Vatikan/Papst: Michelangelo seit 499 Jahren in der Sixtina

Danke für den Hinweis!

Sixtinische Kapelle
Sie war schon gut gefüllt, aber nicht überfüllt. Wir setzten uns zunächst auf einer der steinernen Seitenbänke und ließen ersteinmal diesen geschichtsträchtigen Raum auf uns wirken. Dottore war 1990, während der Renovierungsarbeiten, das letzte mal in der Sixtina und konnte damals nur einen kleinen Teil der Malereien Michelangelos bewundern. Wir waren von der Farbenpracht des Jüngsten Gericht und der Erschaffung der Welt tief beeindruckt. Aber wir nahmen auch die beiden Freskenzyklen an den Seitenwänden wahr. Sie entstanden vor den Malereien Michelangelos. Diese Zyklen nahmen uns unerwartet in den Bann. Sie zeigen auf der einen Seite Szenen aus dem Alten Testament, genauer gesagt sind es Darstellungen aus den Mosesgeschichten. Auf der anderen Seite sieht man Begebenheiten aus dem Neuen Testament. Diese zwei Zyklen korrespondieren miteinander. Bei der Deutung der Bildern aus dem Alten Testament taten wir uns schwer, obwohl wir ja Profis sind. Diese Bilder fand Michelangelo vor, als er sein Deckengemälde begann. Auf dem ersten Blick könnte man meinen, dass diese beiden Zyklen in keinem Zusammenhang mit den Malereien Michelangelos stehen. Aber dem ist nicht so. Eine sehr schöne Deutung der Sixtinischen Malereien findet sich bei Reinhardt Raffalt. Ich zitiere:

"Dies ist es, was Michelangelo vorfand, als ihn Julius II. den Entschluß abrang, sich der Decke zu bemächtigen. Wenn wir heute den Eindruck des Deckenfreskos mit den bescheidenen Arbeiten der sixtinischen Maler vergleichen, dann scheint uns kaum ein Zusammenhang zu bestehen. Doch verdanken wir der Tatsache, daß in der Sixtina der Gedanke von der Zeit des Gesetzes und der Zeit der Gnade schon an den Wänden lebte, die Inspiration Michelangelos, die Geschichte der Schöpfung auf das Gewölbe zu bannen. Was in der Welt vor sich ging, als sie einmal geschaffen war, das fand Michelangelo an den Wänden angedeutet. Welche Kräfte es bedurfte, bis es dahin kam, war sein Thema für die Decke. Und als er dreiundzwanzig Jahre später das Jüngste Gericht begann, war es in der Thematik der Sixtinischen Kapelle nur der Schlußgedanke eines von Anfang an bestehenden großen Konzepts. Mit brausender Gewalt löst am Himmel oben der Schöpfer der Welt aus dem Nichts, in der bescheidenen Zeitlichkeit der Geschichte vollzieht sich an den Wänden die Entwicklung des Heiles, und mit titanischer Kraft stellt der neue Adam an der Stirnwand der Sixtina die Ordnung der Welt endgültig her. Sechzig Jahre, ein volles Menschenalter, waren notwendig, um den Gedankenring der Sixtina zu schließen, das Maß eines Menschenlebens war erforderlich, um zu zeigen, worum es in der Kapelle der Päpste geht. Das Thema der Sixtina heißt: der Mensch."
Reinhard Raffalt: Cantana Romana, Prestel Verlag, München, 1977, S. 109 f.

Zwei Stunden lang hielten wir uns im schönsten Wahllokal der Welt auf und verließen es etwas
wehmütig.

Danke Michelangelo!

In tiefer Hingebung vor diesem Kunstwerk
Padre
 
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