dies mercurii ante diem VIII Kalendas Maias MMDCCLXXVII ab urbe condita
Merkurtag, 8. Tag vor den Kalenden des Mai, 2777. Jahr nach Gründung der Stadt

Der Tod der Verginia

Der mit unumschränkter Macht ausgestattete Decemvir Appius Claudius giert nach der schönen Verginia und will sie durch eine Intrige in seine Gewalt bringen: Er beauftragt einen Klienten, zu behaupten, sie sei seine Sklavin. Da der Fall von Appius verhandelt wird, ist der Ausgang klar. Doch Verginias Vater tötet seine Tochter eher, als dass er sie der Gewalt des Appius ausliefert.

Nachdem die Ständekämpfe kaum begonnen hatten, einigten sich 452 v. Chr. die Plebejer und die Patrizier, eine Kommission, bestehend aus zehn Männern, mit der Niederschrift der bisher nur mündlich überlieferten Gesetze zu beauftragen (Decemviri legibus scribundis). Während ihrer Amtszeit sollte es keine anderen Magistrate geben und ihre Entscheidungen sollten endgültig sein. Es amtierten also keine Volkstribune und auch der für römische Bürger vorgesehene letzte Appell an das Volk sollte nicht möglich sein. Das erste Kollegium, das nur aus Patriziern bestehend, trat Anfang 451 v. Chr. sein Amt an. Jeder Decemvir führte im Wechsel die Amtsgeschäfte für einen Tag und wurde von Liktoren begleitet. Die Amtsführung dieser ersten Decemviri war tadellos, und am Ende schlugen sie den Comitia Centuriata einen Gesetzestext in zehn Kapiteln vor, der angenommen und auf zehn Bronzetafeln verewigt wurde. Eine zweite Kommission wurde gebildet, der nur Appius Claudius erneut angehörte. Zwei weitere Gesetzestafeln wurden ausgearbeitet, womit das Zwölftafelgesetz (Lex Duodecim Tabularum), Kern des römischen Rechts und der römischen Verfassung, war vollendet. Die erfolgreichen Decemviri legten allerdings immer tyrannischere Züge an den Tag: Jeder Decemvir wurde nun ständig von zwölf Liktoren begleitet, die auf dem Stadtgebiet in ihren Rutenbündeln sogar die Äxte trugen: Die Zahl entsprach der für Konsuln vorgesehenen, und allein die Liktoren eines Diktators durften die Äxte innerhalb des Stadtgebietes mitführen, da sie das Recht zur Verhängung der Todesstrafe symbolisierten:

Appius Claudius [einer der Decemviri] war in schändlicher Liebe zu einem Mädchen von plebejischer Geburt entbrannt. Der Vater des Mädchens, Lucius Verginius, hatte einen hohen Rang in der Armee; er war ein Mann beispielhaften Charakters sowohl zu Hause als auch im Feld. Seine Frau war nach ebenso hohen Prinzipien erzogen worden, und sie erzogen ihre Kinder genauso. Er hatte seine Tochter dem Lucius Icilius versprochen, der Tribun gewesen war, ein aktiver und Mann voller Energie, der seinen Mut in den Kämpfen für die Plebs bewiesen hatte. Dieses Mädchen, nun in der Blüte ihrer Jugend und Schönheit, erregte Appius' Leidenschaft, und er versuchte sein Glück bei ihr mit Geschenken und Versprechungen. Als er bemerkte, dass ihre Tugend stärker war als alle Versuchung, griff er auf skrupellose und brutale Gewalt zurück. Er beauftragte einen Klienten, Marcus Claudius, zu behaupten, das Mädchen wäre seine Sklavin, und jeden Versuch ihrer Freunde zu verhindern, sie zu befreien, bevor es zum Prozess käme, weil er glaubte, die Abwesenheit des Vaters böte gute Gelegenheit für diese ungesetzliche Handlung. Als das Mädchen ihre Schule auf dem Forum besuchte - die Schreibschulen befanden sich dort in kleinen Buden - legte der Diener des Decemvir Hand an sie und behauptete, sie sei die Tochter einer seiner Sklavinnen und damit seine Sklavin und befahl ihr, ihm zu folgen, und drohte, sollte sie zögern, sie gewaltsam abzuführen. Während das Mädchen versteinert vor Schreck war, lockten die Schreie ihrer Dienerin, die den Schutz der Quiriten erflehte, eine Menge an. Die Namen ihres Vaters Verginius und ihres Verlobten Icilius waren allgemein respektiert. Achtung vor ihnen brachte ihre Freunde, Entrüstung die Menge dem Mädchen zu Hilfe. Vor Gewalt war sie nun sicher; der Mann, der sie beanspruchte, sagte, er folge den Gesetzen, nicht der Gewalt, es gebe keinen Grund für einen erregten Auflauf. Er lud das Mädchen vor Gericht, und ihre Unterstützer rieten ihr, ihm zu folgen. Sie kamen vor das Gericht des Appius. Der Kläger trug eine Geschichte vor, die der Richter bereits bestens kannte, denn er war der Urheber: Wie das Mädchen in seinem Haus geboren worden und ihm gestohlen, ins Haus des Verginius gebracht und ihm untergeschoben worden sei. Diese Unterstellungen würden von eindeutigen Beweisen gestützt und er werde sie zur vollen Zufriedenheit des Verginius selbst beweisen, der in der Tat am meisten betroffen sei, weil ihm ein Unrecht angetan worden sei. Unterdessen, so drängte er, sei es nur gerecht, dass das Sklavenmädchen ihrem Herrn folge. Die Verteidiger des Mädchens gaben zu bedenken, dass der Vater des Mädchens im Dienste des Staates abwesend sei, er aber binnen zwei Tagen eintreffen würde, wenn man ihn benachrichtige, und dass es gegen jede Billigkeit sei, dass in seiner Abwesenheit um sein Kind gestritten werde. Sie forderten, dass das Gericht sich vertage bis zur Ankunft des Vaters, und dass er in Übereinstimmung mit dem Gesetz, das er selbst erlassen habe, das Mädchen freilasse und nicht eine Jungfrau Gerüchten aussetze, noch bevor ihre Freiheit in Gefahr sei.

Bevor er urteilte, zeigte Appius wie die Freiheit hochgehalten wurde von dem Gesetz, auf das sich die Freunde der Verginia berufen hatten. Aber, so sagte er, es garantiere Freiheit nur soweit, als seine Regelungen strikt beachtet würden: Für diejenigen, die sich in Freiheit darauf bezögen, weil sie nach dem Gesetz handlungsfähig seien, sei es geltendes Recht; in ihrem Falle aber, die noch der väterlichen Gewalt sei, gebe es niemandem, dem sie ihr Herr herausgeben müsse, es sei denn ihr Vater. Der Vater solle also geholt werden; in der Zwischenzeit solle aber der Mann, der sie beanspruche, nicht das Recht verlieren, sie mitzunehmen und wieder vorzuführen bei der Ankunft dessen, der ihr Vater genannt wird. Das Unrecht dieser Entscheidung führte zu vielem Murren, aber niemand protestierte offen, bis Publius Numitorius, des Mädchens Großvater, und Ilicius, ihr Verlobter, erschienen. Das Eingreifen des Ilicius versprach am ehesten, Appius aufzuhalten, und die Menge machte ihm Platz. Der Liktor sagte, Recht sei gesprochen, und als Ilicius laut protestierte, versuchte er, ihn zu entfernen. So großes Unrecht hätte sogar ein sanftes Gemüt entfacht. Er rief: "Ich soll, auf Deinen Befehl, Appius, mit dem Schwert abgeführt werden, so dass Du alle Gerüchte unterdrücken kannst über das, was verborgen bleiben soll. Ich werde dieses Mädchen heiraten, und ich bin entschlossen, eine ehrbare Frau zu haben. Rufe alle Liktoren Deiner Kollegen zusammen und gib Anweisungen, dass die Äxte in den Rutenbündeln bereit seien: Die Verlobte des Icilius soll nicht außerhalb ihres Vaters Haus verbleiben! Auch wenn Du uns die zwei Bollwerke unserer Freiheit genommen hast, die Hilfe unserer Tribunen und das Recht, sich an das Volk zu wenden, gibt Dir das nicht ein Anrecht auf unsere Frauen und Kinder, die Opfer Deiner Lust. Lass Deiner Grausamkeit freien Lauf auf unseren Nacken und Rücken, lass wenigstens die Ehre der Frauen sicher sein. Wenn diesem Mädchen Gewalt angetan wird, werde ich die Quiriten hier zur Hilfe für meine Verlobte auffordern, Verginius die Soldaten für seine einzige Tochter. Ich fordere Dich auf, Appius, bedenke, welchen Weg Du beschreitest! Wenn Verginius eingetroffen sein wird, dass er entscheiden, was er wegen seiner Tochter unternehmen wird. Wenn er der Forderung dieses Mannes nachgibt, muss er einen neuen Mann für seine Tochter suchen. Unterdessen werde ich eher ihre Freiheit mit meinem Leben verteidigen, bevor ich meine Ehre opfere.

Die Menge war erregt und ein Kampf schien kurz bevorzustehen. Die Liktoren hatten Icilius umringt, aber die Sache war auf beiden Seiten nicht über Drohungen hinausgegangen, als Appius erklärte, die Verteidigung der Verginia sei nicht des Icilius Hauptziel. Er sei ein rastloser Intrigant, der immer noch den Hauch des Tribunats atme und eine Gelegenheit suche, Unruhe zu stiften. Er selbst werde ihm an diesem Tag kein Material dazu liefern; damit er aber wisse, dass er nicht seiner Aufmüpfigkeit nachgebe, sondern dem abwesenden Verginius, dem Namen des Vaters und der Freiheit, werde er an diesem Tag gar kein Recht sprechen und kein Urteil fällen. Er werde Marcus Claudius bitten, auf sein Recht zu verzichten, und das Mädchen der Obhut ihrer Freunde zu überlassen bis zum nächsten Tag. Wenn der Vater bis dahin nicht erscheine, warnte er Icilius und seine Männer, werde er weder als Gesetzgeber sein eigenes Gesetz missachten, noch werde er es ihm als Decemvir an Härte fehlen, es durchzusetzen. Er werde sicher nicht auf die Liktoren seiner Kollegen zurückgreifen, um die Aufwiegler eines Aufruhrs zu unterdrücken, ihm würden seine eigenen reichen. Die Zeit, an der diese Gesetzlosigkeit begangen werden sollte, war also aufgeschoben, und nachdem sich die Unterstützer des Mädchens zurückgezogen hatten, entschieden sie, dass als erstes der Bruder des Icilius und einer von Numitors Söhnen, beide fitte Burschen, sich direkt auf den Weg machen und Verginius so schnell wie möglich herbeiholen sollten. Sie wußten, das die Sicherheit des Mädchens davon abhing, dass ihr Beschützer zur rechten Zeit eintraf. Sie brachen mit höchster Geschwindigkeit reitend zu ihrer Mission auf und brachten dem Vater die Nachricht. Während der, der das Mädchen beanspruchte, Icilius drängte, seine Forderungen ordentlich zu stellen und Sicherheiten zu bieten, und Icilius versicherte, dass gerade das im Moment arrangiert werde und dabei absichtlich Zeit schindete, um seinen Boten die Chance zu geben, das Lager zuerst zu erreichten, hielt die Menge überall die Hände erhoben um zu zeigen, dass sie bereit sei, für ihn zu bürgen. Mit Tränen in den Augen sagte er: "Das ist sehr freundlich von Euch. Morgen werde ich vielleicht Eure Hilfe brauchen, jetzt habe ich genügend Sicherheiten". So wurde Verginia auf Kaution freigelassen in das Gewahrsam ihrer Verwandten. Appius blieb einige Zeit auf der Richterbank, um den Eindruck zu vermeiden, er habe sein Gericht nur wegen dieses einen Falls geöffnet. Als er bemerkte, dass wegen des anhaltenden Interesses in diesen einen Fall keine anderen Kläger erschienen, zog er sich nach Hause zurück und schrieb an seine Kollegen im Lager, dem Verginius keinen Urlaub zu geben und ihn sogar unter Arrest zu stellen. Diese schändliche Bitte kam aber zu spät, den Verginius hatte bereits Urlaub genommen und war während der ersten Wache aufgebrochen. Der Brief, der seine Verhaftung anordnete, kam erst am nächsten Morgen und war deshalb nutzlos.

In der Stadt standen die Bürger seit dem frühen Morgen auf dem Forum und waren hochgespannt. Verginius, in Trauerkleidung, brachte seine Tochter, ähnlich gekleidet und begleitet von einer Anzahl Frauen. Eine riesige Menge, die auf seiner Seite stand, umringte ihn. Er lief im Volk umher, nahm einzelne bei der Hand und flehte sie an, ihm zu helfen, nicht nur aus Mitgefühl, sondern auch, weil sie es im schuldig seien; er sei an der Front, Tag für Tag, ihre Kinder und Frauen verteidigend. Von keinem Mann könnten sie mehr Taten der Ausdauer und der Tapferkeit erzählen als von ihm selbst. Wofür sei all das nütze, so fragte er, wenn, während die Stadt zwar sicher sei, die Kinder aber dem ausgesetzt seien, was ihr schlimmstes Schicksal sein würde, wenn sie erobert würde? Es sammelten sich Männer um ihn, während er sprach, als ob er sich an die Volksversammlung wendete. Icilius sprach ebenso. Die Frauen, die ihn begleiteten, machten einen tieferen Eindruck durch ihr leises Weinen als durch irgendwelche Worte, die sie hätten sprechen können. Unbewegt von all dem, es war eher Irrsinn als Liebe, der sein Urteilsvermögen umwölkte, betrat Appius das Tribunal. [...] Seine Entscheidung war, dass das Mädchen eine Sklavin sei. Im ersten Moment waren alle versteinert wegen des Erstaunens über diese Ungeheuerlichkeit, und für einige Sekunden herrschte Totenstille. Dann, als Marcus Claudius sich den Frauen näherte, die das Mädchen umstanden, um sich ihrer zu bemächtigen inmitten der der Schreie und Tränen, zeigte Verginius mit ausgestrecktem Arm auf Appius und rief: "Es ist Icilius, dem ich meine Tochter versprochen habe, und nicht Dir, Appius! Bist Du entschlossen, deine brutale Lust wie das Vieh und die wilden Tiere zu befriedigen? Ob diese Leute das durchgehen lassen, weiß ich nicht, aber ich hoffe, dass diejenigen, die Waffen besitzen, sich weigern, das zu tun." Während der Mann, der das Mädchen forderte, von den Frauen und den umstehenden Unterstützern zurückgedrängt wurde, rief der Herold um Ruhe.

Der Decemvir, völlig beherrscht von seiner Leidenschaft, wandte sich an die Menge und erklärte, dass er sich nicht nur durch die unmöglichen Schmähungen des Ilicius vom Vortage und das gewalttätige Verhalten des Verginius, das das römische Volk bezeugen könne, sondern auch durch gewisse Informationen, die er erhalten habe, versichert habe, dass während der ganzen Nacht in der Stadt Treffen stattgefunden hätten, um einen Umsturz zu organisieren. Vorgewarnt betreffend die Wahrscheinlichkeit von Störungen sei er mit einer bewaffneten Eskorte auf das Forum gekommen, nicht, um friedliche Bürger zu verletzen, sondern um die Autorität der Regierung aufrecht zu erhalten, indem Störungen der öffentlichen Ruhe niedergehalten würden. "Es wird deshalb", fuhr er fort, "besser für Euch sein, Ruhe zu bewahren. Gehe, Liktor, und zerstreue die Menge und räume den Weg, damit der Herr seine Sklavin in Besitz nehmen kann!" Als er, in einem Anfall von Wut, diese Worte ausgestoßen hatte, wichen die Leute zurück und ließen das Mädchen allein, Opfer des Unrechts. Verginius, der nirgendwo Aussicht auf Hilfe sah, wandte sich an das Tribunal. "Verzeih mir, Appius, ich bitte Dich, wenn ich respektlos zu Dir gesprochen habe, verzeih eines Vaters Trauer. Erlaube mir, diese Amme zu befragen, in Anwesenheit des Mädchens, was die wirklichen Tatsachen dieses Falles angeht, damit, wenn ich wirklich fälschlich ihr Vater genannt wurde, sie um so leichter weggeben!" Die Erlaubnis wurde erteilt, und er nahm das Mädchen zusammen mit der Amme zur Seite, nahe des Heiligtums der Venus Cloacina, zu den Läden, die die Tabernae Novae genannt werden. Dort griff er ein Schlachtermesser, stieß es ihr in die Brust indem er sprach: "Auf diese eine Weise, auf die ich es vermag, verteidige ich, mein Kind, Deine Freiheit!" Dann, zum Tribunal gewandt: "Mit diesem Blut, Appius, verfluche ich Dich und Dein Haupt."

Livius, ab urbe condita 3,44-48.

Hinweis: Ich habe mir bei der Übersetzung gelegentlich einige Freiheiten herausgenommen, die dazu führen, dass sich der Text nicht zur Hausaufgabenerstellung eignet.


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