Moderne im Schatten: Die Audienzhalle Pier Luigi Nervis im Vatikan

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Über den Autor Conny Cossa, geb. 1981 in Meran, liest man auf der Verlags-Website: „(…) hat Kunstgeschichte, Architektur sowie Bühnen- und Filmgestaltung in Wien und Rom studiert. Er arbeitet freiberuflich als Kurator und Ausstellungsgestalter u.a. für das Jüdische Museum Wien, das Jüdische Kulturzentrum Graz und das Stadtmuseum Meran."

Cossa wirft nahezu 50 Jahre nach der Einweihung (am 30. Juni 1971) einen umfassenden Blick auf die vatikanische Audienzhalle: detail- und kenntnisreich, teils auch mit feinem Humor. Insgesamt ist die Darstellung sehr gut lesbar und wird vorteilhaft ergänzt durch zahlreiche Abbildungen. Allerdings sei nicht verschwiegen, dass ich Moderne im Schatten erworben habe im Zuge einer Rabatt-Aktion des Verlages für 10,- €, was gerade mal einem Drittel des Ladenpreises entspricht.

Dass man sich unter dem „Schatten“ im Buchtitel den des Petersdoms vorzustellen hat, dürfte wohl für jeden Leser hier auf der Hand liegen. Dass darüber hinaus teilweise die Ansicht vertreten wurde, es stehe evtl. zugleich Pier Luigi Nervi im Schatten Michelangelos, thematisiert Cossa auf S. 164.

In diesem Kontext einige weitere schlaglichtartige Beurteilungen:
Aufgrund von Nervis Mitarbeit nur als Ingenieur (hingegen Architekt war Marcello Piacentini) am Palazzo dello Sport im EUR-Viertel wurde ihm die Übernahme des Bauauftrags für die Audienzhalle von einigen Seiten als Anmaßung ausgelegt; das Spottwort "Sportpalast-Architekt" machte die Runde (S. 214). Auch z.B. Giulio Carlo Argan, Kunsthistoriker und erster kommunistischer Bürgermeister Roms (1976-1979), sagte 1955 über Nervi: "ein reiner Techniker, ein Ingenieur“ (S. 55).
Andererseits jedoch genoss sein Schaffen die große Bewunderung, bis hin zur Begeisterung, von Le Corbusier (S. 199). In krassem Gegensatz dazu steht die Kritik des "Hieronymus" (Vatikan intern von Hieronymus, Stuttgart 1973; vgl. dazu hier, Anm. 5: "[...] dass zwei Autoren, die den Vatikan aus eigener Anschauung kannten, 1973 […] unter dem Pseudonym 'Hieronymus' ein Büchlein mit dem Titel 'Vatikan intern' veröffentlichten") an der Audienzhalle: eine "Mischung aus moderner Show-Hall, Sportpalast und Parteitagsgebäude“ (S. 47).

Entstehungsgeschichte und Bau der Audienzhalle beschreibt Cossa im Wesentlichen anhand folgender Grundzüge:

Wichtigste Voraussetzungen waren die sehr aufgeschlossene Einstellung Papst Pauls VI. gegenüber der modernen Kunst (S. 14 ff.) sowie die durch das Vatikanum II geforderte „Volksnähe“. Das Konzil wurde dadurch zum „Generator der Audienzhallen-Idee“ (S. 60 f.). Auch die Planung der Aula minor als Tagungsort für die 1967 erstmals einberufene Bischofssynode geht auf Konzilsvorgaben zurück. Cossa widmet diesem Saal sowie weiteren Räumen für Zusammentreffen im kleineren Kreis ab S. 116 eine interessante Darstellung.

Auf S. 58 ff. gibt der Autor einen Überblick zur Entwicklung der Papstaudienzen von Pius XI. zu Paul VI. und erklärt, in welcher Weise sich das Audienzhallen-Konzept an den geänderten Abläufen orientierte.

Maßgebliche Konstruktions-Grundlagen bildeten der von Nervi entwickelte Ferrocemento (= Eisenbeton) und Nervis Methode des Arbeitens damit, nämlich unter Verwendung vorfabrizierter Elemente (S. 29).

Das wichtige Kapitel „Vorbilder/Vorgängerbauten“ beginnt auf S. 65.

Als Negativ-Beispiel stand Nervi die Audienzhalle in Castel Gandolfo vor Augen: 1959 eröffnet, aber wegen mangelnder Praktikabilität nur bis Mitte der 1970er Jahre in Gebrauch. Ab dann flog Paul VI. per Helikopter nach Rom, um die Audienzen dort abzuhalten (S. 80 ff.).

Auf S. 87 ff. erschließt uns der Autor wesentliche Aspekte der Audienzhalle wie vor allem die Standortwahl (es dürfte ja manchem von uns hierzuforum bekannt sein, dass ersten Überlegungen zufolge auch ein Teil des Campo Santo bebaut werden sollte … horribile dictu!)

Bekanntschaft mit dem sog. Fungo macht der Leser auf S. 139. Ein Gebilde, das er als normaler Romreisender wohl niemals zu Gesicht bekommen wird. Denn es handelt sich um die Überdachung des Eingangs für den Papst auf der Westseite der Audienzhalle, d.h. zur Casa Santa Marta hin. Cossa schreibt, der Fungo sei „wie das Schirmchen auf einem Eisbecher: funktional nicht unbedingt notwendig und ästhetisch fragwürdig. Paul VI. hatte den päpstlichen Baldachin abgeschafft, Nervi baute ihm einen neuen“.

Schließlich erfährt man auf S. 173 ff. wesentliche Fakten zur künstlerischen Ausstattung der Audienzhalle, darunter Wissenswertes bzgl. der Dominanz Nervis über die ausführenden Künstler. Nicht nur durfte Janos „Giovanni“ Hajnal lediglich die Scheiben der ovalen Fenster beisteuern, um damit das durch Nervi vorgegebene Maßwerk auszufüllen – sondern es war sogar schon Jahre zuvor Pericle Fazzini mit einem Entwurf beauftragt worden, den Nervi jedoch ablehnte. Ferner wusste er auch das Angebot von keinem Geringeren als Marc Chagall zu verhindern. Begründung: "Wahrscheinlich wäre dadurch ein schwer verständliches Rätsel entstanden, das zu lösen den Betrachter die Gelegenheit hätte versäumen lassen, welche einzig aus Wort und Sicht des heiligen Vaters erwachsen sollte." (S. 179). – Man wird allerdings, ohne Nervi der Unwahrhaftigkeit bezichtigen zu wollen, wohl nicht fehlgehen in der Annahme, dass er sehr genau wusste: Seinem Diktat bzgl. der Ausführung hätte ein Chagall sich keinesfalls unterworfen.

Pericle Fazzini erhielt (sozusagen „ersatzweise“, s. oben) den Auftrag, für die Papst-Tribüne die Skulptur „Resurrezione“ zu schaffen, welche die Auferstehung Christi aus dem Bombenkrater einer Nuklearexplosion zeigt (S. 183 ff.). Als drittes Kunstwerk kam 2003 Floriano Bodinis Büste Pauls VI. hinzu (S. 190 f.).
 
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Vielen Dank für die informative Buchbesprechung! So kann man sich ein gutes Bild von dem machen, was einen bei der Lektüre erwartet und besser entscheiden, ob das Buch zur Anschaffung für die persönliche Rom-Bibliothek in Frage kommt.
 
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