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Heute Nachmittag wollen wir ein wenig durch die abgelegeneren Calli Venedigs streifen, abseits von Trampelpfaden der Tagestouristen, die ja nichts dafür können, dass sie die "posti nascosti" nicht entdecken.
Das Vaporetto nehmen wir am Anleger Sant'Angelo gegenüber des Palazzos Barbarigo della Terrazza –
nomen est omen, die Glücklichen des Deutschen Studienzentrums, die dort ihren Arbeits- und Wohnplatz haben. Auch „Brunettis“, bzw. das, was man davon in den TV-Filmen zu sehen bekommt, Familienleben spielt sich dort – wie manche meinen oder nach anderen Aussagen in der Nachbarschaft rechts von der großen Terrasse - ab. Die Lage ist auf jeden Fall grandios.
Weiter geht es entlang der Palazzi-Perlen –
hier die Ca' d'oro,
dort der Palazzo Vendramin-Calergi
mit dem Casino (Schauplatz eines der neueren Brunetti-Tatorte) – aber genau so sehenswert und wunderschön die kleinen „Hinterhöfe“
hinter San Marcuola auf unserem Weg zum Ghetto.
Die Juden in Venedig hatten ihr abgeschlossenes Wohngebiet auf einer Insel zugewiesen bekommen, auf der früher eine Gießerei war und die Eisengießer arbeiteten. Vermutlich stammt daher der Name Ghetto, der später allgemein auf die Wohnviertel der Juden übertragen wurde: aus „getto“ wurde „ghetto“. Bereits Anfang des 15. Jh. taucht dieser Begriff in Venedig auf. Die Tore des Ghettos wurden jeden Abend geschlossen und bewacht, die Kosten dafür mussten selbstverständlich die Bewohner tragen. Nur Ärzte, ein angesehener Berufsstand, durften – unter genauer Angabe zu welchem Patienten sie unterwegs waren – nachts das Ghetto verlassen.
Über 5000 Juden mussten auf engstem Raum zusammenleben. Das hieß hoch hinaus bauen – das Ghetto hatte durchweg mehrstöckige Häuser, zum Teil bis acht Stockwerke, die Zimmerhöhe soll jedoch denkbar niedrig gewesen sein. Auf dem weiten Campo di Ghetto Nuovo hat man davon noch einen guten Eindruck.
An die deportierten und ermordeten Juden während des Faschismus und unter deutscher Besatzung erinnern Bronzereliefs des litauischen Bildhauers Arbit Blatas.
Eindrucksvolle Bilder von Deportation, Zwangsarbeit, Hinrichtung und „Der letzte Zug“. Auch das ist Venedig zum Schauen und Fühlen.
Heute leben nur noch wenige Juden direkt im Ghetto-Bezirk, es gibt koschere Geschäfte, eine Bäckerei für die Matzenherstellung, ein kleines Museum und in einem Wohnhaus eine Synagoge sowie eine Casa israelitica di riposo, ein Altersheim.
Auf dem Campo di Ghetto Nuovo spielen Kinder und halten Alte ihre Siesta unter der Aufsicht von bewaffneten Polizisten. Eine eigene Welt, in der einem überall der Davidstern und hebräische Schriftzeichen begegnen.
Auf unserem Spaziergang durch Cannaregio können wir auch an den kleineren Rii schöne, wenn auch einfachere, Palazzi sehen, an denen man gut ablesen kann, wie sie aufgebaut waren:
unten der Eingang vom Kanal aus mit der Halle und Lager- und Wirtschaftsräume, darüber im Zwischengeschoss die Büros, dann der Piano nobile mit Repräsentationssaal und Loggia oder Balkon zum Kanal hin, auf diesem und dem darüber liegendem Stockwerk waren die Privaträume der Kaufmannsfamilie, die Bediensteten waren im Dachgeschoss untergebracht wo sich oft auch die Küche befand. Lieber nicht darüber nachdenken, wie sich die Arbeitsbedingungen für die Bediensteten darstellten.
Auf dem Weg zum Campo dei Mori kommen wir am Haus mit den vier Männerstatuen vorbei, orientalische Kaufleute könnten sie darstellen, wahrscheinlich befand sich hier der Fondaco degli Arabi, das Handelshaus der Araber.
Die Vier sind orientalisch gekleidet mit Turban und wallenden Gewändern und von einem weiß man sogar noch den Namen: Sior Antonio Rioba,
ein levantinischer Händler mit einer Eisennase, an die anonyme Botschaften gegen die Obrigkeit angeheftet wurden – also eine sogenannte „sprechende Statue“ in Venedig.
Gleich um die Ecke befindet sich das Wohnhaus in dem Jacopo Robusti, Sohn eines Wollfärbers – also „das kleine Färberlein“, der große Tintoretto mit seiner Familie bis zu seinem Tode gelebt hat.
Gesehen haben wir sie schon beim Überqueren den Kanals: eine der schönsten gotischen Kirchenfassaden Venedigs - Madonna dell'Orto.
Dieses Juwel unter den Kirchen der Stadt ist benannt nach der Marienstatue, die im benachbarten Gemüsegarten gefunden wurde und hier ihre Verehrung findet.
Die Kirche Madonna dell'Orto beherbergt einen reichen Schatz an Gemälden. Sie war Tintorettos Pfarrkirche, in der er auch bestattet ist, und für sie malte er verschiedene großflächige Gemälde: das „Jüngste Gericht“ und den „Tanz um das Goldene Kalb“ und besonders anrührend
"Marias Tempelgang".
Einen weiteren Schatz aus Madonna dell'Orto kann man nicht mehr bewundern:
Bellinis "Madonna mit Kind" wurde in der Nacht zum 1. März 1993 bei einem Diebstahl brutal aus dem originalen Rahmen herausgebrochen und ist seitdem verschollen. Es ist fast leiccht makaber, an diesem Ort nur eine Fotokopie des Tafelbildes zu sehen.
Und noch einmal ein schönes Beispiel für einen Palazzo am Canale: der frühgotische Palazzo Mastelli,
mit hübschen Kamelfiguren geschmückt, was – bei der Nähe zum ehemaligen Fondaco degli arabi nicht verwunderlich – darauf schließen lässt, dass gute Handelsbeziehungen der Familie Mastelli in den Orient bestanden.
Wir laufen an der Sacca della Misericordia entlang, dort wo sie als Marina für kleinere Boote dient – der Blick geht hinüber zur Friedhofsinsel San Michele –
und kommen an die – wieder einmal verrammelte – Chiesa dell'Abbazia della Misericordia und die gleichnamige Scuola vecchia und nuova,
einst Sitz der Bruderschaft der „Barmherzigen“, in unseren Zeiten Sporthalle und Drehort für „The Tourist“ mit Johnny Deep und Angelina Jolie – die Stefano Nicolao, der Kostümschneider, bei der Arbeit am Set als „einfach nur zickig“ titulierte. Aber werfen wir noch einen Blick auf den schönen
Pozzo auf dem Campo dell'Abbazia
und das Hofpflaster im Fischgrätmuster, wie es auch vor Madonna dell'Orto zu finden und eines der seltenen Beispiele der noch alten venezianischen Pflasterung ist.
Und wieder enge Calli, kleine Rii mit Brücken
– wie hier die einzige der Stadt, die kein Geländer hat -, treppauf treppab – an Kanälen entlang, deren Wasserlauf abgetrennt worden ist und die ausgebaggert werden, um von Schlamm und Abfall gereinigt und gleichzeitig ausgebessert werden zu können. Wie auch die Fundamente der am Kanal liegenden Häuser kontrolliert und verstärkt werden. Arbeiten, die immer wieder an den Kanälen notwendig sind. Vorteil für uns: eine zusätzliche (hölzerne) Brücke über dem wasserlosen Kanal. Am Palazzo ist eine Überwachungsanlage angebracht worden, damit keiner über das Gerüst einsteigen kann. Und wie schön sind die unterschiedlichen – auch witzigen – Türklopfer.
Streifzüge durch unbekanntes Venedig,
bis wir wieder in belebtere Gegenden kommen mit anderen Aussichten, auf Schönes und Teueres,
und wir bei einer Ruhepause im Hotel die vielen schönen Eindrücke – vor dem letzten Abendessen in Venedig – noch einmal Revue passieren lassen können.
Ein kleiner Nachtspaziergang an diesem letzten Abend in Venedig schließt dann den Tag ab:
San Trovaso liegt verlassen, die Boote sind an den Kanalmauern vertäut und schaukeln sachte,
die Palazzi spiegeln sich bis zum obersten Stockwerk, so ruhig ist das Wasser in den Kanälen, ausgebreitet wie ein nachtblaues Seidentuch
... Nachtstille – wir kommen an der Kirche I Carmini vorbei,
kaum ein anderer Nachtspaziergänger ist hier unterwegs. Abschiedsstimmung klingt an, auf der Rückfahrt mit dem Vaporetto, den Canal Grande hinab ...