Vaxim
Civis Romanus
Meine werten Romfreunde und –Freundinnen,
Ich stecke in der 7. Woche und damit in der zweiten Hälfte meines Rom-Abenteuers und mittlerweile beherrsche ich das Alleinsein ganz ordentlich. Am Anfang schienen die 3 Monate eine unendliche Zeit zu sein und mehr als einmal kamen Zweifel auf, ob sich dieses Experiment denn auch lohnen würde, getrennt von den Lieben und Freunden zuhause, alleine in einer Wohnung am Stadtrand von Rom zu leben und zu schauen, was passiert? Aber solche Gedanken verflüchtigen sich immer rasch, wenn ich wieder in die Fülle von Leben, Antike, Grossstadt – in die römische Italianità eintauche, wobei „Schauen“ alleine wohl nicht genügt hätte! Das Internet liefert alle Informationen um sich zurechtzufinden, und dann ziehe ich los mit wachen Augen und offenem Geist und siehe da, unglaublich was man in einer solchen Weltstadt alles entdeckt! Das Stadt-Wandern (und Treppensteigen! ich habe ausgerechnet, dass ich nur über Treppen schon über 2000 Höhenmeter bewältigt habe :x) ist zu einer Passion geworden, der ich ein paarmal pro Woche fröne. Nicht nur im antiken Zentrum, auch in Vorstädten und Parks und Dörfern ausserhalb. Auch das Velofahren entlang der abenteuerlichen Bici-Piste am Tiber von Süden bis in den Norden der Stadt ist ein ganz besonderes Erlebnis und bringt einen in Gegenden und zu Aus- und Einsichten, die „normalen“ Touristen wohl immer verborgen bleiben. Die Ergebnisse meiner Betrachtungsweise halte ich in meiner Rom-Fotogalerie fest.
Mich interessiert besonders das römische Volk, dessen jüngere Geschichte, die Politik und die Verwaltung einer Grossstadt, das Alltagsleben und das Ganze eingebettet in das Weltkulturerbe, das diese Stadt ausmacht. Als Abwechslung zur Überfülle aus der Antike gibt es den Parco della Musica wo ich schon zweimal im Römer „KKL“ das Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia hören durfte. Das Teatro dell’Opera hatte die Nussknacker im Programm, aber das Angebot ist überraschend kümmerlich. Eine Entdeckung, war der prätentiöse Bau für zeitgenössische Kunst von Zaha Hadid. Kein Wunder, belief sich doch der Kostenvoranschlag von 40 Mio€ auf ca. ¼ der Schlussrechnung. Aber das Gebäude, besonders bei Nacht, ist eine Augenweide (und der Inhalt moderne Kunst). Ziemlich laut zu und her ging es im Olympiastadion wo AS Roma gegen den AC Chievo 2:0 gewonnen hat und die 40‘000 Tifosi und ich zur AS-Roma-Hymne aufstehen mussten. Lärm-Immunität kann man sich in vielen Kaffeebars und in kleinen Restaurants antrainieren. Nicht ganz so laut, aber doch weniger ruhig als bei uns geht es im Kino zu und her. Schön ruhig ist es meist in den über 130 Kirchen innerhalb der Aurelianischen Stadtmauern. Und Totenstille herrscht nur in einigen speziellen Museen, die abseits des Touristenstromes liegen; ich war öfters der einzige Besucher, zur Freude oder Unlust des Personals, das durch mein Auftauchen gestört wurde.
Das Sich Bewegen in der Stadt und in der Umgebung wird durch den dichten, aber unzuverlässigen öV leicht gemacht, wenn man Zeit hat, und die habe ich! Ein Monats Abo auf allen Metro-, Bahn-, und Busstrecken kostet 30€. Mit jedem Tag hier in Rom fällt einem das Warten auf einen Bus oder das Tram leichter, denn man wird „Römer“, auf jeden Fall was das stoische Warten anbetrifft. Ich würde gerne auch Römer sein was die Sprache anbelangt! Meine grossen Anstrengungen, diese Sprache zu ergründen und mühsam jeden Tag meine Lektionen zu absolvieren und Zeitungen, Führer und Bücher nur auf Italienisch zu lesen, scheinen vergebene Liebesmühen zu sein. Mario Monti am Fernsehen zu verstehen ist nicht so schwer, aber die meisten andern sprechen den Römer-Dialekt „Romanesco“, der in etwa dem Oberwalliser Dialekt gleichkommen könnte. Kommunikation und Austausch sind daher etwas schwierig, die Römer hier in der Gegend sind zudem eher verschlossen und erschrecken manchmal fast, wenn ich eine Bemerkung mache. Aber in den letzten Tagen hat sich das etwas geändert, ein paar gute Kontakte und Gespräche haben mir Mut gemacht, weiterhin hartnäckig dranzubleiben. Die Tagesschau auf Tg2 klappt schon ganz ordentlich, vor allem, wenn ich die Schlagzeilen und Artikel in „Il Tempo“ vorher etwas durchgeackert habe.
Wenn ich der antiken Pracht Roms überdrüssig werde, flüchte ich aufs Land wo es viel ruhiger und beschaulicher ist. Das meist sonnige und frühlingshaft warme Wetter hat diese Ausflüge natürlich begünstigt. Die herrlichen Palazzi von Hadrian und die Villa d‘Este in Tivoli, östlich von Rom, waren eine Augenweide und der Palazzo Farnese in Caprarola einer der Gründe, warum sich Luther seinerzeit in Rom über das Luxusleben der Kardinäle und Päpste so aufgeregt haben soll. In der Altstadt von Viterbo fühlt man sich um Jahrhunderte zurückversetzt ins frühe Mittelalter, begleitet sogar von etruskischen Spuren an Bauten und Plätzen. Ein besonderes Erlebnis war der Besuch des Luftfahrtmuseums in Vigna di Valle am Lago di Bracciano, mit Ausstellungsobjekten und deren Präsentation, die sich wirklich sehen lassen können. In Castelgandolfo hat sich der Papst einen sehr schönen Sommersitz am Lago Albano ausgesucht, oben in der Kühle der ersten Abruzzenhügel. Als Lohn für den steilen Aufstieg auf den 540m hohen Monte Cicerio, durfte ich eine fantastische Aussicht geniessen. Der markante Berg fällt steil ins Meer ab und befindet sich im gleichnamigen Parco Naturale, südlich von Rom. Etwas niedergeschlagen kehrte ich von einem Besuch in der Stadt L’Aquila zurück, wo 2009 ein starkes Erdbeben fast die gesamte Altstadt verwüstet und Dom und Basiliken einstürzen liess. Die Menschen sind irgendwo, die Altstadt ist leer und tot. Die Gebäude sind zwar gesichert, aber es scheint mit den Baustellen nicht vorwärts zu gehen. Die Receptionistin im Hotel beklagte sich bitterlich, dass das Geld für Renovation und Wiederaufbau vorhanden wäre, aber nichts passiere. Diese Stadt wieder aufzubauen ist eine Herkulesarbeit!
Und die Römer? Tja, das Leben hier ist voller Widersprüche! Birgit Schönau schreibt in ihrem Buch „Gebrauchs-anweisung für Rom“ (äusserst empfehlenswert auch für nicht Romfahrer!) „.. dass ROMA rückwärts gelesen AMOR bedeute ist eine bewusste Irreführung. Denn Rom ist alles andere als romantisch, … da braucht man Pragmatismus, eine gewisse Skrupellosigkeit und robuste Ellenbogen… Rom ist die personifizierte Gleichgültigkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit“. Und damit wäre sehr viel gesagt. Aber ich staune immer wieder, wenn ich in der U-Bahn beobachte, wie junge Leute aufstehen, wenn Alte sich setzen möchten (passiert das noch in unseren Bussen?) oder die Leute am Container ihre Flaschen, Plastik und übrigen Abfall aussortieren, oder ich noch nie jemanden in einem Lokal oder in der U-Bahn habe rauchen sehen. Trotzdem ist das Leben in Rom ein permanentes Gerangel, das sich vor allem im Verkehr auf jedem Meter bemerkbar macht. Man stoppt zwar vor Rot – vor 25 Jahren haben wir das noch nicht so beobachtet – aber die Fussgängerstreifen seien, gemäss römischem Automobilisten, reine Geldverschwendung für Strassenmalereien. Als Fussgänger braucht es etwas Mut und in einer Art gegenseitiger Koordination kommt man heil über die Strasse, ohne dass der eilige Auto- und vor allem, Rollerfahrer, abbremsen müsste. Aber auch auf dem Trottoir findet das Gerangel seine Fortsetzung, die Römer(innen) gehen prinzipiell nicht zur Seite, klar, sie sehen dich ja gar nicht! Gleichgültigkeit, siehe oben! Aber wenn man dann einmal in einer Gruppe „aufgenommen“ ist, findet ein herzlicher Austausch statt und die Leute entpuppen sich als die nettesten und fürsorglichsten Menschen südlich des Rubikons.
Der Alltag wird deutlich überschattet von der finanziellen Situation, in der sich Italien befindet und die von der Regierung Monti erarbeiteten Massnahmen scheinen die durchschnittliche Familie eindeutig zu schmerzen. Die MwSt. ist bei 21% und viele andere Steuern auf allen möglichen Produkten wurden auf den 1. Jan. erhöht. Über 150‘000 hätten schon ihre Nummernschilder zurückgegeben, lese ich in Il Tempo, und täglich findet in der Stadt eine Demo oder ein partieller Streik statt, der den Unmut einer Volksgruppe kundtut, aber auch Ausdruck ist von grosser Angst, langjährige Privilegien zu verlieren. Artikel 18 des Italienischen Arbeitsgesetztes von 1970 setzt sehr enge Grenzen für die Entlassung von Angestellten und dieser Artikel soll jetzt revidiert werden – ein Vorgang, der alle Aspekte der Innenpolitik umfasst. Was vielen aufstösst ist die Tatsache, dass die oberen 10‘000 sichtlich immer wieder verschont werden und der ehrliche Mann von der Strasse bluten soll. „Sono tutti delinquente abituale“, sagte mir ein Rechtsanwalt. Ausgerechnet ein Rechtsanwalt! Und warum sollen wir noch mehr Steuern bezahlen, wenn doch der Service Public jetzt schon so schlecht ist, dass man alles privatisieren müsste? Ja, warum? In meinem Quartier macht sich das bemerkbar durch Plakate, die zu Versammlungen und Aktionen aufrufen. Ein Thema hier ist auch der schlechte Zustand der Häuser, die anscheinend teilweise vom Staat bewirtschaftet werden. Private möchten Renovationen machen, aber dann steigen die Mietpreise und die Leute werden noch weiter an die Peripherie verdrängt. Haben wir das nicht auch schon irgendwo gehört?
Und da ist noch die Frage nach der Sicherheit, die ich immer wieder höre, seit der Römer Korrespondent der NLZ einen entsprechenden Artikel geschrieben hat. Bei den besagten Verbrechen handelt sich meistens um das Krebsgeschwür der Pizzi, Schutzgelderpressung, wovon vor allem die kleinen Commerciante betroffen sind. Viele zahlen, wer nicht bezahlt wird bedrängt oder gar ermordet, wie das vorletzte Woche passiert ist. Die Behörden werden der Seuche, die sich im letzten Jahr deutlich ausgebreitet habe, nicht Herr. Das ist sehr traurig und zeigt leider auch, wohin Gleichgültigkeit und Korruption führen können. Für das Alltagsleben sind diese Sachen aber nicht spürbar, wenn man etwas aufpasst und vorsichtig ist, geschieht einem hier so wenig wie in Luzern auf der Bahnhofstrasse. So hoffe ich wenigstens!
Ebenso hoffe ich, mit diesem Newsletter einen kleinen Einblick in meine Erfahrungen und Erkenntnisse gegeben zu haben, mehr als hinschauen und beschreiben liegt ja nicht drin, da müsste man Römer sein und schon immer hier gelebt haben, aber ob ich da tauschen möchte? Mh, wir leben in der Schweiz im Paradies!
Rom, 21.1.2012 Fredy Rey
Für diejenigen, die in meiner Fotogalerie etwas blättern möchten:
(Dropbox - Photos - Simplify your life).
Ich stecke in der 7. Woche und damit in der zweiten Hälfte meines Rom-Abenteuers und mittlerweile beherrsche ich das Alleinsein ganz ordentlich. Am Anfang schienen die 3 Monate eine unendliche Zeit zu sein und mehr als einmal kamen Zweifel auf, ob sich dieses Experiment denn auch lohnen würde, getrennt von den Lieben und Freunden zuhause, alleine in einer Wohnung am Stadtrand von Rom zu leben und zu schauen, was passiert? Aber solche Gedanken verflüchtigen sich immer rasch, wenn ich wieder in die Fülle von Leben, Antike, Grossstadt – in die römische Italianità eintauche, wobei „Schauen“ alleine wohl nicht genügt hätte! Das Internet liefert alle Informationen um sich zurechtzufinden, und dann ziehe ich los mit wachen Augen und offenem Geist und siehe da, unglaublich was man in einer solchen Weltstadt alles entdeckt! Das Stadt-Wandern (und Treppensteigen! ich habe ausgerechnet, dass ich nur über Treppen schon über 2000 Höhenmeter bewältigt habe :x) ist zu einer Passion geworden, der ich ein paarmal pro Woche fröne. Nicht nur im antiken Zentrum, auch in Vorstädten und Parks und Dörfern ausserhalb. Auch das Velofahren entlang der abenteuerlichen Bici-Piste am Tiber von Süden bis in den Norden der Stadt ist ein ganz besonderes Erlebnis und bringt einen in Gegenden und zu Aus- und Einsichten, die „normalen“ Touristen wohl immer verborgen bleiben. Die Ergebnisse meiner Betrachtungsweise halte ich in meiner Rom-Fotogalerie fest.
Mich interessiert besonders das römische Volk, dessen jüngere Geschichte, die Politik und die Verwaltung einer Grossstadt, das Alltagsleben und das Ganze eingebettet in das Weltkulturerbe, das diese Stadt ausmacht. Als Abwechslung zur Überfülle aus der Antike gibt es den Parco della Musica wo ich schon zweimal im Römer „KKL“ das Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia hören durfte. Das Teatro dell’Opera hatte die Nussknacker im Programm, aber das Angebot ist überraschend kümmerlich. Eine Entdeckung, war der prätentiöse Bau für zeitgenössische Kunst von Zaha Hadid. Kein Wunder, belief sich doch der Kostenvoranschlag von 40 Mio€ auf ca. ¼ der Schlussrechnung. Aber das Gebäude, besonders bei Nacht, ist eine Augenweide (und der Inhalt moderne Kunst). Ziemlich laut zu und her ging es im Olympiastadion wo AS Roma gegen den AC Chievo 2:0 gewonnen hat und die 40‘000 Tifosi und ich zur AS-Roma-Hymne aufstehen mussten. Lärm-Immunität kann man sich in vielen Kaffeebars und in kleinen Restaurants antrainieren. Nicht ganz so laut, aber doch weniger ruhig als bei uns geht es im Kino zu und her. Schön ruhig ist es meist in den über 130 Kirchen innerhalb der Aurelianischen Stadtmauern. Und Totenstille herrscht nur in einigen speziellen Museen, die abseits des Touristenstromes liegen; ich war öfters der einzige Besucher, zur Freude oder Unlust des Personals, das durch mein Auftauchen gestört wurde.
Das Sich Bewegen in der Stadt und in der Umgebung wird durch den dichten, aber unzuverlässigen öV leicht gemacht, wenn man Zeit hat, und die habe ich! Ein Monats Abo auf allen Metro-, Bahn-, und Busstrecken kostet 30€. Mit jedem Tag hier in Rom fällt einem das Warten auf einen Bus oder das Tram leichter, denn man wird „Römer“, auf jeden Fall was das stoische Warten anbetrifft. Ich würde gerne auch Römer sein was die Sprache anbelangt! Meine grossen Anstrengungen, diese Sprache zu ergründen und mühsam jeden Tag meine Lektionen zu absolvieren und Zeitungen, Führer und Bücher nur auf Italienisch zu lesen, scheinen vergebene Liebesmühen zu sein. Mario Monti am Fernsehen zu verstehen ist nicht so schwer, aber die meisten andern sprechen den Römer-Dialekt „Romanesco“, der in etwa dem Oberwalliser Dialekt gleichkommen könnte. Kommunikation und Austausch sind daher etwas schwierig, die Römer hier in der Gegend sind zudem eher verschlossen und erschrecken manchmal fast, wenn ich eine Bemerkung mache. Aber in den letzten Tagen hat sich das etwas geändert, ein paar gute Kontakte und Gespräche haben mir Mut gemacht, weiterhin hartnäckig dranzubleiben. Die Tagesschau auf Tg2 klappt schon ganz ordentlich, vor allem, wenn ich die Schlagzeilen und Artikel in „Il Tempo“ vorher etwas durchgeackert habe.
Wenn ich der antiken Pracht Roms überdrüssig werde, flüchte ich aufs Land wo es viel ruhiger und beschaulicher ist. Das meist sonnige und frühlingshaft warme Wetter hat diese Ausflüge natürlich begünstigt. Die herrlichen Palazzi von Hadrian und die Villa d‘Este in Tivoli, östlich von Rom, waren eine Augenweide und der Palazzo Farnese in Caprarola einer der Gründe, warum sich Luther seinerzeit in Rom über das Luxusleben der Kardinäle und Päpste so aufgeregt haben soll. In der Altstadt von Viterbo fühlt man sich um Jahrhunderte zurückversetzt ins frühe Mittelalter, begleitet sogar von etruskischen Spuren an Bauten und Plätzen. Ein besonderes Erlebnis war der Besuch des Luftfahrtmuseums in Vigna di Valle am Lago di Bracciano, mit Ausstellungsobjekten und deren Präsentation, die sich wirklich sehen lassen können. In Castelgandolfo hat sich der Papst einen sehr schönen Sommersitz am Lago Albano ausgesucht, oben in der Kühle der ersten Abruzzenhügel. Als Lohn für den steilen Aufstieg auf den 540m hohen Monte Cicerio, durfte ich eine fantastische Aussicht geniessen. Der markante Berg fällt steil ins Meer ab und befindet sich im gleichnamigen Parco Naturale, südlich von Rom. Etwas niedergeschlagen kehrte ich von einem Besuch in der Stadt L’Aquila zurück, wo 2009 ein starkes Erdbeben fast die gesamte Altstadt verwüstet und Dom und Basiliken einstürzen liess. Die Menschen sind irgendwo, die Altstadt ist leer und tot. Die Gebäude sind zwar gesichert, aber es scheint mit den Baustellen nicht vorwärts zu gehen. Die Receptionistin im Hotel beklagte sich bitterlich, dass das Geld für Renovation und Wiederaufbau vorhanden wäre, aber nichts passiere. Diese Stadt wieder aufzubauen ist eine Herkulesarbeit!
Und die Römer? Tja, das Leben hier ist voller Widersprüche! Birgit Schönau schreibt in ihrem Buch „Gebrauchs-anweisung für Rom“ (äusserst empfehlenswert auch für nicht Romfahrer!) „.. dass ROMA rückwärts gelesen AMOR bedeute ist eine bewusste Irreführung. Denn Rom ist alles andere als romantisch, … da braucht man Pragmatismus, eine gewisse Skrupellosigkeit und robuste Ellenbogen… Rom ist die personifizierte Gleichgültigkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit“. Und damit wäre sehr viel gesagt. Aber ich staune immer wieder, wenn ich in der U-Bahn beobachte, wie junge Leute aufstehen, wenn Alte sich setzen möchten (passiert das noch in unseren Bussen?) oder die Leute am Container ihre Flaschen, Plastik und übrigen Abfall aussortieren, oder ich noch nie jemanden in einem Lokal oder in der U-Bahn habe rauchen sehen. Trotzdem ist das Leben in Rom ein permanentes Gerangel, das sich vor allem im Verkehr auf jedem Meter bemerkbar macht. Man stoppt zwar vor Rot – vor 25 Jahren haben wir das noch nicht so beobachtet – aber die Fussgängerstreifen seien, gemäss römischem Automobilisten, reine Geldverschwendung für Strassenmalereien. Als Fussgänger braucht es etwas Mut und in einer Art gegenseitiger Koordination kommt man heil über die Strasse, ohne dass der eilige Auto- und vor allem, Rollerfahrer, abbremsen müsste. Aber auch auf dem Trottoir findet das Gerangel seine Fortsetzung, die Römer(innen) gehen prinzipiell nicht zur Seite, klar, sie sehen dich ja gar nicht! Gleichgültigkeit, siehe oben! Aber wenn man dann einmal in einer Gruppe „aufgenommen“ ist, findet ein herzlicher Austausch statt und die Leute entpuppen sich als die nettesten und fürsorglichsten Menschen südlich des Rubikons.
Der Alltag wird deutlich überschattet von der finanziellen Situation, in der sich Italien befindet und die von der Regierung Monti erarbeiteten Massnahmen scheinen die durchschnittliche Familie eindeutig zu schmerzen. Die MwSt. ist bei 21% und viele andere Steuern auf allen möglichen Produkten wurden auf den 1. Jan. erhöht. Über 150‘000 hätten schon ihre Nummernschilder zurückgegeben, lese ich in Il Tempo, und täglich findet in der Stadt eine Demo oder ein partieller Streik statt, der den Unmut einer Volksgruppe kundtut, aber auch Ausdruck ist von grosser Angst, langjährige Privilegien zu verlieren. Artikel 18 des Italienischen Arbeitsgesetztes von 1970 setzt sehr enge Grenzen für die Entlassung von Angestellten und dieser Artikel soll jetzt revidiert werden – ein Vorgang, der alle Aspekte der Innenpolitik umfasst. Was vielen aufstösst ist die Tatsache, dass die oberen 10‘000 sichtlich immer wieder verschont werden und der ehrliche Mann von der Strasse bluten soll. „Sono tutti delinquente abituale“, sagte mir ein Rechtsanwalt. Ausgerechnet ein Rechtsanwalt! Und warum sollen wir noch mehr Steuern bezahlen, wenn doch der Service Public jetzt schon so schlecht ist, dass man alles privatisieren müsste? Ja, warum? In meinem Quartier macht sich das bemerkbar durch Plakate, die zu Versammlungen und Aktionen aufrufen. Ein Thema hier ist auch der schlechte Zustand der Häuser, die anscheinend teilweise vom Staat bewirtschaftet werden. Private möchten Renovationen machen, aber dann steigen die Mietpreise und die Leute werden noch weiter an die Peripherie verdrängt. Haben wir das nicht auch schon irgendwo gehört?
Und da ist noch die Frage nach der Sicherheit, die ich immer wieder höre, seit der Römer Korrespondent der NLZ einen entsprechenden Artikel geschrieben hat. Bei den besagten Verbrechen handelt sich meistens um das Krebsgeschwür der Pizzi, Schutzgelderpressung, wovon vor allem die kleinen Commerciante betroffen sind. Viele zahlen, wer nicht bezahlt wird bedrängt oder gar ermordet, wie das vorletzte Woche passiert ist. Die Behörden werden der Seuche, die sich im letzten Jahr deutlich ausgebreitet habe, nicht Herr. Das ist sehr traurig und zeigt leider auch, wohin Gleichgültigkeit und Korruption führen können. Für das Alltagsleben sind diese Sachen aber nicht spürbar, wenn man etwas aufpasst und vorsichtig ist, geschieht einem hier so wenig wie in Luzern auf der Bahnhofstrasse. So hoffe ich wenigstens!
Ebenso hoffe ich, mit diesem Newsletter einen kleinen Einblick in meine Erfahrungen und Erkenntnisse gegeben zu haben, mehr als hinschauen und beschreiben liegt ja nicht drin, da müsste man Römer sein und schon immer hier gelebt haben, aber ob ich da tauschen möchte? Mh, wir leben in der Schweiz im Paradies!
Rom, 21.1.2012 Fredy Rey
Für diejenigen, die in meiner Fotogalerie etwas blättern möchten:
(Dropbox - Photos - Simplify your life).