- Rom-Reise
- 17.12.2024-20.12.2024

Caravaggio-Kunstraub in Palermo: Offene Wunde, heilende Kunst
Aus einer Kirche in Palermo wurde 1969 ein Caravaggio-Gemälde gestohlen. Jährlich an Heiligabend wird an seiner Stelle ein neues Kunstwerk enthüllt.

Dreieinhalb Jahrhunderte lang, von etwa 1610 bis zu einer regnerischen Oktobernacht in den späten 1960er Jahren, beherbergte der Kirchenbau eines der wenigen Gemälde von Caravaggio auf Sizilien: „Die Geburt Christi mit den Heiligen Laurentius und Franz von Assisi“. Am 17. Oktober 1969 hatte jemand das gut drei Meter hohe und zwei Meter breite Kunstwerk vom Altar entwendet, ohne Spuren zu hinterlassen.
Es wurde nie wiedergefunden. Michelangelo Merisi da Caravaggio war schon zu Lebzeiten eine Legende und hinterließ keine 200 Gemälde, als er 1610 im Alter von 38 Jahren starb, weshalb er auf dem Kunstmarkt besonders begehrt ist. Das FBI listet den aus dem Oratorio gestohlenen Caravaggio derzeit auf Platz zwei der meistgesuchten Kunstwerke weltweit, gleich hinter den 7.000 bis 10.000 Artefakten aus archäologischen Sammlungen im Irak, die im März 2003 beim Einmarsch der US-Truppen in Bagdad und dem Sturz Saddam Husseins geplündert wurden.
Mehr als fünfzig Jahre nach seinem Diebstahl sind der Verbleib und der Zustand des Caravaggio noch immer ein Rätsel, auch wenn man annimmt, dass die sizilianische Cosa Nostra in den Fall verwickelt ist. Unzählige widersprüchliche Aussagen von Mafia-Informanten wurden im Laufe der Jahre gesammelt: Manche sagten aus, das Gemälde sei in Scheiben geschnitten und an Schweine verfüttert oder als Fußmatte verwendet worden.
2017 tauchte zum ersten Mal der Name des Mafiabosses Gaetano Badalamenti in Zusammenhang mit dem Raub auf. Ein Zeuge sagte aus, Badalamenti habe das Gemälde an einen Schweizer Kunsthändler, vermutlich aus Lugano, verkauft. Dass Badalamenti bei dem Caravaggio-Diebstahl eine Rolle spielen könnte, bestätigte auch Monsignore Benedetto Rocco, der Kustos des Oratorio di San Lorenzo, in den vielen Radio- und Zeitungsinterviews, die er Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre gab.
Heute kann man im Oratorium eine Hightech-Fotonachbildung von Caravaggios „Geburt Christi“ sehen, die in dem leeren Originalrahmen installiert ist. Seit 2015 gibt sie dem prächtigen Innenraum des Oratoriums seine Integrität zurück.
Dieser wurde von dem barocken Bildhauer Giacomo Serpota etwa 100 Jahre nach der Fertigstellung des Caravaggio geschaffen, um das Meisterwerk in einem angemesseneren Rahmen zu präsentieren, der ursprüngliche Innenraum der Kirche war dafür zu bescheiden gewesen.
Die meiste Zeit des Jahres muss die Fotoreplik jedoch einem zeitgenössischen Kunstwerk weichen. In den nächsten Monaten etwa für eines des 91-jährigen Michelangelo Pistoletto. Pistoletto, eine Schlüsselfigur der italienischen Arte-Povera-Bewegung der Nachkriegszeit, ist seit 2018 auch Ehrenbürger von Palermo.
Der Präsident der Amici dei Musei Siciliani, des sizilianischen Museumsfördervereins, Bernardo Tortorici di Raffadali, lädt seit 2010 jedes Jahr einen anderen zeitgenössischen Künstler ein, ein Werk anstelle des gestohlenen Caravaggio anzufertigen. Zahlreiche renommierte Künstler:innen haben mittlerweile an der Initiative mit dem Namen NEXT teilgenommen, darunter Francesco De Grandi, Francesco Simeti, Emilio Isgrò und Vanessa Beecroft.
Ihnen stellt di Raffadali quasi einen Freibrief aus, mit einer Einschränkung: Die Originalmaße des Caravaggios sollten beachtet werden, das zeitgenössische Kunstwerk sollte auch in den Rahmen über dem Altar passen können.
An Heiligabend, nach der Mitternachtsmesse, wird nun Pistoletto sein neues Kunstwerk enthüllen. Ein Moment, der in den letzten 15 Jahren schon zu einem Ritual der Besinnung und Hoffnung durch Kunst geworden ist.
Eine spürbare emotionale Spannung liegt dann immer in der Luft, wenn die vielen Palermitaner, die sich zuvor vor dem Kirchengebäude versammeln, gemeinsam das abgedunkelte Oratorium betreten und nur ein einzelner Scheinwerfer das neue Kunstwerk über dem Altar anstrahlt. Die stille Aufregung wird dann nur allmählich durch Gespräche ersetzt, wenn den Gästen Prosecco und Pandoro angeboten wird.
Der eigens angefertigte Pistoletto wird bis zum 17. Oktober 2025 zu sehen sein, bis zu dem Tag, an dem der Diebstahl dann 56 Jahre zurückliegt. Pistolettos Neuinterpretation des Caravaggio-Gemäldes, so viel hatte der Künstler vorab der taz verraten, wird seine ikonische Spiegelmalerei aufgreifen. Auf einer großen spiegelnden Fläche soll eine Kopie des Engels aus dem originalen Gemälde angebracht werden.
Die Schriftrolle, die ihm Caravaggio gegeben hatte, wird von Pistoletto dann durch sein Symbol des „Dritten Paradieses“ ersetzt. Es handelt sich dabei um eine Abwandlung des mathematischen Unendlichkeitszeichens, die Pistoletto vor vielen Jahren zum zentralen Motiv seines Werks gemacht hat.
Das Organisierte Verbrechen auf Sizilien konzentriert sich mittlerweile auf lukrativere Geschäfte. Die tiefen Narben, die die Cosa Nostra mit ihren Gewalttaten im Centro Storico von Palermo hinterlassen hat, sind immer weniger sichtbar. Doch dass die Stadt ihren einzigen Caravaggio verloren hat, bleibt eine offene Wunde. Wie eine Reliquie hängt in einem kleinen Raum hinter dem Altar noch der Keilrahmen, aus dem das Ölgemälde vor 56 Jahren mit einer Rasierklinge herausgeschnitten wurde.
Dieses Warten auf die Rückkehr des Caravaggio für einen Moment auszusetzen durch ein neues Kunstwerk, das hat in Palermo schon eine regenerierende Bedeutung erlangt.