Mit Hölderlin nach Rom (18.-21.03.2010) Teil 1 und folgende Teile

scriptor

Civis Romanus
Mit Hölderlin nach Rom

Wann beginnt eine Fahrt nach Rom?
Einfache Frage – nicht ganz so einfache Antwort: Spätestens dann, wenn dir eine unbekannte Frau eine Mail schreibt, dich mit Vornamen anspricht und sich als Annalisa vorstellt, was deine Verwunderung noch vergrößert, denn du kennst keine Annalisa, noch nicht einmal eine Anneliese. Und wenn diese Annalisa dir am Abend des vorletzten Tages vor Reiseantritt - 40 Stunden vor Abflug! - eine Mail sendet mit dem Inhalt, dass sie

1) die neue Besitzerin des von dir gebuchten Hostels sei,
2) mitten in den Renovierungsarbeiten stecke,
3) dir leider mitteilen müsse, dass es bis zu dem von dir gebuchten Termin ¬ - also übermorgen! – mit der Renovierung aller Zimmer nichts mehr werde und demzufolge sie ihr neu erworbenes Hostel dir nicht zur Verfügung stellen könne, wonach sie
4) einen vielsagend großen Absatz macht, in welchem du dann, das Herz voll dunkler Ahnungen, deine Romfahrt versinken siehst wie einst die Städte in den Pontinischen Sümpfen - sie aber
6) dann und wohl platziert dir den rettenden Vorschlag unterbreitet, da sie dich ja nicht in der Luft hängen lassen wolle, dass sie zufälligerweise da einen Verwandten habe, der ein Hostel sein eigen nenne, das er dir großzügigerweise zur Verfügung zu stellen gedenke, und
7) den in broken English verfassten Text mit „Best regards“ abschließt,

...dann, ja dann weißt du: Die Fahrt hat längst begonnen, ist dem Anschein nach vielleicht auch schon beendet, nur hattest du es nur noch nicht bemerkt!

Und du starrst auf den Bildschirm, weißt, dass du nicht träumst, willst andererseits aber auch nicht wahrhaben, was du gerade gelesen hast – Hölderlin kommt dir in den Sinn: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Er hatte es wohl schwer im Leben, der Friedrich Hölderlin, und diese dem Leben trotzig abgerungene Gewissheit überzeugt dich, aber hätte er sich ein Ereignis von solch katastrophalem Ausmaß vorstellen können: Am Vor-Vorabend einer Romfahrt die Absage der gebuchten Zimmer zu erhalten – für dich und deine Gruppe mit 22 weiteren Teilnehmern.

Und obwohl du dann nicht lange zauderst – es verginge nur kostbare Zeit – und dich in Rom durch ein paar Aufenthalte ein wenig auskennst, musst du nach einer Weile auf den einschlägigen Seiten, der Hoteldatenbank von „roma antiqua“, den Seiten der Hotel-Suchmaschinen sowie Jugend-Hostel-Anbieter und schließlich der Seite des Pilgerzentrums mit Blick auf die Uhr („Oh, schon so spät!“) feststellen, dass der Zeitpunkt des Abfluges näher, die Unterkunft aber in noch weitere Fernen gerückt ist. Für 23 Personen 2 Tage vor Ankunft bliebe nur eine Unterkunft, die extrem teuer wäre, extrem unakzeptabel oder extrem weit draußen liegen würde - oder eine Kombination aus allen drei Handicaps darstellen würde Und selbst wenn eine Unterkunft gefunden wäre, hätte diese dann 23 Betten frei mit allen aus der Zusammensetzung der Gruppe entspringenden Erfordernissen an die Zimmerzahl: 1 Lehrerin, 1 Lehrer, 6 Jungen, 15 Mädchen.

Krisenbesprechung mit der Ehefrau, die immer (!) einen Vorschlag hat: Da gebe es doch den Kollegen, dessen Frau ihr mal erzählt habe, dass diese mit ihrem Mann in einem Pilgerhaus in Rom übernachtet habe. Die mitfahrende Kollegin, inzwischen gleichermaßen informiert wie entsetzt, übernahm die Aufgabe, den Kollegen anzurufen. Wegen Abwesenheit des Kollegen wurde dann dessen Tochter der Fall eindringlich geschildert. Das Gespräch endete mit dem Versprechen der Tochter, dem Vater Bescheid zu geben („Aber bitte nicht vergessen, das ist hier quasi ein Notfall!!!“ – „Ja, ja , schon klar, tschühüß!“)
Dann noch eben eine Mail an die Schülerinnen und Schüler geschrieben – wahrscheinlich waren einige schon zu Bett, aber so etwas spricht sich schnell herum.

Am nächsten Morgen die Schülerinnen und Schüler zusammengetrommelt, alle wussten inzwischen Bescheid: betretene Mienen, panisch flackernde Blicke. Erste Versuche der Entrüstung: „Aber … aber …. aber….“ – dann Schweigen.
Auf die Frage, das angebotene Ausweichhostel zu akzeptieren, nur wortloses Kopfschütteln. Dann der Hinweis darauf, dass in dem Bewertungen zu dem von Annalisa angebotene Ausweichquartier Schlimmes zu lesen sei: Die Bilder auf der Homepage, die – neben der Lage - für sich schon abschreckend wirkten, entsprächen noch nicht einmal den tatsächlichen Zimmern, selbst die Terrasse, nach der das Hostel seinen Namen trug, gebe es gar nicht. Es sei alles Fake, so einige Kommentare. Einer hatte den Hinweis gefunden: „Lieber in der Gosse…!“
Zudem hatten wir in den Kommentaren zu „unserem“ gebuchten Hostel den Hinweis einer französischen Lehrerein gefunden, dass das Hostel selbst zu klein für eine Gruppe sei und es noch eine „Dependance“ um die Ecke gebe, an der Via Cavour. Annalisas (von jetzt an „Anneliese“, da Annalisa bestimmt auch nur Fake war) - Annelieses Hinweis auf die zu geringe Kapazität an Zimmern wegen Renovierung entbehrte also der Tatsachen. Auch nur Fake! Und weshalb dann das angebotene Ausweichquartier ganz weit draußen? - Beschluss: Alles Fake (um schlimmere Worte, mit denen sich die bedrückten Schüleseelen Luft zu verschaffen suchten, zu vermeiden)!
Danach Sprachlosigkeit und kaum Aussicht auf Verbesserung. Hilfesuchende Blicke: Noch 32 Stunden bis zum Abflug! Nächstes Treffen in der nächsten Pause, 2 Stunden später. – Ach, Hölderlin!

In der anschließenden Freistunde vor dem Rechner, erneut auf der Seite des Pilgerzentrums, im Kopf die Namen der beiden Bekannten, die fließend Italienisch sprechen - plötzlich von hinten die Stimme des Kollegen. Seine Tochter hatte Wort gehalten. Er reichte mir einen kleinen Zettel, dessen Unscheinbarkeit im umgekehrt proportionalen Verhältnis zum Inhalt stand: Diözesan-Pilgerstelle - mitsamt Namen und Telefonnummer des Verantwortlichen!

Kurzer Anruf, zuversichtliche Ankündigung zur Lösung des Problems, es müsse nur eben zwei-, dreimal mit Rom telefoniert werden. Wir sollten mal zuversichtlich sein, so dieser nette Mensch, Pilgerhäuser zu vermitteln sei schließlich seine Aufgabe und er kenne sich durch an die 100 Rom-Aufenthalte schon ein wenig in Rom aus.
Schüler beim nächsten Treffen mit gedämpfter Zuversicht ausgestattet. 3 Stunden später der erlösende Anruf: Pilgergästehaus in einer Nebenstraße der Via Gregorio VII mit den erforderlichen Zimmern und in der angegebenen Preiskategorie in der Nähe des Petersdoms! - Va bene!

Schüler informiert: Strahlende Gesichter. Kollegin ließ es sich nicht nehmen, bei diesem netten Menschen vorbeizuschauen, um sich persönlich mit einer Flasche besten italienischen Rotweins zu bedanken. Er hatte es wahrhaft verdient!
Kurze Verwunderung: Hatte Hölderlin von diesem Menschen gewusst?

29 Stunden bis zum Abflug. - Die Fahrt konnte beginnen – nachdem sie schon längst begonnen hatte.

Aber am nächsten Tag ging’s richtig los!

Es ist wohl vom Herrn in seinen für den Menschengeist undurchdringlichen Ratschlüssen und Wegen bestens und vorausschauend so eingerichtet, dass der Mensch die Zukunft nicht kennt – selbst die des nächsten Tages nicht…
 
Zuletzt bearbeitet:
Moin - Moin scriptor!


8O 8O 8O

DAS nenne ich mal einen Schreck ... aber zum Glück ist ja alles gut ausgegangen ...


VIELEN DANK

:thumbup: :nod: :thumbup: :nod: :thumbup:

für den Anfang Deines Berichtes

... ich hoffe mal dass Ihr in Rom dann einen tollen Aufenthalt hattet (?)


Gruß - Asterixinchen :)
 
Mit Hölderlin nach Rom

....
Aber am nächsten Tag ging’s richtig los!

Es ist wohl vom Herrn in seinen für den Menschengeist undurchdringlichen Ratschlüssen und Wegen bestens und vorausschauend so eingerichtet, dass der Mensch die Zukunft nicht kennt – selbst die des nächsten Tages nicht…

:thumbup: Das fängt ja gut an :thumbup: und kann nur ganz toll werden! :nod:
Mit Spannung wartet auf die Fortsetzung
Pasquetta
 
Nach dem Anfang mit Pannen, die schnell zum Alptraum hätten werden können, freue ich mich schon auf die Fortsetzung des Berichts.

Viele Grüße
Claude
 
Kaum aus Rom zurück - bin ich auch schon wieder in Rom!

freut sich auf die Fortsetzung

Paganus
 
Nach der wohl guten Problemlösung bin ich gespannt auf die Fortsetzung. Die Eröffnung war ja schon Spannung pur.

Gruß Ludovico
 
Scriptor trägt seinen Nick mit vollem Recht! :nod: :thumbup: :thumbup: :thumbup: :thumbup:
 
Mit Hölderlin nach Rom (18.-21.03.2010) Teil 2

[MOD=Asterixinchen]Ich habe mir erlaubt den Teil II an den ersten Teil des Berichtes anzuschließen[/MOD]​

Am nächsten Tag dann sechs Stunden Unterricht – und ab in den Bus zum Flughafen. Die Schüler waren aus nachvollziehbaren Gründen bestens gelaunt bis ausgelassen und schienen die gestrige Krise von sich geschoben zu haben wie einen schweren Traum: Vergessen! Vorbei! Und ihre erwartungsvollen Augen richteten sich ausschließlich auf das, was sie noch nicht kannten und sich so sehnlich erwünscht hatten und nun zum Greifen nahe war: Rom!

Nach einer halben Stunde Fahrt bekam die Kollegin Magenschmerzen, zunächst leichte, dann stärkere, und mit Erreichen des Flughafens die besorgte Frage „Geht’s?“ – und mit gequältem Lächeln die Antwort „Es geht, wirklich!“ Und als der Bus dann ziemlich bald entschwand, war da mit einem mulmigen Gefühl zugleich der Gedanke, dass die direkte Verbindung mit der Heimat nun gekappt sei. Jetzt bliebe für den Notfall nur noch das Handy. Vorsichtige Frage: Ob es nicht sinnvoll wäre, vielleicht doch den Mann zu Hause anzurufen, der dann ...? – „Es geht schon, danke!“, war die Antwort, deren Bestimmtheit durch die Freundlichkeit des mit den Worten einhergehenden Lächelns dann schließlich die Zweifel aus dem Weg zu räumen wusste, und ein insistierendes Nicken mit Kopf sowie das erwartungsvolle Leuchten in den Augen, endlich nach Rom zu kommen, wussten auch die auflodernde Sorge zu dämpfen. Der menschliche Wille vermag ja so viel!

Da ich Hölderlin nicht schon wieder „heranzitieren“ und damit vielleicht über Gebühr strapazieren wollte, denn so ein Gedanke nutzt sich ja auf die Dauer auch irgendwie ab, brachte ich also meine rheinische Frohnatur ins Spiel: Et hätt noch immer joot jejange!
Passte irgendwie gut zum Flughafen „Niederrhein“.

Die Wartezeit dann verging durch den ständigen Wechsel von der Stille des gleichnamigen Ortes in die tosende Abflughalle fast wie im Fluge, und nach einer guten Stunde hieß es dann: Ab in den Flieger! Ein letzter prüfender Blick: Geht’s? – Es geht!
Wenn man sich schon so lange kennt und miteinander arbeitet, versteht man sich nahezu intuitiv.
Der Flug verlief ohne weitere Zwischenfälle, und als wir schließlich in Ciampino landeten, hatte der einstündige Schlaf das Seine, und das bedeutete: Gutes, getan. Und so sah die von vielen Schüleraugenpaaren besorgt und mitfühlend beäugte Kollegin dann auch frischer aus als vor dem Abflug – zum Glück, denn nun stand uns der Teil bevor, in dem es auf körperliche Fitness ankam: Busfahren!

Nach nur kurzer Wartezeit am Förderband strömten wir aus dem Flughafengebäude, vorbei an gelassen dastehenden oder sogar in ein Schwätzchen vertieften Uniformierten; und während die Schüler mit offenen Augen die ersten Eindrücke einfingen (Rom, Ciampino: italienischer Nachthimmel, italienische Autos, Menschen, Busse…), strömte ich schon mal voran, denn mit einer größeren Gruppe musst du früh am Bus sein, weil man sonst mit einer halbstündigen Wartezeit rechnen muss, und die wollte ich der Kollegin ersparen. Und da ich nicht erst noch für orientierungsheischende Rundumblicke, zumal noch im Dunklen, Zeit verwenden musste und direkt zum Bushalt gehen konnte, erreichte ich auch tatsächlich ziemlich früh den Bus, die Schülerschar mit der Kollegin mittendrin strömte hinterher, und der junge Mann von Terravision konnte jede einzelne Buchungsnummer auf dem Ausdruck der Online-Buchung beim Einsteigen abhaken.
Eine gute halbe Stunde später, es ging auf 20.30 Uhr, erreichten wir die Via Maralsa: Aussteigen, Koffer ausladen – und ab in den Bahnhof, wo ich die Kinder mit der Kollegin bei Mc Donald’s „zwischenparkte“, um die Fahrkarten für den Bus zu kaufen.

Dass Reisen bildet, zumal in Rom, wo man sich „ein-bilden“ kann, in den Stapfen berühmter Gebildeter (Winkelmann, Moritz, Goethe, Herder, Humboldt – von den Malern ganz zu schweigen) zu wandeln, ist ein längst ein Gemeinplatz, dass man aber auch eine Menge lernen kann, ja lernen muss, das verdrängt man angesichts der Schönheiten, die einen umgeben, doch schon mal gerne oder leichtfertigerweise, was aber auf dasselbe hinausläuft.

So stellte ich zunächst verwundert fest, dass rechts, wenn man den Bahnhof in Richtung Piazza dei Cinquecento verlässt, keine Verkaufsstelle für Biglietti mehr zur Verfügung steht, da dort im großen Stil umgebaut wird, erlebte, dass der Fahrkartenschalter auf dem zweiten Bussteig erwartungsgemäß geschlossen war, erfuhr von zwei im Plausch begriffenen Busfahrern, dass man die Biglietti jetzt auch im Bus lösen kann, aber mit Gruppen besser vorher kaufen sollte – und lernte, die mit leicht angehobenem Arm ins Ungefähre deutende Richtungsangabe richtig deuten und schließlich dann doch noch im Halbdunkel der Laternen den Zeitungskiosk in mehr als 100 Metern Entfernung auf der andren Seite der Via G. Giolitti als Vorverkaufsstelle für die von mir so heiß begehrten Biglietti zu „enttarnen“. Reisen fordert einen eben bisweilen! – Und dann, mit einem Male, als ich den Mann inmitten seines Blätterwaldes aus Zeitungen und Postkarten in seinem Reich auf einem Stuhl thronend in triumphaler Gelassenheit die 23 Biglietti wie beiläufig und dennoch sorgfältig auf die Anzahl achtend herunterzählen sah, wusste, spürte, erlebte ich: Ich bin angekommen! Und dieses Gefühl, das sich bislang (noch?) jedes Mal unvermittelt einstellt hatte, begleitete mich dann die ganze Zeit des Aufenthaltes über auf meinen Wegen durch die ewige Stadt.

Selbst die Luft, die mich umgab, erschien mir von diesem Augenblick an von anderer Art, mild und barg einen untrüglich typischen Duft in sich, was nicht nur auf die vor der Ampel vor sich hindröhnenden Busse zurückzuführen war.

Dass die Wahrscheinlichkeit nicht immer auf Seiten der Wirklichkeit zu finden ist, ist ein Gedanke, der hin und wieder mal einen Boxenstop bei mir eingelegt hatte. Ein wenig heimischer als bei seinen bisherigen kurzen Zwischenbesuchen allerdings fühlt er sich nun bei mir, seitdem ich in Rom wieder einmal erleben durfte, dass man sein eigenes Welterklärungsmodell doch in regelmäßigen Abständen einer Inspektion unterziehen sollte.

Meine Lehrmeister des Alltags, denen ich in diesem Falle zu Dank verpflichtet bin, sind drei römische Busfahrer. Sie nämlich vermittelten mir in ihrer unnachahmlichen und auch unbeschreiblichen Art, dass etwas, was ich bislang für gänzlich undenkbar gehalten hatte, exakt als Erklärung für ein auffälliges und durch nichts anderes zu erschließendes Verhalten diente: Dass es für das Ausüben des Berufes eines Busfahrers – in Rom - nicht zwingend notwendig ist, die Namen der Haltestellen seiner jeweiligen Tour zu kennen.

Nachdem ich unsere Truppe, die sich wie schützend um die Kollegin herum gruppiert hatte, bei Mc D. wieder abgeholt und die Biglietti verteilt hatte, suchten wir den entsprechenden Bussteig. Bus Nr. 40 oder 64 sollte es sein, so hatte der nette Mensch von der Pilgerstelle auf dem Informationspapier geschrieben – inklusive der Haltestelle, wo wir umsteigen mussten.
Der Bus Nr. 40 war schnell gefunden, der Busfahrer stand noch in der Tür, ich holte mein Informationsblatt heraus und fragte ihn vorsichtshalber, ob er auch an der Haltestelle Corso Vittorio Emanuele II / Piazza di Porta S. Paola halte. Sein irritierter Blick ließ mich zunächst an der Berechtigung meiner Frage zweifeln, schließlich, so schien mir sein Mienenspiel mitteilen zu wollen, sei dies doch die Linie, die genau dorthin fahre, wodurch meine Frage so was von überflüssig sei, dass er wie jeder vernünftig denkende Mensch sich außerstande sehe, solch eine unsinnige Frage zu beantworten. Allerdings sah ich in seinen Augen auch das Flackern von Unsicherheit, was zu meiner vorangegangenen Deutung seines Verhalten nicht passte. Vielleicht, so sagte ich mir dann, lag es an meinen unzulänglichen Italienischkenntnissen, sodass ich es in Englisch probierte, was aber nur dieselbe Reaktion bei ihm hervorrief – und mich zu dem mir widerstrebenden Gedanken führte, dass mein Englisch offensichtlich genauso schlecht sein müsste wie mein Italienisch – oder er beider Sprachen nicht mächtig wäre, was ich aber als einen unhaltbaren Gedanken ansah. Also hielt ich ihm mein Infopapier vor die Nase und zeigte auf die betreffende Stelle mit der Nennung der Namen – in der stillen Hoffnung, dass, wenn schon mein Italienisch und mein Englisch nicht ausreichten, er ja jetzt schwarz auf weiß selbst lesen könnte, worum es ging.

Die Reaktion seinerseits nun war noch schlimmer: Er schob mich beiseite und verschwand in einem grünen Häuschen zwischen den Bussteigen, was mich kurzzeitig auf den abwegigen Gedanken als Erklärungsmuster für dieses ansonsten unverständliche Verhalten brachte, dass er vielleicht gar nicht lesen konnte. Eine Minute später tauchte er wieder auf, in Begleitung eines anderen Mannes, ebenfalls in Dienstkleidung, aber mit einer Dienstmütze bewehrt, die wohl anzeigen sollte, wer hier ab jetzt das Sagen hatte. Ich stellte dieselben Fragen, in derselben Reihenfolge der Sprachen, zeigte dann mein Infopapier, das der beschirmmützte Mann aber keines Blickes würdigte, sondern mit dem Busfahrer nun in einen Disput eintrat, dessen Ergebnis wohl von vornherein feststand: Du fährst jetzt los und nimmst die – gemeint waren wir - einfach mit.

Ich war fast am Ende mit meinem Latein, als wohl ein Engel vorbei flog und mir einen quasi göttlichen Brosamen zuteil werden ließ: Da stand doch irgendwo der Name der Kirche, welche sich unmittelbar an der Piazza di Porta S. Paola befand. Richtig: S. Giovanni dei Fiorentini!
Kaum hatte ich diesen Namen radebrechend ausgesprochen, fuhr scheinbar derselbe gute Engel oder Geist durch unsere beiden Männer vom öffentlichen Nahverkehr: Ihre Mienen entspannten sich, die Augen leuchteten, die Körperhaltung wechselte von abwehrend auf freundschaftlich: Diese Kirche kannten die beiden offensichtlich und schienen sie in bester Erinnerung zu haben! „Si, si… S. Giovanni dei Fiorentini!“ Und mit einer einladenden Geste führte der Busfahrer wie ein Restaurantbesitzer uns als seine Gäste zur Tür seine Busses zurück und saß wie die Inkarnation der drei Tugenden Freundlichkeit, Höflichkeit und Aufmerksamkeit auf seinem Chefsessel, die Hände fest ums Lenkrad geschlungen, mit dem uns heile durch die Nacht zu manövrieren er zutiefst entschlossen und notfalls zu allem bereit zu sein schien.

Dass wir den Busfahrer mit unserem Problem offensichtlich in seinem Zeitplan ein wenig zurückgeworfen hatten, wurde mir klar, als er mit Vollgas die erste Kurve nahm. Vielleicht aber war er auch einfach nur froh und ein wenig ausgelassen, anderen Menschen geholfen zu haben, vielleicht lag es aber auch daran, dass er so viele junge Damen durch die Nacht kutschieren durfte. Wer vermag schon in das Herz eines Menschen zu schauen? Jedenfalls machte sein Fahrstil auf „meine“ Damen Eindruck, sodass mich eine von ihnen mit leicht angsterfülltem Blick fragte: „Fahren die hier immer so?“ – „Nur donnerstags!“, antwortete ich. - Mehr war dazu nicht zu sagen!

An der besagten Haltestelle machte er uns dann lautstark darauf aufmerksam, dass wir hier aussteigen müssten, und winkte noch über die Schulter, als er mit seinem nun leeren Bus wie der lonesome Hero des städtischen Nahverkehrs im Dunkel der Nacht verschwand.

Wir wechselten die Straßenseite und betraten den kleinen Busbahnhof, auf dem zwei Busse standen. Einmal der 881er, beleuchtet, aber noch gänzlich unbemannt, und daneben der Bus mit der seltsamen Nummer 40/. Der nette Mensch von der Pilgerstelle hatte für uns notiert, dass wir sowohl die Linie 881, 98 sowie Nr. 40 B nehmen könnten – aber waren 40 B und 40/ dasselbe? War es nicht möglich, dass dieser kleine, aber feine Unterschied nach den Ziffern uns in ganz andere Himmelsrichtungen führte?

Die Antwort auf meine quälenden Fragen lag einzig bei meinem zweiten Lehrmeister, den ich in diesem Augenblick aber noch nicht als solchen erkannte, da ich mich noch zu sehr durch den äußeren Schein seiner Uniform blenden ließ und ihn so irrtümlicherweise für den Busfahrer hielt.
Nach den babylonischen Sprachverdrehungen mit dem letzten Meister am Termini hielt ich es für ratsam, sich nicht lange mit der Diskussion um Feinheiten (/ = B?) aufzuhalten, sondern gleich medias in res zu gehen. Der Mann saß auf seinem Fahrersessel, das Gesicht in die aufs Lenkrad gestützten Hände gelegt, und sah starr vor sich hin, was sich auch nicht änderte, als ich ganz nah an das Fenster auf der Fahrerseite getreten war. Keine Bewegung, keine Regung: Nichts! Vielleicht war er in ein Gebet vertieft oder versuchte mittels Zazen das Nirwana zu erreichen, um der Einsamkeit der römischen Nacht zu entfliehen? Vielleicht war er vor seiner Wiedergeburt ein buddhistischer Mönch gewesen, der es an Spiritualität hatte mangeln lassen und der nun in Rom als Busfahrer dafür Buße tun musste (was von der Vorsehung dann geschickt eingefädelt worden wäre), vielleicht hatte er auch ein Gelübde abgelegt oder er übte sich in Körperbeherrschung?
Vielleicht hatte er aber auch nur eine Pause, dachte an seine Liebste oder an seine Familie und sah demzufolge keine Notwendigkeit, sich unnötigerweise zu bewegen?

Ich klopfte vorsichtig ans Fenster, denn man weiß ja nie, was man bei solch demonstrativ weltabgewandten Menschen mit einem Klopfen lostritt. Er bewegte den Augapfel und damit seine Pupille in meine Richtung, musterte mich kurz, als ob er mich bislang noch nicht bemerkt hätte, entschloss sich dann zur dienstfertigen Form der Freundlichkeit – und öffnete in der Tat das Fenster, was mir den Weg um den Bus herum ersparte. Lang- und behutsam versuchte ich es gleich auf Englisch, ihn danach zu fragen, ob er mit seinem Bus die von mir gesuchte Straße unseres Pilgergästehauses kenne, da ich leider nicht den Namen der Haltestelle wisse. Er drehte mir nun einen Teil des Gesichtes zu, dessen Mienenspiel mich an das Lächeln Buddhas kurz vor Erreichen des neunten Stufe erinnerte, als wollte er sagen: „So, und jetzt das Ganze noch einmal auf Italienisch, wenn’s geht!“

Das Ergebnis der italienisch gefärbten Darlegung meines Anliegens hatte als Ergebnis, dass er den Kopf schüttelte. Offensichtlich hatte er mich nicht verstanden – aber worüber hatte er dann den Kopf geschüttelt? Musste er dann nicht doch etwas verstanden haben? Ich griff zum Stadtplan, zeigte ihm, wo wir uns gerade befanden und wohin wir wollten: Die Via di San Agatone di Papa bog direkt von der breiten und von ihm befahrenen Hauptstraße Via Gregorio VII ab. Ob er vielleicht wisse, wie die dazugehörige Haltestelle heiße oder, besser noch, ob er uns dort ein Zeichen geben könne, dass wir aussteigen sollten?
Seine Augen weiteten sich, strahlten Verständnis aus und ließen mein jugendnärrisch’ Herz für einen kurzen Moment lang hoffen, er hätte mich verstanden. Aber der gewiefte Leser hat es schon dem Konjunktiv II entnommen: Dem war nicht so – das heißt nicht ganz, denn der anscheinend auf östliche Weisheitslehren ausgerichtete Busfahrer hatte schon etwas Entscheidendes in meinen Worten wieder erkannt: Den Namen der Straße, die er mit seinem Bus befuhr: Gergorio VII.
Er wiederholte den Namen der Straße und fügte wie die Unterschrift unter einen Staatsvertrag ein klares und kräftiges „Si!“ hinzu. Dabei ließ er seine Finger im Stakkato auf das Lenkrad niederfallen, als säße er an einem Klavier. Ich probierte es noch einmal mit dem Stadtplan, um ihm zu verdeutlichen, das ich seine Hilfe beim Finden der Straße bzw. der dazugehörigen Haltestelle bräuchte. Aber er zeigte das gleiche Verhalten wie zuvor, hörte wie abwesend zu und reagierte nur bei „Via Gregorio VII“. Vielleicht war das sein Lieblingspapst.

Als einer der Schüler, der das Gespräch mit einem leichten Bangen – denn die Frage, wo er heute Nacht schlafen würde, hing ja davon ab – verfolgt hatte, dann fragte, ob der Fahrer mit seinem Bus die Via Gregorio VII entlang fahre, musste ich mich doch zu einem Lächeln zwingen.

Um den Lauf in Punkto „Bildung“ hier abzukürzen und zu einem Ende zu führen: Am nächsten Abend zeigte sich bei meinem dritten Lehrmeister, der ebenfalls als Busfahrer des „atac“ auftrat, dieselbe Verhaltenswiese. Diesmal war es die Linie 98, aber sonst dasselbe Spiel: Bei „Via Gregorio VII“ erschien das bewusste Leuchten in den Augen – interessant war nur, dass ich mir am Morgen den Namen „unserer“ Haltestelle gemerkt hatte, der Fahrer mit dem Namen „San Damaso“ aber auch gar nichts anzufangen wusste. Offensichtlich kannte auch er nicht den Namen der Haltestelle – was mich dann auf den Gedanken und zur Einsicht führte: Dass diese drei Busfahrer offensichtlich nicht die Namen der Haltestelen kannten. Das hatte ich für äußerst unwahrscheinlich gehalten, aber nun wurde mir gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit nicht immer aus Seiten der Wirklichkeit sich befindet.

Zwar hatte ich mir vorsorglich auf dem Fahrplan des atac die Anzahl der Haltestellen bis zu „unserem“ Gästehaus gemerkt, aber da es mittlerweile auf 22 Uhr zuging und kaum noch Fahrgäste unterwegs waren, sah der Busfahrer keinerlei Notwendigkeit, die unbenötigten Haltestellen anzufahren. So brauchte ich auch gar nicht weiter mitzuzählen, wie ich dann feststellte, als wir am Bahnhof des Vatikans vorbeifuhren.

Und so blieb am Ende nur noch ein Leitstern bei unserer ungewissen Tour durchs nächtliche Rom: Das eigene Gefühl, dem zu vertrauen in der heutigen Zeit zunehmend schwer fällt. Aber hier und jetzt war es gefordert, denn der Käpt’n da vorne, am Lenkrad, kannte zwar die Richtung, nicht aber den Kurs.
Der Blick durchs Busfenster hinaus in die römische Nacht brachte nicht den erhofften erhellenden Ausblick – doch als der Bus hielt, gab ich das Kommando: „Aussteigen!“
Da ich als erster draußen war, blieben mir Sekunden, um nach der Seitenstraße zu suchen, die direkt an der Haltestelle von der Hauptstraße abzweigen sollte. Nichts, da bog nichts ab, zumindest war da nichts zu sehen von dem Bussteig in der Mitte der Straße aus über drei Fahrbahnen hinweg. Was ich nicht wusste, aber doch gefühlt hatte: Es war die richtige Haltestelle gewesen! Aber wenn die Intuition anfängt, sich auf den Verstand zu verlassen und nach Beweisen zu suchen, kann sie gleich aufhören.

Also wieder zurück, wer wusste, wie lange es dauern würde, bis der nächste Bus käme!
„Wir fahren noch eine Station und laufen dann gegebenenfalls zurück!“
Die Schüler schauten mich ungläubig an und kehrten etwas irritiert zurück, einige hatten von dem zentralen Problem noch gar nichts mitbekommen. Zugleich fiel mein Blick auf die Kollegin, die seit Mittag nichts mehr gegessen hatte und nun zusehends an Kondition verlor und in sich gesunken, auf den Koffer gestützt noch dasaß.
„Geht’s?“ – Ein müdes Lächeln: „Ja, wir sind ja auch gleich da. – Hoffe ich…“ Ihren Humor hatte sie sich noch erhalten.
An der nächsten Halt dann alle raus aus dem Bus „Jetzt echt?“ – „Echt!“ Gegenüber vier Passanten vor Mc Donald’s gefragt, Stadtplan gezeigt: Vier Meinungen, drei Richtungen. Ich entschied mich für die Richtung, für welche zwei Frauen stimmten, da sie mir ihre Sichtweise stimmig begründen, wenn auch nicht am Stadtplan festmachen konnten. Aber es war die Richtung, aus der wir kamen, wo ich mich auf mein Gefühl verlassen hatte…

Wir wanderten also zurück und kamen glücklich an. Die Nonnen erwarteten uns bereits und waren sehr freundlich, eine konnte sogar fließend Englisch. Die Zimmer waren wunderbar. alles in Ordnung – bis auf den nun allmählich besorgniserregenden Zustand der Kollegin.

Unser netter Mensch von der Pilgerstelle hatte vorsorglich auch an solche Fälle gedacht und uns die Telefonnummer des für dieses Viertel zuständigen deutschsprachigen Arztes notiert.

Wir mussten ihn in der Nacht noch anrufen – und er kam auch gleich am nächsten Morgen.
 
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Genial :lol::lol::lol::lol::lol:
Dass ich das noch einmal zu einem Pädagogen sagen muss, trifft mich hart, aber nochmals : Genial :lol::lol::lol::lol::lol:
Ich freue mich schon auf weitere Folgen:nod::nod::nod::nod:
Gordian
 
Genial :lol::lol::lol::lol::lol:
Dass ich das noch einmal zu einem Pädagogen sagen muss, trifft mich hart, aber nochmals : Genial :lol::lol::lol::lol::lol:
Ich freue mich schon auf weitere Folgen:nod::nod::nod::nod:
Gordian
Diesen Worten ist nichts hinzuzufügen !

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Ich habe (leider) damals nicht das (an unserer Schule ansonsten durchaus übliche) "Vergnügen" genossen, die Abi-Reise nach Rom zu machen - mit 13 Schülern hätte es magister noster vermutlich etwas einfacher gehabt - aber mit Ihnen wäre ich gern in die Urbs gefahren !

Ich freue mich auf weitere lebhafte Schilderungen :!: 8) :!:

Gruß

Friedrich
 
Gratulation auch zum 2. Teil deines Reiseberichtes - :thumbup::nod::thumbup:
fühlte mich beim lesen wie live dabei - weiter so:nod:

liebe Grüße
Annie
 
Und wieder: Gerne streife ich mit euch allen durch Rom, dank scriptors geschmeidiger Feder (oder dank scriptors gechmeidig über die Tastatur gleitender Finger)!


lg

Paganus
 
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