Drei Monate in Rom

Vaxim

Civis Romanus
Meine werten Romfreunde und –Freundinnen,

Ich stecke in der 7. Woche und damit in der zweiten Hälfte meines Rom-Abenteuers und mittlerweile beherrsche ich das Alleinsein ganz ordentlich. Am Anfang schienen die 3 Monate eine unendliche Zeit zu sein und mehr als einmal kamen Zweifel auf, ob sich dieses Experiment denn auch lohnen würde, getrennt von den Lieben und Freunden zuhause, alleine in einer Wohnung am Stadtrand von Rom zu leben und zu schauen, was passiert? Aber solche Gedanken verflüchtigen sich immer rasch, wenn ich wieder in die Fülle von Leben, Antike, Grossstadt – in die römische Italianità eintauche, wobei „Schauen“ alleine wohl nicht genügt hätte! Das Internet liefert alle Informationen um sich zurechtzufinden, und dann ziehe ich los mit wachen Augen und offenem Geist und siehe da, unglaublich was man in einer solchen Weltstadt alles entdeckt! Das Stadt-Wandern (und Treppensteigen! ich habe ausgerechnet, dass ich nur über Treppen schon über 2000 Höhenmeter bewältigt habe :x) ist zu einer Passion geworden, der ich ein paarmal pro Woche fröne. Nicht nur im antiken Zentrum, auch in Vorstädten und Parks und Dörfern ausserhalb. Auch das Velofahren entlang der abenteuerlichen Bici-Piste am Tiber von Süden bis in den Norden der Stadt ist ein ganz besonderes Erlebnis und bringt einen in Gegenden und zu Aus- und Einsichten, die „normalen“ Touristen wohl immer verborgen bleiben. Die Ergebnisse meiner Betrachtungsweise halte ich in meiner Rom-Fotogalerie fest.

Mich interessiert besonders das römische Volk, dessen jüngere Geschichte, die Politik und die Verwaltung einer Grossstadt, das Alltagsleben und das Ganze eingebettet in das Weltkulturerbe, das diese Stadt ausmacht. Als Abwechslung zur Überfülle aus der Antike gibt es den Parco della Musica wo ich schon zweimal im Römer „KKL“ das Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia hören durfte. Das Teatro dell’Opera hatte die Nussknacker im Programm, aber das Angebot ist überraschend kümmerlich. Eine Entdeckung, war der prätentiöse Bau für zeitgenössische Kunst von Zaha Hadid. Kein Wunder, belief sich doch der Kostenvoranschlag von 40 Mio€ auf ca. ¼ der Schlussrechnung. Aber das Gebäude, besonders bei Nacht, ist eine Augenweide (und der Inhalt moderne Kunst). Ziemlich laut zu und her ging es im Olympiastadion wo AS Roma gegen den AC Chievo 2:0 gewonnen hat und die 40‘000 Tifosi und ich zur AS-Roma-Hymne aufstehen mussten. Lärm-Immunität kann man sich in vielen Kaffeebars und in kleinen Restaurants antrainieren. Nicht ganz so laut, aber doch weniger ruhig als bei uns geht es im Kino zu und her. Schön ruhig ist es meist in den über 130 Kirchen innerhalb der Aurelianischen Stadtmauern. Und Totenstille herrscht nur in einigen speziellen Museen, die abseits des Touristenstromes liegen; ich war öfters der einzige Besucher, zur Freude oder Unlust des Personals, das durch mein Auftauchen gestört wurde.

Das Sich Bewegen in der Stadt und in der Umgebung wird durch den dichten, aber unzuverlässigen öV leicht gemacht, wenn man Zeit hat, und die habe ich! Ein Monats Abo auf allen Metro-, Bahn-, und Busstrecken kostet 30€. Mit jedem Tag hier in Rom fällt einem das Warten auf einen Bus oder das Tram leichter, denn man wird „Römer“, auf jeden Fall was das stoische Warten anbetrifft. Ich würde gerne auch Römer sein was die Sprache anbelangt! Meine grossen Anstrengungen, diese Sprache zu ergründen und mühsam jeden Tag meine Lektionen zu absolvieren und Zeitungen, Führer und Bücher nur auf Italienisch zu lesen, scheinen vergebene Liebesmühen zu sein. Mario Monti am Fernsehen zu verstehen ist nicht so schwer, aber die meisten andern sprechen den Römer-Dialekt „Romanesco“, der in etwa dem Oberwalliser Dialekt gleichkommen könnte. Kommunikation und Austausch sind daher etwas schwierig, die Römer hier in der Gegend sind zudem eher verschlossen und erschrecken manchmal fast, wenn ich eine Bemerkung mache. Aber in den letzten Tagen hat sich das etwas geändert, ein paar gute Kontakte und Gespräche haben mir Mut gemacht, weiterhin hartnäckig dranzubleiben. Die Tagesschau auf Tg2 klappt schon ganz ordentlich, vor allem, wenn ich die Schlagzeilen und Artikel in „Il Tempo“ vorher etwas durchgeackert habe.

Wenn ich der antiken Pracht Roms überdrüssig werde, flüchte ich aufs Land wo es viel ruhiger und beschaulicher ist. Das meist sonnige und frühlingshaft warme Wetter hat diese Ausflüge natürlich begünstigt. Die herrlichen Palazzi von Hadrian und die Villa d‘Este in Tivoli, östlich von Rom, waren eine Augenweide und der Palazzo Farnese in Caprarola einer der Gründe, warum sich Luther seinerzeit in Rom über das Luxusleben der Kardinäle und Päpste so aufgeregt haben soll. In der Altstadt von Viterbo fühlt man sich um Jahrhunderte zurückversetzt ins frühe Mittelalter, begleitet sogar von etruskischen Spuren an Bauten und Plätzen. Ein besonderes Erlebnis war der Besuch des Luftfahrtmuseums in Vigna di Valle am Lago di Bracciano, mit Ausstellungsobjekten und deren Präsentation, die sich wirklich sehen lassen können. In Castelgandolfo hat sich der Papst einen sehr schönen Sommersitz am Lago Albano ausgesucht, oben in der Kühle der ersten Abruzzenhügel. Als Lohn für den steilen Aufstieg auf den 540m hohen Monte Cicerio, durfte ich eine fantastische Aussicht geniessen. Der markante Berg fällt steil ins Meer ab und befindet sich im gleichnamigen Parco Naturale, südlich von Rom. Etwas niedergeschlagen kehrte ich von einem Besuch in der Stadt L’Aquila zurück, wo 2009 ein starkes Erdbeben fast die gesamte Altstadt verwüstet und Dom und Basiliken einstürzen liess. Die Menschen sind irgendwo, die Altstadt ist leer und tot. Die Gebäude sind zwar gesichert, aber es scheint mit den Baustellen nicht vorwärts zu gehen. Die Receptionistin im Hotel beklagte sich bitterlich, dass das Geld für Renovation und Wiederaufbau vorhanden wäre, aber nichts passiere. Diese Stadt wieder aufzubauen ist eine Herkulesarbeit!

Und die Römer? Tja, das Leben hier ist voller Widersprüche! Birgit Schönau schreibt in ihrem Buch „Gebrauchs-anweisung für Rom“ (äusserst empfehlenswert auch für nicht Romfahrer!) „.. dass ROMA rückwärts gelesen AMOR bedeute ist eine bewusste Irreführung. Denn Rom ist alles andere als romantisch, … da braucht man Pragmatismus, eine gewisse Skrupellosigkeit und robuste Ellenbogen… Rom ist die personifizierte Gleichgültigkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit“. Und damit wäre sehr viel gesagt. Aber ich staune immer wieder, wenn ich in der U-Bahn beobachte, wie junge Leute aufstehen, wenn Alte sich setzen möchten (passiert das noch in unseren Bussen?) oder die Leute am Container ihre Flaschen, Plastik und übrigen Abfall aussortieren, oder ich noch nie jemanden in einem Lokal oder in der U-Bahn habe rauchen sehen. Trotzdem ist das Leben in Rom ein permanentes Gerangel, das sich vor allem im Verkehr auf jedem Meter bemerkbar macht. Man stoppt zwar vor Rot – vor 25 Jahren haben wir das noch nicht so beobachtet – aber die Fussgängerstreifen seien, gemäss römischem Automobilisten, reine Geldverschwendung für Strassenmalereien. Als Fussgänger braucht es etwas Mut und in einer Art gegenseitiger Koordination kommt man heil über die Strasse, ohne dass der eilige Auto- und vor allem, Rollerfahrer, abbremsen müsste. Aber auch auf dem Trottoir findet das Gerangel seine Fortsetzung, die Römer(innen) gehen prinzipiell nicht zur Seite, klar, sie sehen dich ja gar nicht! Gleichgültigkeit, siehe oben! Aber wenn man dann einmal in einer Gruppe „aufgenommen“ ist, findet ein herzlicher Austausch statt und die Leute entpuppen sich als die nettesten und fürsorglichsten Menschen südlich des Rubikons.

Der Alltag wird deutlich überschattet von der finanziellen Situation, in der sich Italien befindet und die von der Regierung Monti erarbeiteten Massnahmen scheinen die durchschnittliche Familie eindeutig zu schmerzen. Die MwSt. ist bei 21% und viele andere Steuern auf allen möglichen Produkten wurden auf den 1. Jan. erhöht. Über 150‘000 hätten schon ihre Nummernschilder zurückgegeben, lese ich in Il Tempo, und täglich findet in der Stadt eine Demo oder ein partieller Streik statt, der den Unmut einer Volksgruppe kundtut, aber auch Ausdruck ist von grosser Angst, langjährige Privilegien zu verlieren. Artikel 18 des Italienischen Arbeitsgesetztes von 1970 setzt sehr enge Grenzen für die Entlassung von Angestellten und dieser Artikel soll jetzt revidiert werden – ein Vorgang, der alle Aspekte der Innenpolitik umfasst. Was vielen aufstösst ist die Tatsache, dass die oberen 10‘000 sichtlich immer wieder verschont werden und der ehrliche Mann von der Strasse bluten soll. „Sono tutti delinquente abituale“, sagte mir ein Rechtsanwalt. Ausgerechnet ein Rechtsanwalt! Und warum sollen wir noch mehr Steuern bezahlen, wenn doch der Service Public jetzt schon so schlecht ist, dass man alles privatisieren müsste? Ja, warum? In meinem Quartier macht sich das bemerkbar durch Plakate, die zu Versammlungen und Aktionen aufrufen. Ein Thema hier ist auch der schlechte Zustand der Häuser, die anscheinend teilweise vom Staat bewirtschaftet werden. Private möchten Renovationen machen, aber dann steigen die Mietpreise und die Leute werden noch weiter an die Peripherie verdrängt. Haben wir das nicht auch schon irgendwo gehört?

Und da ist noch die Frage nach der Sicherheit, die ich immer wieder höre, seit der Römer Korrespondent der NLZ einen entsprechenden Artikel geschrieben hat. Bei den besagten Verbrechen handelt sich meistens um das Krebsgeschwür der Pizzi, Schutzgelderpressung, wovon vor allem die kleinen Commerciante betroffen sind. Viele zahlen, wer nicht bezahlt wird bedrängt oder gar ermordet, wie das vorletzte Woche passiert ist. Die Behörden werden der Seuche, die sich im letzten Jahr deutlich ausgebreitet habe, nicht Herr. Das ist sehr traurig und zeigt leider auch, wohin Gleichgültigkeit und Korruption führen können. Für das Alltagsleben sind diese Sachen aber nicht spürbar, wenn man etwas aufpasst und vorsichtig ist, geschieht einem hier so wenig wie in Luzern auf der Bahnhofstrasse. So hoffe ich wenigstens! :p
Ebenso hoffe ich, mit diesem Newsletter einen kleinen Einblick in meine Erfahrungen und Erkenntnisse gegeben zu haben, mehr als hinschauen und beschreiben liegt ja nicht drin, da müsste man Römer sein und schon immer hier gelebt haben, aber ob ich da tauschen möchte? Mh, wir leben in der Schweiz im Paradies!

Rom, 21.1.2012 Fredy Rey

Für diejenigen, die in meiner Fotogalerie etwas blättern möchten:
(Dropbox - Photos - Simplify your life).
 
Moin-Moin Vaxim!


VIELEN DANK

:thumbup: :nod: :thumbup: :nod: :thumbup:

für Deine "Zwischenbilanz"


Ich habe sie sehr gerne gelesen

:!::!::!:

und beneide Dich ein wenig um die längere Zeit die Du in Rom verbringen darfst


VIELEN DANK

:thumbup: :nod: :thumbup: :nod: :thumbup:

auch für das Öffnen Deiner Dropbox - leider konnte ich bisher die Bilder nur überfliegen, aber ich glaube, dass ein paar sehr schöne und sehr typische Bilder dabei sind ...

Ich freue mich bald mal wieder etwas von Dir zu lesen


Gruß - Asterixinchen :)
 
Einfach klasse dein Bericht! Ich hoffe, ich kann das auch mal machen, denn davon träume ich jetzt schon. Aber zuvor muss ich wohl noch ein bißchen arbeiten.
 
Hallo Vaxim,

sehr spannend, Dein bisheriges Résumée! :nod:
Es ist doch etwas anderes, wenn man länger dort ist und sich dadurch einfach anders mit beispielsweise politischen oder sozialen Themen beschäftigt.
Schön auch die vielen Ausflüge, die Du machen konntest. :thumbup:

Ich wünsche Dir auch weiterhin eine gute Zeit dort und freue mich auf weitere Berichte!

Liebe Grüße

Angela
 
Ich wünsche dir ebenfalls eine schöne Zeit in Rom.
Ein bisschen beneide ich dich schon... - 3 Monate in Rom...:D

Mann wär das geil...
 
hallo Vaxim,

dein Bericht ist sehr interessant und mal von einer ganz anderen Warte aus betrachtet. Ich finde die Vielfalt der römischen Schichten auch sehr interessant und bin wohl noch lange am Erforschen.

Ich hoffe dass du nun gut zurück in deine Heimat gekommen bist und wünsche dir ein gutes "Ankommen". Bei mir dauert das auch nach kurzen Rom-Aufenthalten immer ein paar Tage.

Danke, dass du mit so wachen Sinnen durch Rom und sein Umland gegangen bist und uns daran teilnehmen lässt. Ich bin gespannt was du weiter berichtest und freue mich auf weitere wunderschöne Bilder.

Tizia
 
Lieber Vaxim,
wie konnte das passieren. Beinahe wäre Dein wunderbarer Bericht unbemerkt an mir vorbei gegangen. Erst die Antwort von Tizia hat mich darauf aufmerksam gemacht. Ich habe mir Freude diesen "ganz anderen" Bericht aufgesogen. Die Zeilen werde ich sicher noch häufiger lesen und die tollen, sehr hochwertigen Bilder immer wieder betrachten.
Ich hoffe sehr, dass Du wohlbehalten nach Hause gekommen bist und uns noch mit dem Bericht der zweiten Hälfte beglückst.
:thumbup::thumbup::thumbup::thumbup::thumbup::thumbup::thumbup::thumbup:​
 
Zuletzt bearbeitet:
Liebe Rombegeisterte,

Ich bin wieder glücklich zuhause und ordne meine Daten, Erlebnisse und Unterlagen. Die vielfältigen Reaktionen auf mein Geschreibsel haben mir Mut gemacht, den zweiten Newsletter, eine Art Fazit, auch ins Forum zu stellen. Viel Spass beim Lesen!
Herzlichst
Vaxim


Roma - Città eterna!

Der Titel sagt es, Rom ist ewig, war schon immer (fast) und wird immer sein, nur schon wegen des Vatikans! Eine interessante Ausgangslage, denn von aussen gesehen, ist diese „Città eterna“ ja alles andere als stabil und potent, und der sie umgebende Staat flösst – vor allem in diesen Zeiten – auch nicht allzu viel Vertrauen ein das Weiterbestehen dieser Stadt für die Ewigkeit garantieren zu können. Zudem ist er in dieser Form erst 150 Jahre alt und funktioniert in einer „Beziehungsdemokratie“, die etwas ausgeprägter sein dürfte als bei uns zuhause, sich aber in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens bemerkbar macht. Umso mehr reizt die Frage: Wie machen die das? Und warum funktioniert das schon so lange und wird es noch eine Zeit lang tun? Im Laufe meiner fast dreimonatigen Beobachtungen meine ich, ein paar Elemente dieses „eterna“ begriffen zu haben. Aber der Leser sei gewarnt: es sind meine Beobachtungen und Interpretationen, vielleicht ist alles ganz anders, oder auch nicht – hier weiss das niemand so genau.
Eines der wichtigsten Dinge, die es hier zu lernen gilt, ist meine Feststellung, dass es zwei Arten von Geset-zen, Vorschriften, Dekreten, Verboten... usw. gibt. Die einen sind ernst gemeint und werden rigoros durchgesetzt, die andern, na ja, sind weniger ernst gemeint. Als obrigkeitstreuer Schweizer hat man ein paar Wochen lang seine liebe Mühe herauszufinden, mit welcher Kategorie man es zu tun hat. Täuschen sollte man sich aber nicht – das kann teuer werden! Ich könnte Beispiele anführen, aber jeder Leser, jede Leserin hat sicher eigene Erfahrungen gemacht in Italien. Dass das System gewisse Vorteile hat, haben z.B. auch die Luzerner Behörden gemerkt, haben wir nicht ein Littering-Verbot? Und..? hat es keinen Dreck mehr auf den Plätzen? ... und wie viele Bussen wurden schon verhängt..? Ecco!
Schnee: Die ausserordentlichen Wetterkapriolen wurden nach den ersten Flocken von den Touristen, aber auch von den Römern, als kurioser Spass interpretiert und entsprechend wurden die Speicherkarten der Fotokameras und Handys gefüllt. Nachdem aber dieser Spass nicht enden wollte und eine bedrohliche Schneeschicht auf Strassen und Trottoirs, auf den Kiefern und Orangenhainen, Denkmälern und Balkons wuchs und wuchs, der Verkehr relativ rasch zum Stillstand kam und die Römerinnen mit ihren eleganten Schuhen balancierten als würden sie über die rohen Steine der Via Appia stöckeln, wurden die Gesichter länger und ernster. Die Nacht senkte sich über Rom und es war noch nie so ruhig in dieser Stadt seit 25 Jahren. Die Natur bastelte weiter an ihrem Werk und legte in Teilen der Stadt einen 35 cm dicken, flockigen Mantel, der nicht allen gut bekam. Nach und nach erwachten die blauen Flashlights und Sirenen, nachdem die Chauffeure die Schneeketten gefunden, resp. montiert hatten, Ambulanzen, Vigili del Fuoco, Polizei, Carabinieri.. wo bleiben die Schneepflüge? Wo die Salzstreuer? Letzteres gibt es nicht und ersteres kam nicht sehr weit, denn die Strassen waren mit schrägstehenden Bussen, Autos mit Sommerreifen, und mit herabfallendem Holz blockiert. Die grosse Schneelast war zu viel für viele Bäume und Büsche und entsprechend bogen sich die Äste, es krachte und stürzte mit Ächzen und Schneewirbeln, die sich mit dem nimmermüden Weiss vom Himmel vermischten.
Am Morgen rieben sich die Verantwortlichen die Augen, überblickten den Schlamassel und zeigten mit dem Finger auf die andern, die nicht gewarnt, nichts vorbereitet, nichts unternommen, nichts... und die Presse hatte ihr Thema; wüste Schuld- und Unschuldsbeteuerung schwappten vom Campidglio (Stadtregierung mit dem Sindaco Gianni Allemanno) zum Zivilschutz der Provinz und zurück. Letzterer hatte 2-3 mm Niederschlag angemeldet und der Sindaco hat Entwarnung gegeben, denn er meinte, 2 bis 3 mm Schnee könnten der Stadt nichts anhaben... und in der Folge rechnete der Zivilschutzchef dem Bürgermeister vor, dass 1mm Niederschlag ca. 10cm Schnee entspreche und dieser sehr wohl gewarnt worden sei usw... Unterdessen hat es mehr als einmal geschneit, Pflüge, Schaufeln und Salz wurden organisiert und das Volk zum freiwilligen Schneeschaufeln animiert, wobei mich interessieren würde, ob dies nur für den eigenen Hauseingang, oder doch noch für einen kleinen Blätz auf der Strasse gedacht war. Das Ganze wird natürlich noch Folgen haben, man will ja schliesslich zeigen, dass man für das reichliche Politikersalär etwas tut, es wird Untersuchungen geben, PUKs werden ins Leben gerufen, Sofortmassnahmen werden beantragt und... dann kommt der Frühling und... richtig! Schnee von gestern!
Tja, Rom, die Römer und die Italiener, auch nach drei Monaten Studium der Italianità kann das Bildnis, das ich mir von unseren südlichen Nachbarn mache, nur ein Bruchstück sein. Die Stadt ist ein hochinteressanter Ameisenhaufen, die Römer sind wie sie sind und mit zurückkehrender Frühlingswärme könnte ich mir vorstellen, so richtig Freude zu kriegen an ihrer Fröhlichkeit und Vivacité, an ihren unglaublichen Tricks und Schlunggs im Strassenverkehr, an ihrer Unverdrossenheit und Gelassenheit in vielen Dingen – es sei denn sie sitzen am Steuer! – an ihrer Hilfsbereitschaft und Auskunftsfreude wenn man an den/die Richtige gerät. So richtig zum Ausdruck bringen diese Lebensfreude die Motorini, wie hier die Roller und Scooter genannt werden. Während der Schneetage wurde kurzerhand ein strenges Fahrverbot verfügt und Rom ward nicht mehr Rom! Die Motorini sind die Seele der Stadt, und wenn man den Römern verbietet durch Boulevards und Gassen zu pfeilen, verbietet man ihnen das Atmen. Ich habe gelesen, dass man bei depressiven Zuständen eher mit der Vespa durch die Stadt flitzt, Luft und Sonne auf einen einwirken lässt statt irgendwelche Antidepressiva zu nehmen... ich kann dem nur zustimmen!
Überaus toll finde ich, dass man in Rom, wo Wasser aus der Röhre fliesst, dies immer und überall bedenkenlos trinken kann. Und es schmeckt erst noch gut. Überhaupt, Essen und Trinken sind eine sehr ernsthafte Sache und ich störte mich nicht gross an der etwas monotonen Palette auf den Speise- und Weinkarten. Aber eines wundert mich doch sehr und enttäuscht mich auch: sobald ein Teller auf dem Tisch ist, wird zugestochen unabhängig davon, wie viele Leute am Tisch sitzen und wer schon etwas vor sich hat. Auch das Weinglas wird sofort an die Lippen geführt – zum Wohl? Vergiss es! Und dies unabhängig ob Mittagslunch im Café-Restaurant oder Rotary-Lunch. Wo bleibt da die Bella Figura? Ich mache hier den Link zum eigenartigen Verhalten des Publikums in der Oper und in der Konzerthalle, wo alle ihre dicken Mäntel, Schals, Hüte, Taschen und weiss ich was auf dem Schoss auftürmen (und viele noch das Handy in der rechten Hand) und so, hinter und über dem Kleiderturm Konzert und Gesang goutieren – dabei wäre die Garderobe gratis, aber man müsste ein wenig anstehen nach der Vorstellung.
Italien hat an Strahlkraft verloren, das weiss die hiesige Führungsschicht und das Thema wurde auch in der Presse nördlich des Gotthards abgehandelt. Es schmerzt die Italiener, wenn ihr Ministerpräsident im übrigen Europa belächelt wird. Aber es braucht nicht immer die hohe Politik zu sein, die die Volksseele trübt; ein Republikaner in Amerika hat Präsident Obama mit dem italienischen Kapitän der Costa Concordia verglichen indem er ihm vorwarf das „Schiff Amerika“ auch verlassen zu haben und zuzuschauen, wie es sinke... ob dem so sei bleibe dahingestellt, aber die Italiener haben diesen Vergleich überhaupt nicht goutiert. Kapitän Schettino habe gepfuscht und werde büssen. Basta! Mit Italien habe dies nichts zu tun, so die Botschaft in der Presse. Der Premier Professore Mario Monti hat in Amerika gesagt, er wolle die Lebensart der Italiener verändern. Er meinte wohl damit, dass dem Volk ein bisschen mehr Effizienz, Ehrlichkeit, Risikobereitschaft und Selbstinitiative nicht schaden könnte. Die italienische Öffentlichkeit hat dies als Angriff auf die Volksseele gewertet und entsprechen waren Reaktionen; die italienische Kultur habe ganz Europa geformt und das lange vor Königreich und EU, ja eigentlich beeinflusse die italienische Kultur seit 2000 Jahren Europa vom Atlantik bis zum Ural und niemand könne je das Selbstverständnis der italienischen Volksseele ändern. Basta! Affaire à suivre!
Leben in Rom? Perché non? Keine grossen Probleme mit dem Internet, das manchmal etwas weite Maschen hat oder mit der italienischen SIM-Karte; problemloses öV-Fahren mit immerhin zwei Billettkontrollen im Bus in drei Monaten; nur eine Liftpanne (13. Stock!) und die Post erreichte mich, wenn die Adresse minutiös übertragen wurde. Summa summarum – man könnte leben hier, umsomehr, wenn man auch ohne Stadtplan weiss, wo man sich befindet, im Restaurant ab dem 4. Besuch persönlich begrüsst wird, an der Coop-Kasse endlich kapiert hat, dass die unausweichliche Frage nicht die Supercard betrifft, sondern eine „busta“, (dünne Plastiktragtasche), und man schliesslich ziemlich genau weiss, wann die Rush-hour beginnt und man besser vorher die U-Bahn nach Hause nimmt.
Doch all dem zum Trotz, ich sehne mich nun wieder nach meinen heimischen Gefilden und den Lieben zuhause. Ich kehre zurück mit einer reich befrachteten Harddisk, vielen Erlebnissen, überraschenden Einblicken und mehr Verständnis für das Wesen der Italiani, deren Sprache zu verstehen ich leider immer noch Mühe habe. Aber Kommunikation ist, wenn Austausch besteht – und das habe ich probiert, immer wieder!

Rom, den 21. Febr. 2012; Fredy Rey
 
Lieber Vaxim,
das liest sich alles so toll! Ich hoffe ganz doll, dass ich auch mal die Gelegenheit haben werde so etwas Schönes zu machen.
 
Moin - Moin Vaxim!


VIELEN DANK

:thumbup: :nod: :thumbup: :nod: :thumbup:

für Deine "gesammelten Erfahrungen" Deines Romaufenthaltes - ich habe es interessiert gelesen ...
(es ist ein Doppelposting geworden - soll jemand dieses entfernen?)

und

HERZLICH


ZURÜCK

Gruß - Asterixinchen :)
 
:thumbup:

Herzlichen Dank für den eindrucksvollen Bericht!
So stelle ich mir Rom und die Menthalität der Römer vor! ;)


Viele Grüße

Helmut
 
Danke Fredy,

auch in diesem Fazit steckt viel drin um weiter drüber nachzudenken, den Text immer wieder mal zu lesen und beim nächsten Rom-Besuch aufmerksam die Römer zu betrachten.

Ich werde bei einem meiner nächsten Rom-Besuche auf jeden Fall mal die modernen architektonischen Kunstgebäude besuchen und den Tiber mit dem Fahrrad gen Norden hochfahren.

Liebe Grüße

Tizia
 

Ebenso hoffe ich, mit diesem Newsletter einen kleinen Einblick in meine Erfahrungen und Erkenntnisse gegeben zu haben, mehr als hinschauen und beschreiben liegt ja nicht drin, da müsste man Römer sein und schon immer hier gelebt haben, aber ob ich da tauschen möchte? Mh, wir leben in der Schweiz im Paradies!


Ja, das ist Dir sehr gut gelungen:!: Vielen Dank für den aufschlussreichen Bericht und die sozialkritischen Anmerkungen.
Auch wir in der BRD leben - obwohl vieles verbessert werden kann und muss - in einer Art Paradies oder Glashaus und sollten froh darüber sein, meint

mystagogus
 
Das entspricht ganz und gar auch meiner Ansicht. Weswegen ich für meinen Teil weiterhin dabei bleibe: Rom erleben als Deutscher, für einen kürzeren oder auch längeren Aufenthalt - jederzeit herzlich gerne! :nod: :thumbup: Aber auf Dauer dorthin ziehen und womöglich auch noch die italienische Staatsbürgerschaft erwerben ... nein, das dann doch lieber nicht. ;)
 
Hallo Asterixinchen

Vielen Dank für die fröhlichen Rückmeldungen. Da Du ja sowas bist wie eine gute Fee im Hintergrund möchte ich Dich bitten, mein Doppelposting auf einen Eintrag zu reduzieren.
Mit bestem Dank und Gruss
Vaxim
 
Ja, eigene Beiträge zu löschen ist kein Problem; dazu braucht man niemanden von der Forums-Leitung. Einzig dann, wenn der betr. Beitrag der erste eines neuen Threads ist, dann geht es nicht. :idea: ;)

Dito einen eigenen Thread-Titel ändern, der älter als 2 Stunden (?) ist: Auch das kann man nicht ohne Hilfe seitens der Moderatoren.
 
Zurück
Oben