Gipfel dessen, was seine Sinne gerade noch ertragen können, sie ist das Ende aller Wünsche (il fine di tutti i disii), sie ist das ‚lumen de lumine’, soz. das Urlicht, in dem die Schwerkraft, durch die alles nach unten gezogen wird, aufgehoben ist: sie ist Erlösung, ist der Augenblick, den Goethe mit den Worten beschworen hat: „Verweile doch! Du bist so schön! … Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen, Es sei die Zeit für mich vorbei!“ Es ist für ihn die Begegnung mit Gott, der ‚in sich selbst ruht und allein sich selbst versteht’ – er, der Ewige, der Unveränderliche, der Unbewegte und zugleich ein Beweger!, der durch die Kraft der Liebe den gesamten Kosmos und die gesamte sich darin befindliche Kreatur einbindet in den ‚circle of life’, den Kreislauf des Lebens, so wie es mit einem Rad geschieht, das einmal in Schwung versetzt sich in gleichmäßig kreisenden Bahnen um die eigene Achse dreht – ‚Sì come rota ch’egualmente è mossa, L’Amor che muove il sole e l’altre stelle’.
Die Zeitreise Dantes ist nicht einfach eine Reise durch eine jenseitige Welt, eine Reise aus der Hölle ins Paradies, aus dem Jammertal zu den Höhen der Freuden, aus der Finsternis ins Licht, sondern eine Reise, in der der Dichter zu sich selbst findet. Je mehr er über sich selbst erfährt, je mehr er seinen Horizont erweitert durch die vielfältigsten Erlebnisse und die Begegnungen mit den Verdammten, Geretteten und Erlösten, je mehr er an Einsichten und Erkenntnissen dazu gewinnt, desto näher gelangt er zu Gott, bis er schließlich überwältigt von seinem Anblick und sprachlos geworden mit ihm verschmilzt und mitschwingt im ewig gleichbleibenden Rhythmus der alles bewegenden Liebe, die kein Gefühl ist, sondern das eigentliche Prinzip der göttlichen Wesenheit.


Begonnen hatte Dantes visionäre Reise an einem Karfreitag des Jahres 1300, als er in einem dunklen Wald ‚den rechten Weg’ verloren von Vergil aufgesucht wird, der ihn von da an auf dem größten Abenteuer seines Lebens begleiten sollte.
Zunächst führt er den Dichter in den Schlund der Hölle (inferno) – einen ungeheuren, sich immer weiter verengenden Trichter, dessen Spitze bis zum Mittelpunkt der Erde reicht. Sie ist aufgeteilt in eine Vorhölle und neun als Kreise gedachte Regionen, in denen die zur ewigen Verdammnis Verurteilten je nach Schwere ihrer Vergehen (Maßlosigkeit, Bosheit, Verrat) ihre Strafe verbüßen. Selbst sein so sachkundiger Führer Vergil – der vielleicht größte Genius römischer Dichtkunst – muss als Nichtchrist im Limbo, einer der inneren Hölle vorgelagerten Stätte, bis zum Jüngsten Tag ausharren. Nur für die Zeit der Reise darf er mit ausdrücklicher Genehmigung Gottes diesen Bereich verlassen. Je tiefer die beiden hinabsteigen, desto schlimmer werden die Qualen, desto lauter wird das Wehklagen und desto grauslicher werden die Strafen.
Ganz unten im neunten Kreis des inferno – in der judecca – sind die Verräter und Mörder eingeschlossen in einem See aus Eis (ne la ghiaccia), deren blau gefrorene Köpfe und Leiber ihnen entgegenstarren. Und mittendrin Lucifer, der gestürzte Engel aus dem Paradies, der mit seinen drei Mäulern unaufhörlich die schlimmsten Verräter zermalmt: Judas, Brutus und Cassius.
Da sie sich in der Mitte der Erdkugel befinden, kann der Weg aus der Hölle, diesem grauenhaften Ort an Dunkelheit und Eiseskälte, an Unrat und Gestank, an Gemeinheiten und Quälereien, an Verzweiflung und Wehgeschrei, nur nach oben führen. Sich an Satans zottigem Fell festklammernd, gelingt es ihnen, den Erdmittelpunkt zu überwinden und auf die andere Seite der Hemisphäre zu gelangen, die ganz vom Wasser eines unendlichen Ozeans bedeckt ist. Als einzige Landmasse ragt das purgatorio heraus, ein von einem Ufer gesäumter hoher Berg, soz. das Gegenstück zu dem gewaltigen unterirdischen Trichter der Hölle. Mit dem Betreten der Uferzone wechselt auch schlagartig die Stimmung: nichts mehr zu spüren von dem Elend und der Ausweglosigkeit des inferno, alles ist erfüllt vom Licht der Hoffnung, von der Freude der Läuterung und der Aussicht auf die endgültige Errettung durch Gott.
Spiralförmig windet sich ein Weg, sieben Terrassen passierend, zum Gipfel hinauf dem Paradies entgegen. Wie in der Hölle, so wiederholt sich auch hier das Schema von Sünde und Strafe (contrapasso): unten treffen wir auf die Toten mit den schlimmsten Vergehen und oben auf die mit den geringsten Verfehlungen. Dante selbst reiht sich in die Schar der Büßer ein, unterzieht sich wie sie einem Reinigungsritual und lässt keine Gelegenheit aus, das Gespräch mit ihnen zu suchen, um so ihre ganz individuelle Lebensgeschichte zu erfahren. Mit jeder Stufe, die er erreicht, verliert er ein P (p=peccatum/Sünde), das ihm der Engel an der Eingangspforte zum purgatorio siebenfach mit der Spitze seines Schwertes auf die Stirn geritzt hatte.
Mit der Ankunft auf dem Berggipfel ist die Mission Vergils erfüllt, und er muss wieder zurückkehren an seinen angestammten Platz in der Hölle. Von jetzt an übernimmt eine andere Person die Führung: es ist die in einer Wolke herabschwebende Beatrice, jene Beatrice, die der junge Dante zum ersten Mal in Florenz gesehen hatte, in die er sich auf der Stelle verliebte, um sie nie mehr aus seinem Gedächtnis zu verlieren. Viele Jahre sind seitdem vergangen, und dieses Wiedersehen hier am Eingang zum Paradies ist für ihn so ungewöhnlich, so überraschend, dass sie den Dichter mit den Worten anspricht: „Schau gut her! Ich bin es tatsächlich, ich bin Beatrice!“ («
Guardaci ben! Ben son, ben son Beatrice.» - Purg. 30,73)
Für Dante ist Beatrice nicht nur die Geliebte, die vom verzehrenden Feuer seiner Leidenschaft ergriffen wird, sondern sie ist darüberhinaus der Inbegriff, die Personifikation der göttlichen Liebe. Gemeinsam durchschweben sie die neun Sphären des Himmels, höher und höher steigen sie hinauf, ‚wie Perlen im Wasser’ streben sie dem reinen und ewigen Licht entgegen, bis Dante in einem allerletzten Akt und allein auf sich gestellt so von der strahlenden Leuchtkraft überwältigt wird, dass ihn die Imagination seiner Phantasie (All’alta fantasia qui mancò possa) verlässt und sein Geist aufgeht in der Herrlichkeit Gottes.


- Savonarola – der ‚schwarze Prophet’ aus Florenz:


Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und von den umstehenden Figuren fast verdeckt, ist Girolamo Savonarola, der schmächtige, aber wortgewaltige ‚schwarze Prophet’ aus Florenz kaum wahrzunehmen. Sein Schicksal teilt er in gewisser Weise mit Julius II, insofern, als beide unter den Demütigungen des verhassten Borgia-Papstes Alexander VI zu leiden hatten, jenes berühmt-berüchtigten Papstes, der im kollektiven Gedächtnis der Zeit wegen seines unmoralischen Lebenswandels und der bis zur Hybris gesteigerten Vergötterung seiner Familie unvergessen bleibt - Vergehen, die heute noch den Kritikern der katholischen Kirche als Kronargumente dienen, wenn es darum geht, an die dunkelste und verhängnisvollste Epoche ihrer Geschichte zu erinnern. Auf jeden Fall bekam Savonarola die ganze Wucht des päpstlichen Verdikts zu spüren: er wurde zum Tode verurteilt, zu abstrusen Geständnissen gezwungen und unter dem Gejohle und Gefeixe des in wütende Stimmung versetzten Pöbels auf dem Marktplatz von Florenz hingerichtet und verbrannt.



Das Portrait dieses auf mich unheimlich wirkenden Dominikanermönchs – von Goethe als „fratzenhaftes, fantastisches Ungeheuer“ bezeichnet – ist seit meiner Schulzeit unauslöschlich in meinem Gedächtnis verankert: es zeigt ihn im unauffällig-schwarzen Habit seines Ordens, dessen schalartigen Kragen er hoch um den Hals geschlungen und dessen Kapuze er wie eine Sturmhaube über den Kopf gezogen hat, so dass nur der vordere Teil seines Gesichtes mit der markanten Profilierung sichtbar bleibt. Heute noch löst der Anblick bei mir ein zwiespältiges Gefühl aus: einerseits geht von diesem Gesicht eine magische Faszination aus, die mich immer wieder zwingt hinzuschauen und mich fragen lässt, welche düsteren, apokalyptischen Vorstellungen sich wohl hinter seiner Stirn zusammenbrauen, andererseits liegt in seinem flammenden Blick und in seiner langgezogenen, extrem gekrümmten Hakennase, Besessenheit und Scharfsinn bis hin zum fanatischen Exzess ausdrückend, etwas Raubtierhaftes und Dämonisches - ein Merkmal, das sich auch wiederfindet in seinem zu einer schmalen Linie zusammengepressten Mund, dessen leicht vorstehende schwülstige Unterlippe die trotzig-freche Entschlossenheit noch verstärkt. Die ‚Landschaft’ dieses Gesichts ist Spiegel seiner inneren Unruhe, seiner glühenden Leidenschaft und seines unbändigen Sendungsbewusstseins – jederzeit gewärtig, wie ein Vulkan auszubrechen und sich in verbalen Hammerschlägen gegen die Maßlosigkeit und den Sittenverfall der weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten zu entladen und das Volk mitzureißen in den Strudel demagogischer Verführung.

Wer war dieser Fra Girolamo Savonarola, dieser von Kennern der italienischen Geschichte als Sprachwunder seiner Zeit apostrophierte Dominikanermönch, der im Dom von Florenz Tausende von Zuhörern mit seinen flammenden Predigten aufrüttelte, der die skrupellose Machtgier der Herrschenden anprangerte, ihre von keiner moralischen Instanz in Schranken verwiesene hemmungslose Genusssucht geißelte, ihre unersättliche Gier nach Reichtum, nach gesellschaftlicher Anerkennung und Einflussnahme tadelte und ihnen ihre grenzenlose Verschwendungssucht und unvorstellbare Prunkentfaltung zum Vorwurf machte?
Obwohl es ihm gelang, das auszusprechen, was die schweigende Mehrheit der Florentiner Bürger dachte, obwohl er der Stadt Florenz eine Verfassung nach republikanischem Vorbild gab, und obwohl er vorübergehend eine geistig-moralische Wende einleitete und den Streitigkeiten unter den verfeindeten Feudalfamilien Einhalt gebot, blieb ihm ein Schicksal mit tödlichem Ausgang nicht erspart, das alle die trifft, die - von der Welle der Begeisterung und vom Triumph des Augenblicks hochgespült – ganz tief fallen, wenn sich ihre Versprechungen von Wohlstand, Frieden und moralischer Größe nicht erfüllen, oder wie bei Savonarola der Traum von einem neuen Jerusalem, dessen Licht über ganz Italien ausstrahlen werde, zerplatzt. Dann kennt das Schicksal keine Gnade, dann schlägt es erbarmungslos zu – ein Vorgang übrigens, den Goethe für so bemerkenswert hielt, dass er ihn in seinem Faust dichterisch verarbeitete und zu diesen Zeilen inspirierte:
Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen?
Die wenigen, die was davon erkannt,
Die töricht gnug ihr volles Herz nicht wahrten,
Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten,
Hat man von je gekreuzigt und verbrannt.
(Faust I, Nacht)

Geboren wurde Girolamo Savonarola 1452 in Ferrara; streng erzogen und auf den besten Schulen ausgebildet, sollte er nach dem Willen des Vaters Medizin studieren. Dass er einmal mit seinen leidenschaftlichen Predigten und seinen düsteren Prognosen für Aufsehen sorgen würde, zeichnete sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ab. Erst nach einer gescheiterten Liebesbeziehung änderte sich radikal sein Gesinnungswandel: er gab das Studium der Medizin auf und entschied sich für ein Leben im Dominikanerkloster von Bologna (1475). Hier konnte sich sein außerordentliches Redetalent entfalten. 1491 wurde er auf Veranlassung der mächtigen und allein regierenden Medici als Prior von San Marco eingesetzt, was ihn aber nicht davon abhielt, von der Kanzel herab die Unmoral der damals Herrschenden, sowohl der Kirchenleitung als auch des Adels, anzuklagen: ihren ausschweifenden, völlig aus der Kontrolle geratene Lebenswandel, der das ganze Dilemma ihrer Sittenlosigkeit offenbarte, ihre maßlose Verschwendungssucht, die rastlose Jagd nach Ausweitung und Vermehrung ihrer Besitztümer, die Begünstigung der eigenen Familie mit Pfründen und Privilegien, und schließlich ihr egoistisches Machtstreben, das vor Mord und Totschlag nicht zurückschreckte.
Wie niemals zuvor wusste Savonarola die Massen zu polarisieren: für ihn zählten in dieser turbulenten Zeit nur die harten Schnitte, die Schwarz-Weiß-Muster bzw. das Entweder-Oder: für oder gegen Gott. „Glaubt mir, ich bin weder Betrogener noch Betrüger. Denn Gott lügt nicht und kann sich selbst nicht verleugnen, und er spricht mit mir.“, so lautete eine seiner Selbstäußerungen. Was ihm vorschwebte, war das Bild eines neuen Jerusalems, einer reformierten Gesellschaft, die sich auf die Ideale der Urkirche zurückbesann und allein Jesus Christus zum Vorbild nahm – ein vollständiges Umdenken also, das auch auf die innere Reform der Kirche durchschlagen musste. „Die Kirche wird in unseren Tagen erneuert“, verkündigte ein von seiner prophetischen Mission überzeugter Savonarola, und weiter: „Vorher wird Gott eine schwere Züchtigung über Italien verhängen. Beides wird bald geschehen.“
Das Erstaunliche war, dass fast alle seiner Ankündigungen eintrafen: so der frühe Tod des Lorenzo di Medici, mit dem Beinamen der Prächtige’ (il Magnifico), des unumschränkt regierenden Herrschers der mächtigen und blühenden Stadt Florenz; so die vorübergehende Entmachtung dieser aristokratischen Großfamilie unter seinem Nachfolger Piero di Medici; so der Einmarsch des damals wohl stärksten Heeres, das von Sieg zu Sieg eilte – angeführt vom französischen König Karl VIII, den Savonarola schon als neuen ‚Kyrus’ ausgerufen hatte in Anspielung an den im Buch Esra erwähnten Perserkönig, dem das Volk Israel die Befreiung aus der Babylonischen Gefangenschaft verdankte, und von dem er sich eine grundlegende Erneuerung der gesellschaftlichen und kirchlichen Zustände erhoffte. Vorausgesehen hatte Savonarola im weitesten Sinne auch den Sturm auf Rom durch die Truppen Kaiser Karls V. am 6. Mai 1527 – den ‚Sacco di Roma’, der nicht nur den Untergang Roms besiegelte, sondern gleichzeitig auch den Glanz der Renaissance zum Erlöschen brachte. So kann ich mich nur dem Urteil des Erasmus von Rotterdam anschließen, wenn er schreibt: „In Wahrheit, dies war der Untergang nicht der Stadt, sondern der Welt.“

Obwohl die düsteren Vorhersagen Savonarolas in den allermeisten Fällen stimmten, ist er mit seiner Vision von einem neuen Jerusalem als einer Rückkehr zu den Idealen und Werten, die als leuchtende Fackeln der damals noch jungen Kirche bei ihrem Aufbruch in eine verheißungsvolle Zukunft den Weg wiesen, gescheitert: die Zeit war einfach nicht reif für eine geistige und sittliche Erneuerung, die alle Teile der Gesellschaft erfasst hätte, den öffentlichen wie den privaten Bereich. Es regte sich Widerstand auf aristokratischer Seite (Arrabiati/die Wütenden) und auf klerikaler Seite; so gab es Vorbehalte aus dem Orden der Franziskaner, aus dem eigenen Orden und aus dem großen Lager der Priesterschaft. Auch in der Bevölkerung lauerte Gefahr, weil im Kern ungebildet und für demagogische Zwecke leicht manipulierbar, und ihre himmelhochjauchzende Begeisterung ließ sich leicht ins Gegenteil kehren. Alles zusammen genommen waren das keine günstigen Voraussetzungen für Savonarola, dessen Stern schon bald wieder verglühen sollte.

Aber seine große Stunde schlug zunächst, als er – anders als vorher der politisch unkluge und eigenmächtig agierende Piero di Medici – mit dem französischen König Charles VIII über das Schicksal der Stadt Florenz verhandelte und dabei ein so großes Geschick bewies, daß Karl darauf verzichtete Florenz anzugreifen, um es anschließend zu besetzen, und gegen eine Lösegeldzahlung von 120.000 Florinen weiter nach Süden zog, um sich der Stadt Neapel zu bemächtigen und den Spaniern aus dem Haus Aragon die Herrschaft zu entreißen - das eigentliche Ziel seiner militärischen Unternehmung in Italien.
In der nächsten Phase kam es darauf an, das durch die Vertreibung der Medici entstandene Machtvakuum auszufüllen durch die Ausrufung einer Republik nach dem Vorbild Venedigs. Das neu geschaffene Wesen als ‚Gottesstaat’ oder ‚religiöse Diktatur’ zu bezeichnen, käme einer Verkennung der damals bestehenden politischen Verhältnisse gleich, denn die Verfassung dieser Stadt gründete sich auf durchaus demokratische Prinzipien, da das Volk oberster Souverain blieb, und auf ein streng gelebtes Christentum. Savonarola übernahm in dieser Stadtregierung selbst kein politisches Amt, sondern übte als Ideengeber lediglich eine beraterische Funktion aus.

Im Laufe der Zeit aber wurde die Freiheit der Bürger mehr und mehr eingeschränkt, und ein Klima von Angst und Einschüchterung entstand, weil die politisch Verantwortlichen, die den gesellschaftlichen Wandel eigentlich wollten, einen Herrschaftsapparat mit deutlich tyrannischen Zügen errichteten: so gab es regelmäßig durchgeführte Razzien, um die ‚Gesinnungstauglichkeit’ der Bürger zu überprüfen, oder es fanden öffentliche Verbrennungen statt, sogenannte ‚Autodafés der Eitelkeiten’, wo man dem Feuer Kunst- und Luxusgegenstände (anstößige Gemälde, Bücher, Musikinstrumente usw.) übergab.
Zwei Ereignisse waren es schließlich, die dem Experiment ‚Republik Christi’ ein Ende setzten und das Schicksal des Girolamo Savonarola besiegelten: zum einen seine fortgesetzten Angriffe auf den pflichtvergessenen Alexander VI und dessen päpstliche Herrschaft. Savonarola verstieg sich sogar zu der Behauptung, dass der Borgia-Papst „kein Christ sei und nicht an die Existenz Gottes glaube“, worauf dieser mit Predigtverbot und Exkommunikation antwortete; sogar die Androhung, den Kirchenbann zu verhängen, stand im Raum und lag wie ein Damoklesschwert über der Stadt am Arno.
Zum andern hatte sich der ‚schwarze Prophet’ mit seiner Vision eines neuen Jerusalems, d.h. einer erneuerten Gesellschaft auf der Basis christlicher Werteordnung, deren Glanz von Florenz aus über ganz Italien ausstrahlen sollte („Du wirst die Schwingen deiner Größe über die ganze Welt ausbreiten.“) verkalkuliert: Pest und Hunger breiteten sich aus, und der Pakt mit Karl VIII drohte Florenz auch politisch zu isolieren.
Und so kam es wie es kommen musste: der Stern Savonarolas verlor sein helles Licht, Zweifel an seinen Führungsqualitäten und seinem Sendungsauftrag mehrten sich, die Gegnerschaft wuchs und gewann schließlich die Oberhand in diesem Kräftespiel. Mit Unterstützung einer aufgewiegelten Volksmasse wurde am 8. April 1498 das Kloster von San Marco gestürmt und dem vom Papst als ‚Ketzer und Schismatiker’ verurteilten Bußprediger Savonarola unter Anwendung schlimmster Foltern der Prozess gemacht. Am 23. Mai – dreieinhalb Jahre nach ihrer Gründung – gehörte die Republik Florenz der Vergangenheit an, und der einst so umjubelte Savonarola wurde zusammen mit zwei anderen Mitbrüdern in einer massenwirksamen Inszenierung auf der Piazza della Signoria hingerichtet – genauso wie er es vorhergesehen hatte: „Die Gottlosen werden zum Heiligtum gehen, mit Axt und Feuer werden sie die Tore sprengen … und die rechten Männer gefangen nehmen und am Hauptplatz der Stadt verbrennen. Und was das Feuer nicht verzehrt und der Wind nicht fortbläst, wird ins Wasser geworfen.“


 
Zuletzt bearbeitet:
Moin - Moin Seneca!


VIELEN DANK

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für Deine Ausführungen

Leider stehe ich momentan unter Zeitdruck -> aber ich freue mich schon sehr darauf ALLES lesen zu können ...


Gruß - Asterixinchen :)
 
Salve Seneca,

vielen Dank für Deinen ausführlichen Rom-Bericht, der mir sicher (zumindest was Euer Programm der der ersten Tage angeht), eine Fülle von Anregungen für spätere Rom-Besuche bietet.

Ab VM wird´s dann - zumindest was einen armen, theologisch recht unbedarften Sünder aus dem Norden mit rudimentären Erinnerungen an eine gemäßigt protestantisch geprägte Jugend angeht - doch recht anstrengend. Ich habe mich redlich bemüht - sehe für mich aber die VM dann doch eher als eine grandiose Sammlung bedeutender Kunstwerke. Aber ich denke, da hat jeder so seine eigene Sichtweise. Interessant sind Deine Excurse in eine mir bisher recht verschlossenene Welt allemal !

In diesem Sinne

grüßt

Friedrich
 
Die 'disputà del sacramento' - siebter Teil

Gott nicht ergreifen, sondern sich von ihm ergreifen lassen



Während uns auf der rechten Seite die Vertreter der geistigen Elite begegneten, die mit ihren scharfsinnigen Analysen und spekulativen Ideen dem Geheimnis der Eucharistie und Trinität und damit letztlich dem Geheimnis Gottes auf der Spur waren – obwohl der Begriff „Gott“ eigentlich so konturlos erscheint, dass man sich fragen muss, wieso ‚das letzte Wort vor dem Verstummen’, wie es Karl Rahner einmal genannt hat, Gegenstand unzähliger Reflexionen werden konnte mit dem Ziel, sich in diese den menschlichen Horizont übersteigende Wirklichkeit von Nähe und Ferne, von Gegenwart und Entzogenheit vorzutasten - , so haben wir es auf der linken Seite mit Persönlichkeiten zu tun – so unterschiedlich sie in ihrem Charakter auch sein mögen - , die sich in ihrem Urteil über die so strittigen Fragen der Theologie von ihren Gefühlen leiten lassen: vom leidenschaftlichen Einsatz, die eigene Glaubensüberzeugung gegen alle Angriffe von außen zu verteidigen, von selbstvergessener Hingabe, die nur der Wahrheitsfindung dient, von spontaner Bewunderung, die sich aus der jeweiligen Situation des Augenblicks heraus entwickelt, von positiv verstandener Neugier, die vom Wissensdrang gesteuert immer offen ist für neue Erkenntnisse, aber auch von unverhohlener Skepsis und von Zweifeln, die so übermächtig werden können, dass man sich traut, sie aus dem privaten in den öffentlichen Raum zu tragen, um sie dort im harten Wettstreit mit seinen Kritikern auf den Prüfstand zu stellen bis hin zu einem aufreizend wirkenden Gleichmut und einem nicht zu vertuschenden Desinteresse, das nach einer Gegenreaktion verlangt.



- Justinus, 'Philosoph und Martyrer':


Eröffnet wird der Kreis der illustren Gesellschaft vom Heiligen Justinus, dem ‚Philosophen und Martyrer’ und dem vielleicht bedeutendsten Apologeten des 2. Jahrhunderts, von dem bekannt ist, dass er in seinen Apologien (Verteidigungsschriften) die christliche Lehre verteidigte bzw. rechtfertigte gegenüber atheistischen Beschuldigungen und volksverhetzerischen Verleumdungen in Verbindung mit scharfen Angriffen gegenüber anderen religiösen Kulten, deren Mythen er für ‚Irreführungen’ auf dem Weg zur Wahrheit hielt. Wir sehen Justinus vor uns auf der obersten Stufe der sich als Bühne weit öffnenden Treppenanlage direkt neben dem Altar in aufrechter Haltung und im priesterlichen Gewand, das an seiner äußeren Umrandung von einem breiten, reich bestickten Band auf goldenem Grund eingefasst wird, dessen ornamentales Muster Raffael übrigens dem Motiv des Schlingknotens auf der Vorderbespannung des Altares nachempfunden hat. Sein Oberkörper ist leicht seitwärts gedreht, das fast kahle Haupt, von dessen einstiger Haarfülle nichts als ein spärlich-grauer Wulst übrig geblieben ist, und das im Gegensatz dazu einen gepflegten Bart ziert, ist gesenkt; und sein Blick fällt auf den neben ihm sitzenden Hieronymus, den mit Augustinus gelehrtesten Theologen der Antike nicht zuletzt wegen seiner außergewöhnlichen Sprachbegabung (vir trilinguis) – ebenfalls im feierlichen Gewand, dessen leuchtendes Rot sich von den eher gedeckten Farben seiner Umgebung abhebt und dem Betrachter direkt ins Auge ‚springt’. Mit weit ausgestreckten Armen deutet Justinus auf den wichtigsten Gegenstand des Altares, die kunstvoll gearbeitete Monstranz mit der darin eingeschlossenen Hostie, die – folgt man dem Dogma der Kirche – Christus selbst in seinen eigenen Leib verwandelt, nachdem der Zelebrant die Wandlungsworte (ex vi verborum) gesprochen hat: „Suscipe, Sancte Pater, hanc immaculatam hostiam quam ego offero pro omnibus fidelibus christianis vivis atque defunctis: ut mihi et illis proficiat ad salutem in vitam aeternam“ – „Heiliger Vater, nimm diese reine, unverfälschte Opfergabe an, die ich vor Dein Angesicht trage für alle, die an Christus glauben, sowohl für die Lebenden als auch für die Verstorbenen in der Hoffnung, dass wir alle Rettung erfahren dürfen in einem neuen, ewigen Leben.“

Es ist eine Körpersprache, mit der uns Justinus signalisieren will, dass er aus und von der Kraft seiner Überzeugungen lebt, zusammengefasst in der Erkenntnis, dass die christliche Religion als Religion des Geistes und der Vernunft die „allein zuverlässige und brauchbare Philosophie“ sei, eine Idee, von der er tief durchdrungen war – so tief, dass er bereit war, des Glaubens wegen sein Leben für Christus hinzugeben. Mit Vehemenz verteidigt er daher seine Meinung, noch verstärkt durch seinen Hang zur gestenreichen Erklärung, die für alle sichtbar seine innere Erregung widerspiegelt. Offenbar eine Haltung, die ansteckend wirken muss, wenn man das Gesicht des jungen Novizen näher in Augenschein nimmt, der im Schatten des Altares zu seinen Füßen niedergesunken ist und aus Dankbarkeit, Zeuge dieser einmaligen Begegnung zu sein, die Hände zum Gebet gefalten hat und mit verklärt-mystischem Blick zu Papst Gregor d. Großem hinüberschaut und zu den drei jungen Scholaren, die ebenfalls von der Größe des Augenblicks überwältigt auf die Knie gefallen sind.
An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, dass Justinus’ Gottessuche ein langer Weg des Experimentierens mit unterschiedlichen philosophischen Strömungen war, bis er endlich seine Heimat im christlichen Glauben fand. Es war für ihn der Durchbruch vom Mythos (d.h. der Philosophie der falschen Götter und der Irreführungen) zum Logos (zum ordnenden und zugleich schöpferischen Wort göttlicher Autorität und Vernunft), von der Gewohnheit (lat. consuetudo – also zum einen von Denkvorstellungen, die sich über Generationen hinweg fest eingebrannt haben im kollektiven Bewusstsein, ohne sie jemals zu ändern, und zum anderen von Verhaltensmustern, die der Zeitgeist vorgibt bzw. die der Mode unterliegen) zur unvergänglichen Wahrheit: „Dominus noster Christus veritatem se, non consuetudinem cognominavit“ – „Unser Herr Jesus Christus hat sich als Wahrheit bezeichnet und nicht als Gewohnheit.“
Im Mittelpunkt seiner Theologie steht die Lehre vom Logos in Anlehnung an einen in der antiken Philosophie weit verbreiteten Begriff, an den auch Johannes in seinem ‚pneumatischen’ Evangelium anknüpft und ihn in seinem Prolog geradezu hymnisch verklärt und in eins setzt mit Gott:
„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. "(In principio erat Verbum, et Verbum erat apud Deum, et Deus erat Verbum. - Έν ἀρχῇ ἦν ὁ Λόγος καὶ ὁ Λόγος ἦν πρὸς τὸν Θεὸν καὶ Θεὸς ἦν ὁ Λόγος)
Vielleicht der entscheidende Impuls für Justinus, endlich am Ziel seiner Gottsuche angekommen zu sein, um das Tor zum Licht, zur Wahrheit aufzustoßen. Wie Johannes war auch er davon überzeugt, dass Christus der gestaltgewordene Logos ist, der als Autorität, als ‚nomos’, die Welt neu ordnen werde: … dass Christus als der Logos nicht neben Gott steht, sondern als ein Teil Gottes selber Gott ist. … sein Sohn aber, der Logos, der vor aller Schöpfung war, und der nicht gezeugt wurde, wird Christus genannt, weil Gott durch ihn alles ordnete.“


- Der Heilige Hieronymus, Kirchenlehrer und Schöpfer der Vulgata:


Obwohl der Heilige Justinus beschwörend seine Arme zum Altar ausstreckt, obwohl er eindringlich auf Hieronymus einredet und gestenreich seine Lehre verdeutlicht, verhallen seine Worte wirkungslos.
Denn auch im Bildwerk des Raffael bleibt Hieronymus – wie Justinus im Herbst seines Lebens angekommen, zu höchsten kirchlichen Würden aufgestiegen und umgeben von einer Aura umfassender Bildung und Gelehrsamkeit – seinem Grundsatz treu: „Deine Hände sollen das Heilige Buch nie niederlegen. Lerne hier, was Du lehren sollst!“
Tief versunken, im innigen Dialog mit dem Wort Gottes und über das Ewig-Gültige nachdenkend, dabei sein Umfeld nicht mehr wahrnehmend, gilt seine einzige Aufmerksamkeit dem Buch der Bibel, das aufgeschlagen auf seinen Knien ruht und von seinen ausgestreckten Händen abgestützt wird. Sein ganzes Leben hat er dem Studium der Heiligen Schrift gewidmet, nichts konnte ihn daran hindern, tiefer und tiefer in das Geheimnis Gottes vorzudringen; und so fügte sich in seiner beispiellosen Karriere, die uns selbst aus heutiger Sicht noch abenteuerlich vorkommt, Baustein an Baustein: Studien in Mailand, Rom, Trier und Aquileia – Vervollkommnung seiner Sprachkenntnisse sowohl des Griechischen als auch des Hebräischen unter den Bedingungen strengster Askese in der Einsamkeit und Abgeschiedenheit der Wüste Chalkis in Syrien – Vertiefung seines theologischen Wissens mit dem besonderen Schwerpunkt der Schriftauslegung bei Gregor von Nazianz in Konstantinopel –Tätigkeit als Sekretär und Berater des Papstes Damasus in Rom, der den als glänzenden Stilisten bekannten Hieronymus wegen seiner Sachkenntnis und seines außergewöhnlichen Sprachtalents mit der Aufgabe betraute, die biblischen Texte in das gesprochene Latein seiner Zeit zu übertragen – Endgültiger Rückzug nach Bethlehem ‚bei der Krippe des Herrn’, wo er fast 35 Jahre lang in klösterlicher Ruhe ein zutiefst geistliches Leben führte, immer dem Wort Gottes auf der Spur, und dabei Zeit fand, sein umfangreiches Wissen als Zeugnis seiner Gelehrsamkeit in zahllosen Dokumenten zu hinterlassen: in Kommentaren, Briefen, Predigten, Streitschriften und historischen Abhandlungen!
Am besten bekannt und mit einer Leistung, mit der er sich unsterbliche Verdienste für die Katholische Kirche erworben hat, ist seine lateinische Bibelübersetzung – das Novum Testamentum graecae fidei - , die seit dem 12. Jahrhundert Vulgata genannt wird und bis heute der verbindliche Text in lateinischer Sprache geblieben ist. Allein schon mit dieser Arbeit wäre es gerechtfertigt gewesen, ihn in den Kreis der vier großen Sancti doctores, der Kirchenväter aufzunehmen.

Legt man den Purpur seines Gewandes als Maßstab zugrunde, so hat ihn Raffael im Rang eines Kardinals dargestellt. Dass er das Leben eines von sich eingenommenen, nach Macht, Glanz und Selbstdarstellung strebenden Renaissancefürsten führte, hat mit seiner Lebenswirklichkeit nichts zu tun: Hieronymus war ein Mann des unermüdlichen Studiums, sich jeder geistigen Herausforderung stellend und nur dem Wort Gottes gegenüber verpflichtet, und der aus dem Gebet und der Einsamkeit seine Kraft bezog.
Die Realität viel besser getroffen hat meiner Ansicht nach Caravaggio, dieser unvergleichliche Magier des Helldunkel, mit seinem Bildwerk, das den Titel trägt: ‚Hieronymus in der Höhle’ und in der Villa Borghese ausgestellt ist; ich bin mir sicher, dass einige Forenbesucher sich bestimmt daran erinnern können, die wie wir das Glück hatten, noch vor Antritt der Reise über das Internet Tickets für den zweistündigen Besuch in diesem Museum zu erwerben, das ich wegen der einzigartigen Exponate, die hier zu bestaunen sind, für das Juwel in der so reichen Museenlandschaft Roms halte.



Deutlich sehe ich den völlig abgedunkelten Raum vor mir, der nur mit dem Allernötigsten ausgestattet ist: ein viel zu kleiner Holztisch – weit davon entfernt, ein Schreibpult zu sein! - , an dem sich kaum arbeiten lässt, ein Tischtuch, das achtlos beiseite geschoben in langen Falten herunterhängt und drei überdimensionale Folianten, die die ganze Fläche ausfüllen. An einem aufgeschlagenen Exemplar, dessen eine Hälfte von der Linken des Eremiten gestützt wird, ist Hieronymus beschäftigt, jederzeit bereit, seine Gedanken niederzuschreiben.
Ein Kodex mit deutlichen Gebrauchsspuren hat quer auf der äußersten Ecke des Tisches Platz gefunden, darüber ein weiterer Band – nicht ganz so voluminös wie die beiden anderen - , dessen Seiten ebenfalls geöffnet sind, und um zu verhindern, dass sie verschlagen, hat er sie – wie makaber! – mit einem Totenkopf beschwert, mit dem Symbol der Vergänglichkeit alles Zeitlichen. Hieronymus selbst, ein alter Mann mit Glatze und vollem Bart, gezeichnet von den Spuren des Lebens und ausgezehrt von den Strapazen asketischer Enthaltsamkeit, ist ganz in seine Arbeit vertieft und mit der Niederschrift der gewonnenen Erkenntnisse beschäftigt, ohne ein einziges Mal aufzublicken.
Obwohl der Raum fast schwarz erscheint, fällt doch Licht hinein, ohne ihn allerdings vollständig zu illuminieren. In dieser Welt selbstgewählter Isolation wirkt es fast schon störend, fast zu grell, um die Konzentration nicht zu verlieren, die Voraussetzung ist für eine höchst anspruchsvolle Arbeit, nämlich das Original der Heiligen Schrift in die Umgangssprache der damaligen Zeit zu übersetzen. Caravaggio bezieht sein Licht sozusagen aus 'zweiter Hand': es ist ein Beleuchtungslicht, wie man es in der Bühnentechnik einsetzt, wo die Deckenstrahler den Raum punktuell und unterschiedlich stark ausleuchten, um durch die Abstufung der Lichtintensität bestimmte Stimmungen zu erzeugen, um bestimmte Effekte zu erzielen, um die 'Eigentlichkeit' von Personen und Gegenständen so zu sichtbar, wie es für die jeweilige Szene am besten passt. Das Licht lässt die besondere Situation, in der Hieronymus seinen Studien nachgeht, wirklichkeits- und zeitentrückt erscheinen. Caravaggio's Kunst ist auf Wirkung bedacht: er will das Rot des Tuches betonen, das nachlässig um seine Schultern geschlagen nicht mal den ganzen Oberkörper bedeckt und das ungeordnet in breiten Falten nach unten fällt und dessen Farbe in diesem halbdunklen Milieu geradezu flammend aufleuchtet, und er will auch das Weiß hervorheben – allerdings sehr zurückgenommen und längst nicht so dominant wie das Rot des Umwurfs – , dessen matten Glanz wir in den aufgeschlagenen Seiten und in dem zusammengerafften Tischtuch wahrnehmen.



Wie Caravaggio ‚seinem’ Hieronymus den Totenkopf als Attribut zugeordnet hat, so hat Raffael den Löwen als Symbol gewählt, der sich friedlich ruhend, aber äußerst wachsam, zu Füßen des Heiligen niedergelassen hat, den mächtigen Körper fast verdeckt von zwei voluminösen Prachtexemplaren mit verschließbarem Buchdeckel, deren Seiten von außen mit schimmerndem Blattgold überzogen sind, und die zur Unterscheidung ihres Inhalts unterschiedliche Schriftzüge tragen: auf dem oberen Buchrücken lesen wir BIBLIA, auf dem unteren EPISTOLAE.
Der Legende nach soll Hieronymus den Löwen wie ein Haustier bei sich aufgenommen haben. Dieser hatte sich eine böse, äußerst schmerzhafte Verletzung an seiner Tatze zugezogen, verursacht durch einen Dorn, in den er mit dem gesamten Gewicht seines Körpers hineingetreten war. Seitdem konnte er sich nur hinkend fortbewegen. Irgendwann führten ihn seine Streifzüge in die unmittelbare Nähe des Klosters, in dem Hieronymus mit seinem Konvent lebte. Als er das verletzte Tier erblickte, regte sich Mitleid in ihm. Er nahm sich seiner an, zog den Dorn aus der Pfote und versorgte die Wunde. Dankbar über die wunderbare Heilung blieb der Löwe fortan bei Hieronymus und begleitete Tag für Tag den Lastesel der Mönche zur Weide, um ihnen von dort das dringend benötigte Brennholz herbeizuschleppen.



- Papst Gregor der Große:


Gleich der Figur des Hieronymus hat Rafael Papst Gregor d. Großen sitzend dargestellt, und zwar in der Pose des „Papa universalis“, des Papstes der ganzen Welt: mit auffällig markantem Profil, in dem Fachleute Gesichtszüge von Julius II. erkannt haben wollen zu einer Zeit, als dieser noch keinen Vollbart trug; mit einem gold-glänzenden Pontifikalgewand aus Seide, über und über bestickt mit Pflanzengebinden, Blumenranken und dem labyrinthartig verschlungenen Motiv des unendlichen Knotens, und um nach außen hin den Anspruch päpstlicher Macht und Autorität sinnfällig zu machen, trägt er die Dreifachkrone, die konisch geformte Tiara, die ihm in der feierlichen Krönungsmesse (missa papalis) zum ersten Mal aufgesetzt wurde. Wie schon bei Hieronymus zu beobachten, lässt auch Gregor die Heilige Schrift geöffnet auf seinen Knien ruhen; seine Augen aber sind nicht darauf gerichtet, sondern sein Blick – Entschlossenheit und Durchsetzungsfähigkeit ausstrahlend – geht hinüber zur konsekrierten Hostie vorne auf dem Altar, deren wunderbare Verwandlung – ‚vere, realiter, et substantialiter’ – in die unmittelbare, verborgene Gegenwart Christi (obwohl sinnlich nicht wahrnehmbar und formell nicht beweisbar) für ihn über jeden Zweifel erhaben und als Geheimnis des Glaubens unumstößlich bleibt.

Es ist unbestritten, dass Gregor I. zu den ganz großen Lichtgestalten auf dem Stuhl Petri gehört, und dass er sich während seines Pontifikats als wahrer „Konsul Gottes“ (so die Grabinschrift in Alt-St-Peter) erwiesen hat, sowohl auf diplomatischem Gebiet als auch als unermüdlicher Interpret der Gottesbotschaft – ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, seine zahlreichen Schriften als Versuche zur Selbstprofilierung zu verstehen, sondern als Ausdruck eines aus tiefer Glaubensüberzeugung erwachsenen Bedürfnisses, durch sie die Stimme Gottes hörbar zu machen.
Als die Wahl zum Papst auf ihn fiel, versuchte er sich ihr durch Flucht aus der Stadt Rom (versteckt in einem Faß auf einem Ochsenkarren!) zu entziehen. Aber vergeblich: er konnte sich dem Votum von Volk und Klerus auf Dauer nicht verweigern. Einmal im Amt, wurde er dem Ruf, der ihm vorauseilte, Hoffnungsträger in einer von politischen Unruhen geschüttelten Zeit zu sein, mehr als gerecht. Durch ihn entwickelte sich das Papsttum zur wirklich allein funktionierenden Institution, nachdem die Aeterna ihre Vormachtstellung als Metropole des Imperium Romanum verloren hatte, ihr Niedergang durch die Völkerwanderung noch beschleunigt wurde, und sie zusätzlich den Begehrlichkeiten Ostroms ausgeliefert war. Wie sehr Gregor unter diesen Verhältnissen gelitten hat, das hat er uns so zu Papier gebracht. Ich zitiere aus meinem alten Geschichtsbuch: "Ich Unwürdiger und Schwacher habe ein altes und von Wellen arg mitgenommenes Schiff übernommen, in das von allen Seiten die Wogen eindringen und dessen morsche Planken, unablässig von Stürmen gepeitscht, den nahen Schiffbruch ankündigen."
In dieser Situation des äußeren Zerfalls entfaltete Gregor eine Wirksamkeit, die alle Bereiche des öffentlichen Lebens erfasste, d.h. er kümmerte sich um politische, soziale und kirchliche Angelegenheiten: so verhandelte er erfolgreich mit den Langobarden, die als Invasoren die Sicherheit ganz Italiens bedrohten und schon weitgehend die Administration der Zivilverwaltung lahmgelegt hatten, und durch ein Abkommen, das die Zahlung einer hohen Geldsumme vorsah, erreichte er die Aufgabe ihrer monatelangen Belagerung Roms und ihren friedlichen Abzug.
Am meisten zu leiden unter den von politischen Stürmen so gepeitschten Zeit hatte die Zivilbevölkerung, die zusätzlich noch Naturkatastrophen über sich ergehen lassen musste, mit der Folge, dass Hungersnöte und Seuchen (Beulenpest!) ausbrachen. In dieser Lage zeigte er seine wahre Größe, indem er pragmatisch handelnd den Kampf gegen das Elend der Ärmsten der Armen aufnahm und anfing, den reichen Landbesitz der Kirche, das sog. Patrimonium Petri, zu bewirtschaften, um auf diese Weise die desolaten Zustände in den Griff zu kriegen. Noch zu seinen Lebzeiten schloss er diese Ländereien zu einem einheitlichen Gebilde zusammen und schuf durch eine mustergültige Verwaltung die Voraussetzung für den späteren Kirchenstaat und die politische Machtstellung der Päpste in Italien.
Besonders war ihm daran gelegen, die Christianisierung der germanischen Völker voranzubringen. Sie in den Schoß der Kirche zu holen, geschah aus der Überlegung heraus, über die Ausbreitung des christlichen Glaubens den „Fortschritt des Reiches Gottes“ auf positive Weise zu fördern und gleichzeitig das Papsttum zu stärken. So arbeitete er an der Bekehrung der Langobarden, so vertiefte er die Beziehungen zu den Westgoten und Franken, und als krönender Abschluss seines innerkirchlichen Wirkens gelang es ihm, die Angelsachsen für die Katholische Kirche zu gewinnen, die es ihm wiederum durch treue Anhängerschaft dankten. Bis heute gilt Gregor als Patron der Engländer.
Auch im Umgang mit dem Patriarchen von Konstantinopel vermied Gregor jede offene Konfrontation, obwohl dieser durch seinen Titel „Ökumenischer, d.h. weltumfassender Patriarch“ genug Anlass zur Provokation gegeben hatte, um im Gegenzug den Primat Roms gegenüber der Kirche des Ostens geltend zu machen. Aber ein Mann wie Gregor, der für sich jede Form von Personenkult ablehnte, der sein Denken und Handeln als Dienst an Gott und seiner Kirche verstand, der im Grunde seiner Gesinnung immer ein einfacher Mönch geblieben ist, wollte nie etwas anderes sein als ein „Diener der Diener Gottes“ – ein servus servorum Dei: eine Bezeichnung, die er als Unterschrift vorzugsweise unter seine Schreiben und Dokumente setzte, und die auch jetzt noch zur Titulatur der Päpste gehört.



Vor diesem Hintergrund ist in meiner Erinnerung auch ein ganz anderes Bild, als es uns Raffael vermitteln will, haften geblieben: nicht der machtbewusste und glaubensstarke Pontifex, der auf den Trümmern der untergegangenen Stadt Rom die Kirche in eine glorreiche Zukunft hineinführt, sondern der zurückgezogen, streng nach den Regeln des Benedikt lebende Mönch, der sich ganz dem Studium der Schrift und der Wissenschaft hingibt – so zu sehen auf einem kunstvoll gearbeiteten Relief aus Elfenbein, das man zu meiner Schulzeit für pädagogisch so wertvoll erachtete und so aussagekräftig, dass es als typisches Schwarz-Weiß-Photo (für mich waren sie alle gleich grau, langweilig, wie aus einer anderen Zeit und ohne 'Leben') in den damaligen Geschichtsbüchern abgedruckt wurde mit der Intention, in uns die Vorstellung vom Leben in einem mittelalterlichen Kloster zu wecken. Ich muss geschehen, dass diese Zielvorgabe zumindest bei mir verfehlt war, da ich mit dieser selbstgewählten Abgeschiedenheit hinter Klostermauern nichts anfangen konnte: es war eine fremde Welt, die sich mir nicht erschließen wollte, und die Lichtjahre von meiner eigenen Lebenswirklichkeit entfernt war.
Jetzt habe ich diese Darstellung wieder vor mir liegen, die ich natürlich heute mit ganz anderen Augen betrachte: umrahmt ist sie von einem fortlaufenden Schmuckband gleich großer Akanthusblätter, alle geometrisch exakt platziert, ein und denselben Abstand zueinander wahrend. Die obere und weitaus größere der beiden Bildzonen wird dominiert von der Ansicht eines symmetrisch gestalteten Palastes (Lateranpalast?) mit Wehrmauern, Türmen, Erkern und Galerien, dessen ganze Last auf zwei Säulen mit korinthischen Kapitellen ruht, die dekorativ umschlungen sind von jeweils einer Hälfte eines weit aufgerissenen Vorhangs. So öffnet sich der Blick in den privaten Bereich des Papstes, der ansonsten für die Öffentlichkeit verhüllt bleibt. Wir sehen ihn im einfachen Mönchsgewand und mit gekrümmtem Rücken am Schreibpult arbeiten, vor ihm aufgeschlagen die Seiten einer Prachtschrift, die er hochkonzentriert mit seinen Einträgen ausfüllt. Dabei beobachtet ihn aufmerksam und ohne von ihm zu weichen eine Taube, die sich auf seiner Schulter niedergelassen hat, und die ihm als Symbol göttlicher Inspiration hilft, die richtigen Worte zu finden.
Im unteren Bereich erkennen wir drei Schreiber in unterschiedlichen Sitzpositionen und aus perspektivisch variierenden Blickwinkeln, wobei der Rechte – so hat es den Anschein – seine Arbeit unterbrochen hat, um genau auf Gregors Worte zu achten, während die beiden anderen damit beschäftigt sind, seine geistige Hinterlassenschaft gewissenhaft und mit Sorgfalt für einen interessierten Leserkreis niederzuschreiben.

Dem Werk Gregors ist anzumerken, dass er ‚seine Feder ins Herzblut getaucht hat’. Er wollte die Botschaft Gottes so verkünden und so erklären, dass alle ihn verstanden – aus einer natürlichen, ungezwungenen Frömmigkeit heraus und aus einem Glauben, den er so lebte wie er meinte. Er suchte nach einem Weg, Denken und Tun, Sein und Handeln miteinander zu verbinden, und dieses Miteinander, diese Synthese, als moralisches Ideal in der ‚Banalität des Alltags’ umzusetzen.
Gregor wollte aber nicht nur Verkünder – praedicator – sein, sondern auch Erzieher. In seinem Liber regulae pastoralis (Buch der Pastoralregel) befasste er sich mit der für ihn so wichtigen Thematik der Seelsorge, die er sogar als ars artium, als Kunst der Künste, bezeichnete, und beschrieb darin ausführlich, ja geradezu programmatisch, Aufgaben und Pflichten von Priestern und Bischöfen, die als Hirten der Kirche in ihrem Lebensstil Vorbild für die anderen sein sollten (klingt das nicht modern?). „Der Seelenführer sei vorbildlich im Lebensstil, damit er den Untergebenen durch sein Leben zeigt, wie sie selbst leben müssen“ (past. II,3). Diese Schrift erfreute sich großer Akzeptanz und war so erfolgreich, dass sie sogar ins Griechische und Angelsächsische (Altenglische) übersetzt wurde. Sie prägte das Denken des Mittelalters und besaß für den Weltklerus die gleiche Bedeutung wie die Regel des Heiligen Benedikt für die Orden.
Die Schaffenskraft dieses Papstes war enorm, und sie nötigt uns heute noch den größten Respekt ab. Sein umfangreiches Schrifttum bedeutete für die Kirche einen unermesslichen Fundus, aus dem sie noch Jahrhunderte später schöpfen konnte. Mit seiner Gelehrsamkeit, mit seinem geistigen Erbe hat er das Fundament gelegt für die Gestaltung der abendländischen Geschichte und für die beginnende Weltherrschaft der Kirche. Allein seine pastoraltheologischen und exegetischen Schriften hätten ausgereicht, ihn in den Kreis der vier großen lateinischen Kirchenväter aufzunehmen.
Mir persönlich ist er nur bekannt aus dem zweiten Buch der Dialoge (Dialogi de vita et miraculis patrum Italicorum) – einer Art volkstümlicher Heiligenlegenden - , das als einzig existierende Quelle überhaupt dem Leben des Benedikt von Nursia gewidmet ist, den er geradezu als Lichtgestalt, als leuchtende Ikone des Mönchtums verherrlicht.



- Figurengruppen in unmittelbarer Nähe der beiden großen Kirchenväter:


Aber was ist der Glaube noch wert, wenn er nicht bei allen ankommt, wenn er nur von einer elitären Minderheit okkupiert wird, die ihn zum Gegenstand akademischer Erörterung erklärt und sich einbildet, nur sie verfüge über das Instrumentarium, wesentliche Inhalte seines Geheimnisses zu entschlüsseln? Gott nur unter der Prämisse hochfliegender Reflexionen zu betrachten, reicht nicht aus, da unsere Erkenntnisse beschränkt sind und an die Grenze des Unsagbaren, des Unnennbaren stoßen. Wir können ihn nicht für uns vereinbaren oder Macht über ihn gewinnen, auch wenn mir meinen, durch fortschreitendes Denken und durch Zuwachs unseres Wissens weiter in die Tiefen des göttlichen Mysteriums vordringen zu können. Es ist eine Illusion zu glauben, wir könnten die ganze Unendlichkeit des Seins ermessen; als Suchende und Fragende werden wir immer nur unterwegs bleiben auf das unsagbare Geheimnis hin, und es sollte uns bewusst sein, dass wir als endliche Wesen, eingespannt zwischen die beiden Pole von Geburt und Tod, uns immer auch als transzendente Wesen erfahren, vor denen sich der unendliche Horizont menschlichen Fragens auftut. Wohin uns auch die höchsten Gedankenflüge tragen, nie werden wir ein letztes, absolutes Ziel erreichen: alles Erkennen kann nur vorläufig, nur Etappe sein. Das ist unser Schicksal oder nach Rahners Terminologie unser „Existential“. Von daher gesehen sollten wir auch den ehrgeizigen Anspruch, Gott begreifen und damit letztendlich über ihn verfügen zu wollen, aufgeben; wir sollten uns vielmehr ergreifen lassen von dem, der uns immer unbegreifliches Geheimnis sein wird in der dualistischen Erfahrung von Anwesenheit und Entzogenheit.
Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass der Glaube nicht ausschließlich als Akt der ‚reinen Vernunft’, als Sache des Intellekts, verstanden werden darf, sondern er lebt genauso von den ‚emozioni’, den Gefühlen, dem spontanen Erfahren. Er bliebe verstümmelt, amputiert, würden nicht Kopf und Herz durchströmt von der Kraft des unmittelbaren Erlebens, die im scholastischen Sinn die Seele bewegt (motus animae), die psychologisch ausgedrückt die Pforte zu den Tiefenschichten unseres Unbewussten aufstößt, wo das Denken aufhört und das Erstaunen beginnt und auch das Verstummen angesichts einer Wirklichkeit, die als Ganzes unser Verstehen übersteigt, aber in deren Horizont wir ahnend das Göttliche – absolute Wahrheit und Freiheit – wahrzunehmen vermögen.

Genau um diese intuitive Gotteserfahrung, so möchte ich es nennen, geht es Raffael bei der nächsten Figurengruppe, die wir links auf den äußeren Stufen der gewaltigen Treppenanlage erkennen können. Sie wird angeführt von einer männlichen Figur, mit Bart und vollem Haar, die sich forschen Schritts – dem Betrachter den Rücken zugewandt – dem Allerheiligsten nähert. Nicht nur wegen seiner aufrechten Haltung erregt der Bärtige Aufmerksamkeit, sondern auch wegen seiner kostbaren Kleider: über eine grüne Tunika, die auf der rechten Körperseite frei zum Vorschein kommt, hat er lässig ein blaues, luftig-leichtes Tuch geschlungen, das auf der linken Schulter zusammengerafft in breiten, an Volants erinnernde Falten nach unten fällt und nur den linken Unterschenkel unbedeckt lässt. Gemessen an seinem luxuriösen ‚Outfit’ muss es sich wohl um einen Vertreter der privilegierten Schicht handeln, der für sich das Recht in Anspruch nimmt, ein freies, unabhängiges Leben zu führen – nicht in Saus und Braus, sondern ernsthaft bemüht, nach einem Ziel zu suchen, das trägt und Halt gibt. Mit der rechten Hand und dem gestreckten Zeigefinger deutet er auf den Altar hin, und diese Geste lässt erahnen, dass er vom Mysterium der latens Deitas (der verborgenen Gottheit) tief getroffen und in ihm der göttliche Funke übergesprungen ist, weil sich hier und jetzt das Wunder der Verwandlung (de pane fit caro Christi - aus dem Brot werde das Fleisch Christi) vollzieht mit heiliger, geheimnisvoller Macht.




Dem Fascinosum der realen Gegenwart Christi erlegen sind auch die drei jungen Begleiter, ebenfalls in farbenprächtigen, wallenden Gewändern – zu sehen auf der linken Seite in unmittelbarer Nähe des Wahrheitssuchers. Vielleicht sind es seine Schüler. Überwältigt von diesem unglaublichen Vorgang haben sie Mund und Nase geöffnet und schauen wie hypnotisiert auf die unscheinbare Oblate, die geradezu eine magische Anziehungskraft auf sie ausübt. Zwei von ihnen sind vor Staunen auf die Knie gesunken, während von hinten der Dritte heranstürmt, seinen Oberkörper weit über sie beugt und gebannt das Brot des Lebens fixiert. Und hier bewahrheitet sich, was Goethe in unserer Sprache unübertroffen zum Ausdruck gebracht hat: "Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind." (Faust I, Nacht)



Die ganze Aufgeregtheit um die theologischen Konklusionen, denen ein über die gesamte Kirchengeschichte sich erstreckender Denkprozess vorausging mit erbittert geführten Auseinandersetzungen um das dogmatisch richtige Verständnis des Sakramentes vom Leib und Blut Jesu Christi, dessen realer Präsenz und der Transsubstantiation [also der Verwandlung der beiden Gestalten von Brot und Wein in die Wesenheit des ganzen Christus bzw. in seine „sakramentale Greifbarkeit“ (Rahner)], geht an den beiden Bischöfen im Hintergrund vorbei. Eigentlich unverständlich, denn als ranghohe Amtsträger in der Kirchenhierarchie und als direkte Nachfolger der Apostel sollten sie doch mit dem aktuellen Stand der kirchlichen Lehrverkündigung vertraut sein. Ganz bewusst hat Raffael sie ins ‚Abseits’, an den Rand des Gesamtgeschehens gerückt, und von den Umstehenden halb verdeckt sind sie erst auf den zweiten Blick zu erkennen, und auch deshalb nur, weil sie mit ihren weißen Mitren die anderen überragen. Sie sind eigentlich nur schmückendes Beiwerk und spielen auf der Bühne der großen Geister nur eine Nebenrolle – aber nicht ohne Grund! Durch ihre Anwesenheit signalisieren sie, dass sie von der Problematik der hoch brisanten Fragen weder existentiell noch emotional betroffen sind: für sie ist die Monstranz bloß ein liturgischer Gegenstand - geschaffen für die Exposition der Hostie und unentbehrlich für die Erbauungszeremonien, um Gottesdienste und Andachten zu einem unvergesslichen Erlebnis werden zu lassen. Und was bedeuten ihnen Brot und Wein? Wirklich Fleisch und Blut Jesu Christi, und wirklich die Gegenwart des ganzen Christus – mit Leib und Seele, mit seiner Gottheit und Menschheit zugleich? Unsinn! Hirngespinste! Ein irrationales Gedankengebäude einiger ‚Luxustheologen’, die jegliche Bodenhaftung verloren haben, und die abgehoben – ‚schwerelos’ über allem schwebend – ihre abstrusen Phantasien als facta dogmatica (dogmatische Tatsachen) und als revelatio supernaturalis (übernatürliche Offenbarung) des göttlichen Willens anerkannt wissen wollen. Und was die Hostie angeht, so ist sie nichts anderes als ein Stückchen Brot mit Symbolcharakter: es soll an die wunderbare Brotvermehrung erinnern, vor allem aber an das Letzte Abendmahl, das durch Lukas (Lk 22,19) und Paulus (1Kor 11, 24/25) eine besondere Aufwertung erfahren hat, weil sie noch die Aufforderung zur Wiederholung hinzugefügt haben: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“
Auch mit den Begriffen ‚conversio mirabilis’ – ‚substantia’ – ‚species’ – ‚ex opere operato’ können unsere beiden Bischöfe nichts anfangen: für sie sind es Worthülsen ohne tiefere Bedeutung. Eigentlich hätte man über sie das Verdikt des Trienter Konzils verhängen sollen: anathema sit – der sei ausgeschlossen!
Während der Jüngere, dessen ‚Milchgesicht’ so gar nicht zur Würde dieses hohen Amtes passen will, eine betretene Miene aufgesetzt hat und uns mit verstörtem Klerikerblick anschaut, hat der Ältere den Kopf zur Seite gedreht, als wolle er jedem Kontakt aus dem Wege gehen und nichts anderes tun, als in seinem Frust, seiner Unzufriedenheit und in seiner Skepsis zu 'schmoren'; diese hat unübersehbare Spuren in seinem Gesicht hinterlassen: weit heruntergezogene Mundwinkel, tief eingegrabene Furchen und angstmachende Augen in finsteren Höhlen - abstoßend, boshaft und in ihrer kalten Verschlagenheit ohne erkennbares Zeichen für einen Gesinnungswandel oder eine innere Umkehr.




Isoliert vom übrigen Geschehen haben sich Vertreter der vier großen Ordensgemeinschaften zu einer eigener Beratung, zu einem Consilium clandestinum, zurückgezogen. Die offizielle Kirchenlehre mit ihren dogmatischen Definitionen scheint ihnen theologisch zu gewagt und spekulativ zu ‚hochgepusht’, so dass berechtigte Zweifel bestehen bleiben: Soll Christus nach der Wandlung wirklich in spiritualer, d.h. geistförmiger Daseinsweise anwesend sein? Macht es Sinn, zwischen substantia (Substanz, bestehend aus Materie und Form) und species (auch Akzidens genannt, also die Gestalt, Zustandsform bzw. die spezifische Eigenart einer Sache oder eines Stoffes) zu unterscheiden? Wem ist schon bewusst, dass er, wenn er Christus unter der Gestalt des Brotes empfängt, den „Herrn sakramental“ empfängt? Wie lässt sich seine Vielörtlichkeit begründen, dass er also bei den täglichen Messfeiern rund um den Globus an vielen Orten zur gleichen Zeit gegenwärtig ist? Und schließlich: wie kann es sein, dass Christus nach dem Brechen des Brotes in jedem einzelnen Teil ganz gegenwärtig ist? Hilft in diesem Fall die Begründung mit dem zersprungenen Spiegel weiter, in dessen Teilen sich immer die gleichen Bilder zeigen?
Fragen über Fragen, die die hier zum ‚Stehkonvent’ versammelten Mönche in intimer Runde miteinander erörtern. Sie suchen nach einer einfachen Antwort, nach einer universalen Formel, die befreit von allem theologischen Ballast und allem dogmatischen ‚Kleinklein’ sich nur auf das Eigentliche, das Proprium der Eucharistie beschränken will – schnörkellos und für jeden nachvollziehbar. Wieso sollte man sich nicht darauf verständigen, dass das Sakrament vom Leib und Blut Jesu Christi die Mitte einer jeden christlichen Gemeinschaft ist, die sich zum Tod und zur Auferstehung des Gekreuzigten bekennt und mit dem Empfang des Abendmahles die Allgegenwart Gottes bezeugt - jetzt, heute und bis ans Ende der Zeiten. Christus vincit, Christus regnat, Christus imperat - wer diesen wunderbaren gregorianischen Choral einmal in einer Kathedrale hören durfte, begleitet vom sich vielfach brechenden Schall einer mächtigen Orgel, der wird mir bestätigen, dass es kaum ein anderes vergleichbares Gesangstück gibt, das die Anwesenheit Gottes so in die Gegenwart holt, so manifest werden lässt wie es in diesen Akklamationen geschieht. Ihnen liegt ein Klangerlebnis von Einmaligkeit zugrunde, das den Glauben an die 'Omnipräsenz' sinnlich erfahrbar macht, die Hoffnung in Gewissheit und das Ungeheure ins Ereignis wandelt, weil die nicht zu beweisende, aber doch tief aus dem Herzen herbeigesehnte Antreffbarkeit Gottes sich hineinsenkt in zeitliche Greifbarkeit.
Als Wortführer in diesem Kreis ist links der gedrungen wirkende Franziskanermönch mit der damals so typischen Tonsur und im unverwechselbaren Habit seines Ordens auszumachen. Gestenreich und emphatisch trägt er seine Bedenken vor und zwingt die Zuhörer, seinen Worten mit höchster Aufmerksamkeit zu folgen: so rechts von ihm den Benediktinerabt mit Mitra, von Raffael im Seitenprofil dargestellt. Sein scharf geschnittenes Gesicht, das Selbstdisziplin und Kontemplation zu einem edlen Antlitz geformt haben, wirkt vergeistigt; und förmlich greifbar wird die Aura der Unnahbarkeit, die ihn umgibt. Seine weit aufgerissenen Augen sind starr auf sein Gegenüber gerichtet, und ohne es auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen, saugt er dessen Thesen gierig in sich hinein.
Neben ihm ein Augustiner-Eremit, aber ein ‚Typ’ ganz anderen Formats – mit väterlicher Ausstrahlung und gewinnender Sympathie. In seiner Rechten führt er einen Stab, und eingehüllt ist er in ein weißes Gewand, zu dem auch ein langes, breites Tuch gehört, das den Kopf halb verdeckend als Schleier auf die Schultern herabfällt. Hinter seinem wallenden Bart verbirgt sich ein Gesicht voller Güte und Weisheit, und in der Attitüde eines Mystikers – mit gesenktem Blick und in sich gekehrt - wägt er jedes der gesprochenen Worte ab.
Und der Vierte im Bunde ist ein Dominikaner, der sich aber nicht unmittelbar am Disput beteiligt, sondern als ‚stummer Zeuge’ mit ernster Miene und unbewegtem, ja fast versteinertem Gesicht den lebhaften Gedankenaustausch verfolgt.




Ich komme jetzt zur letzten Figurengruppe, die sich am äußeren linken Bildrand und in gebührendem Abstand zum Zentralgeschehen um einen Intellektuellen, den Zenit seines Lebens längst überschritten, versammelt hat: kahlköpfig bis auf einen schäbigen Rest ungepflegter, strähniger Haare, aber mit wachem Geist und leuchtenden Augen. Trotz der Übermacht kirchlicher Gelehrter und Würdenträger lässt er sich nicht einschüchtern, sondern er stellt sich der Herausforderung, mit den Mitteln der Vernunft und im Vorgriff der heranziehenden Aufklärung gegen die Phalanx der großen Geister anzutreten und seine Kritik Punkt für Punkt vorzutragen. Er hat seine Gründe genau zu Papier gebracht und in einem mehrseitigen Werk festgehalten, das er – aufgestützt auf dem Sims einer mamornen Brüstung – vor sich aufgeschlagen hat. Wie das Konzil von Trient seine dogmatischen Entscheidungen der Nachwelt als Dekrete hinterlassen hat, genauso hat er seine Argumentationskette ‚aufgezogen’, die er jetzt glühend vor Leidenschaft und sprühend vor Selbstbewusstsein Artikel für Artikel abarbeitet.



Und er findet ein dankbares Publikum! Links ein wissbegieriger junger Scholar in einer leichten Tunica aus feiner Seide in changierenden Türkistönen mit einer goldfarbenen Stola darüber, und seine Haarpracht ‚gebändigt’ unter einem Tuch aus dünnem Stoff mit goldenen Streifen durchsetzt und zu einem Knoten gebunden: er kann seine Neugier kaum zügeln, und über die Schulter des streitbaren Kritikers gebeugt, deutet er mit dem ausgestreckten Zeigefinger der rechten Hand auf die entscheidende Textpassage, durch die das Gedankengebäude der Kirche zum Einsturz gebracht werden soll.




Schon ist der Funke der Begeisterung auf die männliche Figur schräg hinter ihm übergesprungen. Getrieben von Neugier und der Lust am intellektuellen Experiment, ist er sogleich gefesselt von der Botschaft dieses unerschrockenen Aufwieglers, der den Mut hat, sich gegen die Monopolisierung des Denkens, wie sie die Kirche betreibt, aufzulehnen, der niemandem vertraut, sondern nur der eigenen Stimme und dem analytischen Scharfsinn seines Verstandes folgt. Da haben sich wirklich zwei Seelenverwandte getroffen, die sich verhalten wie Verführer und Verführter, wobei der Letztere genau die Eigenschaften mit sich bringt, die ihn dazu prädestinieren, diesen Part zu übernehmen: er lässt sich mitreißen vom Elan der Rede, von der unwiderstehlichen Kraft der Argumente, Geist und Herz öffnen sich, dankbar nimmt er die Anregungen in sich auf, und ohne ihn daran hindern zu können zieht es ihn zum Chor der Kritiker, um gemeinsam mit ihnen die Reihen zu schließen und gegen die Großmacht der Kirche vorzugehen – Momentaufnahme eines Heißsporns, der die geistige Herausforderung sucht, und dem Raffael ein Gesicht gegeben hat, das Spiegel seines ungestümen Temperaments ist. Dazu passt das rötlich-‚vossige’ Haar, das mit seinen unzähligen Locken und Kräuseln das vorspringende Kinn und den nach hinten geneigten Kopf ziert und ihm einen Hauch von Wildheit verleiht, dazu passen der leicht geöffnete Mund, die lang gezogene Nase, der gesenkte Blick und die in Falten gelegte Stirn. Unwillkürlich muss ich an so manche meiner alten Lehrer zurückdenken, die sich mit eben dem gleichen Gesichtsausdruck lautlos von hinten heranschlichen, während wir Schüler über einer schriftlichen Aufgabe 'brüteten' und auf die rettende Idee, die 'Erleuchtung' warteten. Noch heute spüre ich ihre physische Nähe und ihren prüfenden, sphinxartigen Blick, der jetzt noch - nach weit über vierzig Jahren! - unangenehme Erinnerungen wachruft, und der mich damals instinktiv dazu verleitete, auf Distanz zu gehen, weil diese Form der Kontrolle in mir ein Gefühl von Unbehagen, von Freiheitsbeschränkung erzeugte und mich in meinen Überlegungen mehr störte als förderte. Oder wenn einer dieser Herren aus dem 'Panoptikum der Asse' beflissentlich den Kopf durch die Klassentür steckte, um nach dem Rechten zu sehen, mit Kennerblick die Lage abschätzte und stumm die Frage zu stellen schien: "Ist alles in Ordnung bei Euch? Oder gibt es vielleicht doch etwas, worüber ich besser Bescheid wissen sollte?"
Wie der junge Scholar so trägt auch der andere, hellhörig gewordene Sympathisant ein Bekleidungsstück aus zwei Teilen: ein rot farbenes Unterkleid, über das er einen grünen Überwurf geschlungen hat, bestehend aus einfachem Material und mit einer Scheibenfibel(Gewandnadel) auf der Schulter verschlossen. Weil er kaum glauben kann, wie messerscharf und gedankenhell – nur der Stimme seines Gewissens gehorchend – der kahlköpfige Querdenker der amtlichen Kirchenlehre und der von ihr ausgelösten Eucharistiefrömmigkeit widerspricht, so hat er sich, den Oberkörper leicht verdreht, den geblößten Unterarm abgewinkelt und die Finger der rechten Hand so eben gespreizt, auf die Zehen gestellt, den Hals gestreckt und den Kopf in den Nacken gebeugt, um so über den Kopf des Agitators hinweg einen besseren Einblick in den aufgeschlagenen Text zu gewinnen. Und da steht es schwarz auf weiß: es gibt keine wesensverändernde Umwandlung der beiden Gestalten von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi; die beiden Elemente bleiben, was sie sind und was sie immer waren. Folglich ist die angenommene spirituelle Realität reine Fiktion, die sich auch nicht zum Geheimnis verklären lässt durch die Behauptung, sie könne nur glaubend, aber nicht verstandesmäßig erfasst werden, da sie sich sinnlicher Wahrnehmung entzieht.

Gerade die letzte Erklärung ist es, die ihn innerlich aufwühlt: er will sich damit nicht zufriedengeben, er will das ‚mysterium fidei’ hinterfragen, wenn nötig demaskieren und ihm die Aura des Geheimnisvollen nehmen. Alle noch so gut gemeinten Erklärungsversuche, Bezeugungen, Abhandlungen, kirchenamtliche Äußerungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Laufe der Jahrhunderte ein weit verzweigtes und vielschichtiges Netzwerk von Spekulationen aller Art und von Projektionen tief im Herzen angesiedelter Wunschvorstellungen entstanden ist, die übernatürliche Vorgänge Realität werden lassen, wenn man nur fest an sie glaubt. Als kritischer Kopf weiß unser Querdenker nur zu gut, dass die Kirche als elitäre Institution einer ständisch-feudalen Ordnung darauf achtet, ihre Macht zu erhalten, Normen zu setzen und durchzusetzen. Es wundert ihn also nicht, dass sie die Sakramente für ihre Zwecke instrumentalisert, und dass sie als Hüterin göttlicher Offenbarung wie selbstverständlich für sich das Recht herausnimmt, übernatürliche ‚Wahrheiten’ zu verkünden und damit verbunden Heilsangebote bereitzustellen, die nach ihrem Verständnis zur Teilnahme am Leben Gottes berechtigen. „Wer an den Sohn glaubt, hat das ewige Leben“, so heißt es im Johannesevangelium – eine Aussage, auf die sie sich gerne beruft, wenn es darum geht, sich als Vordenkerin zu positionieren und die ‚gottunmittelbare’ Wirksamkeit der Sakramente - das höchst umstrittene opus operatum - aus dem Willen Gottes selbst abzuleiten, der für sie Ursache (prima causa) und Urheber (auctor principalis) zugleich ist. Auch wenn es keinen Grund für einen Automatismus gibt, so sieht sie doch eine Verschränkung von menschlichem Vertrauen und göttlichem Wohlwollen, in der Sprache der Theologie auch Gnade genannt, die ja immer - vorausgesetzt, dass sie ohne Zwang von außen und in absoluter Freiheit vollzogen wird – eine Bewegung von oben nach unten meint, ein Sich-Herablassen eines Höheren zu einem Niederen.
Obwohl kein Rechtsanspruch auf Gnade besteht, so ist sich die Kirche von ihrem dogmatischen Verständnis her sicher, dass der ‚würdige’ Empfang der Sakramente die Vermehrung der Gnade bewirkt, und bezogen auf unseren speziellen Fall, die Eucharistie, bedeutet das die innige Vereinigung mit Christus selbst – die unio cum Christo-Deo - , der sich in der Kommunion in jeden Einzelnen von uns hineinbegibt. „Ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir.“ (Gal 2, 20)
„Aber“, so ruft es aus dem Feuerkopf heraus, „wo bleiben die Beweise? Wo wird das sichtbar? Was nützt der stärkste Glaube, das glühendste Bekenntnis, wenn die Behauptungen nicht für jedermann nachprüfbar sind, wenn die Fakten fehlen? Die Kirche läuft Gefahr, nicht verstanden zu werden und ihren Kredit zu verspielen, und sie muss sich davor hüten, dass ihre Verkündigung zu einer geheimnisvoll-verschlossenen Lehre für Eingeweihte verkümmert, die ihr nur deshalb die Treue bewahren, weil sie sich nicht trauen, ihre alten Gewohnheiten aufzugeben, und lieber autoritätshörig an den von ihr vertretenen Ideen und Normen festhalten und durch ihr Wohlverhalten auf die zu erwartende Belohnung spekulieren.“




Aber vom Genius dieses ‚Stürmers und Drängers’ lassen sich nicht alle gleichermaßen berühren und eingefangen. Einige gehen deutlich auf Distanz, so auch ganz außen am linken Bildrand – noch halb verdeckt durch den mit Stuckarbeiten ornament- und figurenreich geschmückten Stützpfeiler des gewaltigen Rundbogens – der Dominikaner und Maler Fra Angelico aus dem Kloster San Marco in Florenz, das ja schon lange seine ursprüngliche Bedeutung als feste Bleibe, als stabilitas loci für Ordensleute verloren hat, sondern jetzt als Museum für sakrale Kunst eingerichtet ist. Ich habe vor gut 20 Jahren zusammen mit meiner Frau die permanente Ausstellung in diesem ehemaligen Konvent mit seinen zwei lichtdurchfluteten und zugleich schattenspendenden Kreuzgängen besucht, um einmal das berühmte Porträt Savonarolas – eine meisterhafte Arbeit des Fra Bartolommeo – im Original zu sehen, bei dessen Anblick ich immer noch das heiße Blut dieses ‚Ketzers von San Marco’ in den Adern zu strömen glaube, zum anderen die Fresken und Tafelbilder des Beato Angelico, die man lange genug auf sich wirken lassen muss, um sie in ihrer ‚engelsgleichen’ Schönheit, in ihrer schlichten Einfalt, ja Naivität zu verstehen. Sie sind Abglanz seiner tiefen Frömmigkeit, Ausdruck seiner unendlichen Gottesliebe. Das Gesetz der Harmonie hat bei ihm oberste Priorität, ihm hat er alles untergeordnet: die Farben, das Licht, die Personen und die Staffage. Je länger ich vor seiner Kunst verweile, desto tiefer dringe ich in die phantastische Welt ihrer Bilder ein, desto flüchtiger auch, desto wirklichkeitsentrückter erscheinen sie mir, als erzählten sie himmlische Gleichnisse, durch die jetzt schon die unvergängliche bellezza del paradiso, die Schönheit des Paradieses, hindurchleuchtet – so eine zeitlose Ruhe und Gelassenheit verströmen sie.
Auch in der Disputà des Raffaelo scheint Fra Angelico, der vielleicht größte Maler des Quattrocento, über den Dingen zu schweben, die Niederungen der theologischen Kontroversen sind nicht sein Milieu. Von der Kraft des Glaubens durchdrungen und von einer Aura tiefer Frömmigkeit umgeben schaut er hinauf in den Himmel, der sich für ihn weit geöffnet hat, und wo sich ihm das Geheimnis der Trinität in seiner ganzen Herrlichkeit enthüllt.
 
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VIELEN DANK

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für Deine Ausführungen

( die ich eben leider nur überfliegen konnte - aber, das "richtige Lesen" wird nachgeholt und ich freue mich schon darauf ...)
 
es ist schon erstaunlich welche Inhalte dieses bekannte Bild offenbaren hat. Vielen Dank für diese sehr gelungene Schilderung. Ich bin schon gespannt auf die Fortsetzung.
 
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