Italien: Auf dem Weg zur 70. Nachkriegsregierung

Simone-Clio

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Dies ist der Nachfolgethread von Italien: - Draghi und die große Koalition. Er kann bis zu einer Regierungsbildung nach Neuwahlen fortgesetzt werden.


Mattarella ha ricevuto il Presidente Draghi che ha reiterato le dimissioni del Governo da lui presieduto

Mit vier Photos.

Zur Zählweise im Threadtitel:
Die FAZ schrieb am 21. Juli im Artikel "Das finale Missverständnis zwischen Draghi und dem Senat" unter ein Photo: "Am Ende der 69. Nachkriegsregierung in Rom: Mario Draghi am Donnerstagmorgen vor seiner Rücktrittsankündigung im Abgeordnetenhaus.". Auch hier werden ab 21.6.1945 die 69 Nachkriegsregierungen aufgeführt: Die Politik Italiens: Alle Regierungen in der Übersicht (Kabinett Parri bis Kabinett Draghi). Dem entspricht diese höchstoffizielle Liste: I Governi dal 1943 ad oggi (Governo Parri bis Governo Draghi).

Das Kabinett Parri war das 64. Kabinett des Königreiches und sechs Monate und zehn Tage im Amt. Der Allparteienregierung gehörten die Democrazia Cristiana (DC), Partito Comunista Italiano (PCI), Partito Socialista Italiano di Unità Proletaria (PSIUP), Partito Liberale Italiano (PLI), Partito d’Azione (PdA) und Partito Democratico del Lavoro (DL) an.

Nach der vollständigen Befreiung Italiens und dem darauffolgenden Rücktritt von Ministerpräsident Bonomi sollte sich die wieder errungene Einheit des Landes in einer neuen Regierung widerspiegeln. Nachdem die Kandidaturen von Pietro Nenni und Alcide De Gasperi nicht die nötige Resonanz fanden, einigten sich die Parteien auf Ferruccio Parri, einem der bedeutendsten Vertreter der Resistenza als neuen Ministerpräsidenten.

Andere Listen nennen z.B. nur die Regierungen seit dem Ende der italienischen Monarchie 1946. Erste bei dieser Zählweise ist der Governo De Gasperi II (primo governo della Repubblica)
 
 

Fassungslos schaut Europa auf die Entwicklung im italienischen Parlament, das die Regierung stürzt, obwohl so viele Gemeinden, Regionen und Städte sich für die Regierung unter Draghi gestellt haben. (...)
Was läuft falsch in «Bella Italia»? Antworten darauf hat Ulrich Ladurner. Der Journalist ist im Südtirol geboren und schreibt unter anderem für «Die Zeit». In seinem Buch «Der Fall Italien. Wenn Gefühle die Politik beherrschen» hat er die italienische Demokratie ausgeleuchtet.

Ladurners Verdikt: «Ein bisschen Drama gehört in Italien in der Politik dazu.» Aber diesmal seien die Parteien zu weit gegangen. «Das politische Theater muss jetzt aufhören!» Die Verantwortung dafür, warum das Land von einer Regierungskrise in die nächste schlittert, ortet er bei den Parteien. «Sie sind unfähig, über längere Zeit das nationale Interesse im Auge zu behalten.»
 
Neuwahlen am 25. September


Präsident Mattarella erklärte: "Es ist allgemein bekannt, dass eine Regierung in ihrer Tätigkeit eingeschränkt ist, wenn das Parlament aufgelöst und Neuwahlen ausgerufen werden. Sie verfügt jedoch über die Instrumente, um gegen die gegenwärtigen und zukünftigen Probleme vorzugehen. Ich habe die Pflicht zu betonen, dass die Phase, in der wir uns befinden, keine Unterbrechungen bei den dringend notwendigen Maßnahmen gegen die Auswirkungen der wirtschaftlichen und sozialen Krise zulässt, insbesondere was den Anstieg der Inflation betrifft."
 
... hoffen nun, dabei die Mehrheit im Parlament zu erringen.

Doch noch ist die Lage unübersichtlich, das Abstimmungsdebakel für den parteilosen Ministerpräsidenten Draghi im Senat am Mittwoch und der Sturz seines Kabinetts zu frisch für klare Prognosen. Selbst innerhalb der Koalitionsparteien, die Draghi im Parlament die Gefolgschaft versagten, zeigen sich Absetzungsbewegungen. Die für Süditalien zuständige Ministerin Mara Carfagna etwa erklärte, sich von der konservativen Forza Italia distanzieren zu wollen. Ihr Parteifreund Renato Brunetta, Minister für die öffentliche Verwaltung, will die Partei des früheren Regierungschefs Berlusconi verlassen. Und auch im Parlament wechselten die ersten Abgeordneten aus Frust die Seiten.
 

Er könne nicht mit denjenigen zusammenbleiben, die die Regierung mit „Populismus und Opportunismus“ haben fallen lassen. In den vergangenen Wochen sei eine neue Gruppe von Politikern entstanden, erklärte Di Maio: „Die der Unverantwortlichen.“ Die Fünf Sterne, eine der tragenden Parteien der alten Regierung, hatten die Krise vor einer Woche erst ausgelöst.

Bei der kommenden Wahl wird das Parlament drastisch verkleinert. Dank einer Wahlrechtsreform wird es nur noch 400 Abgeordnete in der Kammer und 200 im Senat geben. Bislang gab es 630 Abgeordnete und 315 Senatoren – das Parlament schrumpft also um mehr als ein Drittel. Jeder und jede Einzelne kämpft damit noch einmal mehr darum, den eigenen Sitz zu behalten.

Den gemeinsamen Mitte-links-Block mit der Fünf-Sterne-Bewegung kündigte Parteichef Enrico Letta bereits auf: „Für uns sind Bündnisse unmöglich mit denjenigen, die Draghi haben fallen lassen“, erklärte der Ex-Premier. „Wir werden Draghis Agenda im Wahlkampf verteidigen.“ Es ist schon von einer breiten Allianz der Mitte die Rede, die „im Namen Draghis“ weitermacht.
 
Auf die bevorstehende Reduzierung der Parlamentssitze wurde ja schon hingewiesen im oben verlinkten Artikel.
Mal abgesehen davon, dass man es während der vergangenen Monate immer wieder mal las in verschiedenen Medien sowie auch bei Wikipedia: "Nach einer im September 2020 in einem Referendum angenommenen Verfassungsänderung wird ab dieser Wahl die Zahl der Mitglieder der Abgeordnetenkammer auf 400 sowie die Zahl der Mitglieder des Senats auf 200 reduziert."
Auch mit Blick darauf, so meine Vermutung, wittern gerade jetzt die Mitte-Rechts-Parteien Morgenluft.
 

Am Tag nach dem Sturz der Regierung Draghi begannen die Parteien mit der Kampagne zu den vorgezogenen Parlamentswahlen am 25. September. Die Eile ist angezeigt. Die auf den Wahlzetteln abzubildenden Symbole der Parteien und Listenverbindungen müssen bis zum 14. August beim Wahlleiter im Innenministerium in Rom hinterlegt werden. Die verifizierten Kandidatenlisten, versehen mit deren Unterschriften, müssen den zuständigen Berufungsgerichten bis 22. August vorliegen. Es ist in der Geschichte der Republik Italien ein Novum, dass im Herbst abgestimmt wird. Seit 1948 hatten die Italiener stets in der ersten Jahreshälfte das Parlament gewählt und damit ihre Regierung bestimmt. Vorgezogene Wahlen gab es schon achtmal.
 

Eine klare Mehrheit der Italienerinnen und Italiener ist über die verantwortungslose Kaltschnäuzigkeit, mit der Draghi letzte Woche von den Fünf Sternen, Berlusconi und Salvini abserviert wurde, ebenso fassungslos wie das Ausland. „Ich werde am 25. September nicht wählen gehen, es ist sinnlos“, sagt Sergio Palazzo, Lido-Betreiber im Badeort Sperlonga südlich von Rom. Jetzt, in der Hochsaison, steht der 60-Jährige von morgens 9 bis abends 20 Uhr in der 45 Grad heißen Küche, sieben Tage in der Woche, während seine „ragazzi“ in der sengenden Sonne Liegestühle, Getränke und Teller mit Spaghetti alle vongole herumtragen. Das Wahlkampfgeschwafel von Berlusconi kann Palazzo nicht mehr hören.

Dieser Artikel am 31.7.2022 bei "Der Standard": Schon wieder Wahlen: Es ist etwas faul in Italiens politischem System
 
Die Arroganz der bürgerlichen Parteien wird es noch schaffen, dass die Rechten die Macht übernehmen. In Frankreich wurde es nochmal verhindert, mal sehen, was in Italien wird. Salvini, Meloni, Le Pen, Trump.... und keiner macht sich Gedanken, woher das kommen könnte.
Apres nous la deluge. Aber sich um die Sorgen der "kleinen Leute" wirklich kümmern....ist nicht drin. Stattdessen gendern, Steuererhöhungen , Inflation und und und ... wir schlafwandeln. Jeder in seiner eigenen Blase.
 
Ein weiteres Zitat aus dem verlinkten Artikel:
Italiens Konservative haben keine politische Heimat
Genau das ist das Problem: Das bürgerliche, politisch gemäßigte Lager in Italien hat mit dem Untergang der katholisch-konservativen Democrazia Cristiana (DC) zu Beginn der Neunzigerjahre seine politische Heimat verloren. Die große Volkspartei, die der deutschen CDU/CSU entsprach, hatte in Italien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs während fast fünfzig Jahren mit verschiedenen Koalitionen durchregiert. Sie war zwar korrupt, es gab Mafiaskandale zuhauf, aber die Partei verfügte über ein fast unerschöpfliches Reservoir an kompetenten Politikerinnen und Politikern, die das Wohl des Landes bei all den dunklen Seiten der Partei nie ganz aus den Augen verloren. Unter der DC erlebte Italien ein Wirtschaftswunder wie Deutschland und stieg in den Kreis der fünf größten Industrienationen der Welt (G5) auf.

Und auch die sonstigen Analysen des Verfassers Dominik Straub sind in meinen Augen sehr zutreffend.
 

Schon jetzt gibt es lange Gesichter zu sehen in den Parlamentskreisen. Denn die Parteien haben bereits damit begonnen ihre Listenplätze zu erstellen, was sich diesmal aber alles andere als einfach gestaltet. Es stehen nämlich 345 Plätze weniger zur Verfügung als bisher. Dies weil die Verfassungsreform aus dem Jahr 2021 bei den vorgezogenen Parlamentswahlen Ende September zum ersten Mal angewandt wird. Die Reform also, die die Anzahl der Parlamentarier deutlich reduziert. (...)
Es liegt also auf der Hand, dass die Listenplätze jetzt noch begehrter sind als bisher. Zumal es statt wie bisher knapp 1.000 künftig nur mehr 600 Parlamentarier gibt.
 

Aus (...) Silvio Berlusconis Forza Italia, treten indes immer mehr Politiker und Politikerinnen aus. Ministerin Mariastella Gelmini will sich einer am Montag formierten Zentrums-Gruppe anschließen. Diese hat - bei einem Wahlsieg gegen Mitte-Rechts - das Ziel, Draghi zu bitten, auch in die nächste Legislaturperiode als Ministerpräsident zu gehen.
 
Sozialdemokratenchef: Italien-Wahl die wichtigste der Geschichte

Der Vorsitzende der italienischen Sozialdemokraten und frühere Ministerpräsident Enrico Letta hat die am 25. September bevorstehenden vorgezogenen Parlamentswahlen als die wichtigsten in der Geschichte seines Landes bezeichnet. "Es wird kein Unentschieden geben, entweder gewinnt das EU-Europa oder das der Nationalismen", sagte Letta am Dienstag vor Parteigremien in Rom. "Die Wahl ist zwischen uns und Meloni", fügte er mit Blick auf die Anführerin der äußersten italienischen Rechten, Giorgia Meloni, hinzu.
 
Weiteres Zitat aus dem verlinkten Artikel:
"Wenn es der Sache dient, übernehme ich die Rolle des Frontrunners", sagte Letta laut Nachrichtenagentur Ansa.
Natürlich: Man sollte nichts unversucht lassen, um eine Regierung unter Führung der rechtsextremen Giorgia Meloni zu verhindern.

Allerdings ausgerechnet Enrico Letta? ... diese tragische Figur, seinerzeit durch die eigene Partei nach weniger als 10 Monaten aus dem Amt gekegelt; vgl. Kabinett Letta – Wikipedia.
 
Da Italien auf dem Weg zur 70. Nachkriegs-Regierungsbildung ist, scheint ja jede Regierung eher sehr kurzlebig zu sein. Giulio Andreotti kam 1972 auf 10 Tage Regierungszeit. Das ist bemerkenswert.
Berlusconi 1992 nur auf 7 Monate. Enrico Letta scheint mir nicht tragisch, eher mutig, angesichts des scharfrechten Windes sich gegen diese Gefährdung zu stemmen.
 
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